Graue Hörner, Pizol, Zanaihorn und Sazmartinhorn

Grauehoren ein hoher gähstotziger Berg / dessen nackende Felsen in Gestalt grauer Hornen über Valenz im Sarganserland aufsteigen: A. 1704 habe ohngefehrd den halben Weg gemachet / und gefunden / daß die Höhe / welche ich erreichet / in ansehung des Pfäfersbads zurechnen 1200 Schuhe.
(Quelle: Helvetiae stoicheiographia. Orographia et Oreographia. Oder Beschreibung der Elementen/Grenzen und Bergen des Schweizerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands. Erster Theil. Johann Jakob Scheuchzer. Zürich 1716)

Die schauderhaft zerrissenen Spitzen der grauen Hörner
Wir wenden uns von Valens aufwärts in das Thal, das nach Norden aufsteigt, indem wir uns auf dessen östlicher Seite halten. Der Weg geht meist steil aber angenehm durch Wiesen und Wald, dessen untere Partien sich durch mächtige alte Ahornstämme auszeichnen; höher hinauf machen diese der Tanne Platz. Unten im Tobel braust der Thalbach und jenseits desselben entwickelt sich die Fortsetzung des Monte Luna zu steilen felsigen Gräten von dunklem Nummulitenschiefer, nach rechts tauchen die schauderhaft zerrissenen Spitzen der grauen Hörner auf, das Ziel unserer Wanderung. Wir gelangen auf die Alpenweiden und bald zu einer ansehnlichen Sennhütte, wo wir einige Augenblicke ausruhen und zum Frühstück Milch trinken können, die uns die freundlichen Sennen gern überlassen. Höher steigt dann der Weg an der steilen aber immer mit Gras bewachsenen Berglehne, und wir gelangen vor die Felsenmasse der grauen Hörner, welche unersteiglich steil sich herabsenkt, während die Gipfel wie Ruinen gebrochener Burgen drohend herabschauen. Die Felswand besteht aus schwarzgrauen Nummulitenschiefer und Flysch, welche südöstlich in den verwickeltsten Biegungen und Verschlingungen einfallen; auf ihnen liegt ein schmaler weissgelber Kalkstreif, dem jene Thürme und Zacken aufgesetzt sind, welche aus rothem und weisslichem Verrucano bestehen, ziemlich ähnlich dem bunten Sandstein, welchen er vertritt. Aber dieser Kalk und Verrucano fallen nördlich und sind dem viel neueren Schiefer aufgelagert, und das zwar nicht blos auf dieser Seite, sondern auch auf der andern und so ringsum, so dass eine viel ältere Formation buchstäblich der jüngern aufgesetzt ist, während unten im Thal von Vättis derselbe Verrucano als die Grundlage des Kalkgebirgs erscheint, wie dies in der Ordnung ist, und jenseits der grauen Hörner auch wieder alles regelrecht ihm aufgelagert ist. Ich habe dies lange nicht glauben wollen, aber die Thatsache ist da, unbequem wie jedes andere fait accompli; noch im Sommer 1858 untersuchte ich mit Herrn Escher v. der Linth die jenseitigen Abhänge, welche dieser schon lange kannte, und wir kamen zu keinem andern Ergebniss. Dies ist unstreitig eine Ueberschiebung, wie sie aber zu Stande gekommen, das kann erst weitere Beobachtung lehren, die sich nicht blos auf diesen Punkt beschränkt. Es sind bis jetzt fast alle solche scheinbare Widersprüche in der Gebirgsbildung gelöst worden und dieser wird auch gelöst werden. Wir lassen einstweilen die Sache liegen wie sie eben liegt und steigen vorläufig über die Flyschschichten, in denen sich sehr schöne Fucoiden finden, der einzigen Lücke zu, welche sich in der steilen Felsenmauer zeigt. Wirklich ist hier ein Durchgang über unendliche Trümmerhaufwerke von Verrucano, die wir erklettern. Auf der Höhe der Breche angelangt, bietet sich uns ein