Der Untergang des Delphin im Walensee

… Der letztere, auch Bättliser genannt, von dem Ort, an welchem er in den See braust und unter diesem Namen in der Volkssage als böser Geist personifiziert, ist der gefürchtetste von allen Winden und scheint auch das grösste Unglück, von dem die Geschichte des Walensees meldet, den Untergang des Dampfschiffes Delphin in der Nacht vom 16. bis 17. Dezember 1850 veranlasst zu haben.

Ein alter Schiffmann, der mir über dieses Unglück berichtete, nannte aber diesen Wind den Wind vom «Blättli» und zeigte auf diesen Punkt im Gebirge an der andern Seite von Amden, nach Weesen zu. Wäre die alte Schifffahrtsordnung noch in Uebung gewesen, nach welcher die Nachtfahrten auf diesem See gänzlich verboten waren und kein Schiff, das älter war als drei Jahre, in den See tauchen durfte, so hätte sich dieser traurige Fall nicht ereignet.

Der kleine Delphin, in seiner ersten Konstruktion als Schraubendampfer ganz unbrauchbar, erschien nach einer totalen Umformung seetüchtig und befuhr drei Jahre lange den Zürichsee; da wurde er im Sommer 1850 auf den Walensee versetzt, zum Behuf einer Influenz mit dem italienischen Nachtpostkurse, und versah nun den Nachtdienst, während der grössere «Splügen» am Tage fuhr.
In jener Nacht hatte das Schiff die Fahrt von Weesen nach Walenstad glücklich gemacht und um 12 ¼ Uhr, als es die Rückfahrt antrat, ging, nach amtlichen Berichten, nur ein gewöhnlicher Wind, der aber in einer Stunde, als das Schiff sich seinem Ziele Weesen näherte, zu einem Orkan angewachsen war. Man bemerkte von Weesen aus die Lichter des Delphins zur gewöhnlichen Zeit und ein Bewohner des hochgelegenen Dorfes Amden will wahrgenommen haben, dass das Schiff länger als eine Viertelstunde am nördlichen Ufer, nicht weit von Bättlis, sich an derselben Stelle über dem Wasser gehalten habe.
Das Weitere lässt sich nur vermuthen. Wahrscheinlich ist der Bättliser gekommen und hat das schon untüchtig gewordene Schiff von oben ins Wasser gestossen und bis zum Glarnerufer hin, wo es später beim Sallerntobel im Grundschlamm aufgefunden wurde, fortgeschleift.
Die Kajütenthür und einige Schiffsgegenstände schwammen bei Mühlehorn und Murg ans Land, von den Leichen der vierzehn Verunglückten ist nur eine sichtbar geworden. Dem Führer des Schiffes, Steuermann Staub, konnte Niemand eine Schuld an dem Unglück beimessen; er galt als ein tüchtiger Seemann, der vordem den Locarner- und den Bodensee befahren und, wie man erzählte, einmal durch seine Geistesgegenwart und Gewandtheit ein Dampfschiff mit zahlreichen Passagieren in einem Sturm gerettet hatte.
Die Theilnahme an dem Schicksal der Verunglückten war natürlich weit und breit sehr gross und zeigte sich werkthätig in den Unterstützungen, welche den Familien zuflossen, die Väter und Söhne in der Schiffsmannschaft verloren hatten.

Einen solche Katastrophe bringt auch einen guten Zug in der Menschennatur darin zum Vorschein, dass die trefflichen Eigenschaften der Todten aufgefunden und nachgerühmt werden. Von dem noch jungen Heizer des Dampfers erzählte man, dass er schon eine Stütze seiner sehr armen Familie gewesen sei und jeden Schilling, den er ersparen konnte, seiner Mutter geschickt habe, damit das immer kranke Schwesterchen, das er besonders liebte, gepflegt werden könne; dass er zwei Tage vor seinem Ende der Mutter schrieb, wenn «nichts Besonderes» eintreffe, werde er am Altjahr-Abend heimkommen, um den Jahreswechsel einmal wieder im Kreise seiner Familie zu verleben und das Schwesterchen werde er durch ein «Gutjahr» (Neujahrsgeschenk) gesund machen.

Unter den verunglückten Passagieren war ein junger Italiener, Enrio Mondelli, dessen Lebenspfad bisher die Sonne des Glücks beschienen hatte und der mit den schönsten Hoffnungen in die Zukunft sehen konnte. Sein Vater, einer der ersten Seidenspinner Italiens, hatte dem einzigen Sohne in mehreren Lehranstalten, zuletzt in der züricher Industrieschule, eine ganz deutsche Erziehung gegeben und der junge Mann sollte jetzt, nachdem er kurze Zeit in Como zum Besuch gewesen war, in Zürich in ein Seidengeschäft treten, umm sich für den Beruf des Vaters auszubilden. In Chur hatte er noch geschwankt, ob er nicht von Sargans den Weg über St. Gallen nehmen sollte, aber er entschied sich für den kürzeren Weg, der ihn nun zum raschen Tode führte.

In derselben Mitternacht verschlang das kalte Wellengrab die zwei gleichalterlichen Jünglinge, deren Lebenslage so verschieden gewesen war, den armen Heizer und den reichen Kaufmannssohn. Schubert, der tiefe Kenner des Seelenlebens, erzählt irgendwo von einem jungen Midshipman, der in einem Schiffbruch dem Ertrinken nahe gewesen war, aber wieder ins Leben zurückgebracht wurde. In der Minute, bevor er die Besinnung verlor, war wie in einem Traumbilde sein ganzes Leben an ihm vorübergezogen, von dem Lächeln und Abendgebet der Mutter an seinem Bettchen, den Kinderspielen mit den Geschwistern bis zu den Segenswünschen der Eltern, unter denen er von der Heimat schied.
Ich habe oft und immer wieder über diese Erzählung nachgedacht und sie in Verbindung gesetzt mit einer Wahrnehmung an mir selbst. Wenn man in das mittlere Lebensalter gekommen ist, so heften sich die Träume seltener an die nächste Vergangenheit, sondern gehen mit den fortschreitenden Jahren rückwärts in die Kinder- und Schulzeit, ,führen längst gestorbene Genossen auf und reproduziren Scenen, deren man sich im wachen Leben gar nicht mehr erinnerte. Vielleicht erblickt man in der Todesstunde wieder die liebelächelnde Mutter an der Wiege und empfängt den Muttergruss für das Leben über den Sternen.
Möge die letzte Minute der Schreckensstunde den in die Tiefe des Walensees Verschwindenden dieses Segensbild gebracht haben. …

(Quelle: Wanderstudien aus der Schweiz von Eduard Osenbrüggen. Erster Band 1867)

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