Anblick, der selten seines Gleichen hat. Wir stehen vor einer tiefen Einsenkung, welche man für den Krater eines Vulkans halten möchte, wenn überhaupt an dieser Stelle und in diesem Gestein an einen solchen zu denken wäre. Diese Tiefe ist ausgefüllt mit dem ziemlich ansehnlichen Wildsee, in seinem Hintergrund, steigt ein mächtiger Gletscher, welcher unten den See berührt, zu der steilen Höhe des Piz Sol auf; das grünliche Gewässer des Wildsee’s ist noch halb mit Eis bedeckt, das nie ganz zu schmelzen scheint, rings umher stehen die steilen Hörner um den See und den Gletscher her, seltsame wilde Felsengestalten mit kühn vorspringenden Ecken und Kanten, theilweise überhängend und nickend, anscheinend den Einsturz drohend, kahl und von düsterer grauröthlicher Farbe. Die Höhe ist ziemlich gleich, etwa 2660 M., nur die Spitze des Piz Sol erhebt sich zu 2847 M. Mächtige Trümmerhaufwerke umlagern sie alle, weite Spalten gehen tief hinab. Steigt man auf irgend eine dieser Spitzen, was trotz des gefährlichen Aussehens bei den meisten möglich ist, so hat man eine ausgedehnte wirklich herrliche Aussicht, und in dieser Beziehung ist namentlich der Piz Sol und die Wildspitze zu empfehlen. Man sieht tief in die Bergwüsten des Sardonagebirgs, in das Taminathal und dieses aufwärts in die Berge des Bündner Oberlandes, abwärts breitet sich das Rheinthal und der Bodensee aus, wie ein Silberfaden schlängelt sich der Rhein diesem zu durch die grünenden Fluren; gegenüber nach Osten erscheinen die Prätigauer Gebirge zu beiden Seiten des Thales, das man ganz übersieht; der Rhäticon und die Gletschermassen des Selvrettastockes begrenzen die Aussicht. Rechnet man dazu die seltsame wilde Umgebung, so ist dies alles wohl schon die Mühe der Ersteigung werth.
(Quelle: Gottfried Theobald: Naturbilder aus den Rhätischen Alpen. Ein Führer durch Graubünden. 2. Aufl. Chur 1862, S. 72-74)

Wir haben aber keine Tanzschuhe an
Valplana ist unsere erste Gasse, bald war über die Weide der Eingang des Thälchens erreicht, ein Querwall und eine Terrasse nach der andern erstiegen, und eine Stunde nach unserm Weggehen befanden wir uns bereits am Beginn der Schutthalden, welche sammt den seltsam gezackten Felsgräten die Seitenwände ausmachen. Die enge Thalsohle ist hier oben mit hartem Schnee bedeckt und bietet da, wo sie nicht gerade unterhöhlt ist, die beste Strasse.
Schon von einer der unteren Terrassen aus hatte Martin zwei vor uns gehende Männer entdeckt und wir nicht ermangelt, ihnen ein kräftiges Hailoh zuzurufen; statt aller Antwort verschwanden dieselben bald aus unsern Blicken. Rüstig stiegen wir nach und hatten die Freude, um 5 Uhr 32 Minuten den Sattel des Kranzes der grauen Hörner erreicht zu haben, links stand die Wildspitze, nach rechts zog sich der Schwarzblankgrat nordwärts. Dieses ist die Lücke, durch die auch Herr Professor Theobold seiner Zeit die Gegend besuchte…
Martin, Knecht aus dem Bad Pfaffers, wurde mir von Herrn Direktor Egger freundlichst als Träger des Mundvorraths mitgegeben; bisher war er stets eine kleine Strecke voraus und als ich die Lücke erreicht hatte, bereits über einen Schuttwall nach rechts hinübergestiegen, um den Schwarzsee zu suchen. Meine Gedanken und Wünsche aber flogen in erster Linie nach links, jener weissen Spize zu, am obersten Ende des Gletschers, welche ich für den Piz Sol hielt. Da ich nicht folgte, kehrte mein Begleiter bald zurück und wir begannen die Ueberschreitung einer gewaltigen Trümmerhalde zwischen dem See und der östlichen Gipfelreihe durch nach Süden; nicht zu rasch, weil man Schritt für Schritt darauf trachten musste, mit dem Fuss auf einen festliegenden Felsblock zu treten, um nicht etwa beim Umkippen eines solchen ein Bein in eine der vielen Klüfte einzuklemmen, oder sich sonst an den scharfen Kanten tüchtig zu beschädigen; zuweilen wurden kleine steile Schneehalden querüber passirt, was des nicht allzuharten Schnee’s wegen keinen Anstand verursachte. Eine angenehme Eigenschaft der Felstrümmer hier ist deren sandig rauhe Oberfläche, so dass man nicht fürchten muss, auch auf stark geneigten Flächen auszugleiten. Dass die Route quer über eine im steten Wachsen begriffene Trümmerhalde, deren Beschotterungsmaterial aus Blöcken besteht, die bis zur Grosse eines Bahnwärterhäuschens bunt durcheinander gewürfelt da liegen, nicht nivellirt ist, versteht sich von selbst. Wir haben aber keine Tanzschuhe an, haben uns trotzdem hie und da schon im Balanciren geübt und kommen fröhlich durch. Jetzt betraten wir über eine Schneehalde hinuntergleitend den Rand des Gletschers, er steigt nur sanft nach Süden an, ist hier spaltenfrei und eine herrliche Abwechslung nach der rauhen Steinroute. Die eingetretenen Spuren zweier Gemsen ziehen sich quer über unsern Weg, aber die Thierchen selbst sind unsichtbar. Ganz leicht kann man auf dem Gletscher nach und nach gegen Westen ansteigend, den dortigen Grat erreichen und sich dann mit der Erkletterung der höchsten Spitze befassen, doch ich hatte Lust, vorher über jenen südlichen Grat hinauszuschauen; bald verliessen wir daher den Schnee und gelangten über eine ganz trümmerlose schwach ansteigende Böschung des südlichen Kranzgrates an den Rand desselben. Es war 6 Uhr 15 Minuten. Steil fallen hier die Felsen in’s obere Val Graussa hinab, und kaminartige Runsen zertheilen den ohnehin ungleich hohen Zug in verschiedene Abtheilungen, hie und da mit alten Schneewehten ausgefüllt. Martin jauchzte einen hellen Morgengruss einem seiner Bekannten in die Zaneyalp hinunter, und nicht lange, so ertönte eine ebenso fröhliche Antwort aus dem Felsenkessel herauf.
Erst hier erkannten wir genau, dass der weisse Gipfel nicht die höchste Spitze sei, sondern ein mehr nördlich stehender Zahn der westlichen Einfassung des Gletschers. Eine Strecke weit vor uns gegen Westen schien der Gletscher ganz auf den südlichen Felsrand hinauszustehen, seine allgemeine Steigung gegen Westen war nicht bedeutend und gewiss leicht hinauf zu kommen, nur eins gefiel mir nicht; ich hatte mir vorgestellt, ein Gletscherchen wie z.B. auf dem Säntis anzutreffen und unterliess deshalb ein Seil mitzunehmen; nun aber lag etwas weicher Schnee da, welcher verschiedene leicht eingesenkte lange Querlinien zeigte, die sicheren Zeichen verborgener Schrunde.
Aus diesem Grunde und weil Martin noch nie vorher einen Gletscher betreten hatte, hielt ich fürs Gerathenste, so lang als möglich dem Felskranz zu folgen, und siehe da, an der gefürchtetsten Stelle ging der Gletscher nicht bis an den Aussenrand, es war nur eine der vielen Einsenkungen des Grates, sogar so flach, dass das Stück eines Teiches welches unter die hier ungefähr 8 bis 15 Fuss hohen Firnwand reichte, Raum fand, und wir noch zudem bequem wie auf einer schönen Landstrasse aussen herum spatzieren konnten.
Jetzt aber galts zu klettern, der Felsgrat war steil und scharf, aber so zerrissen, dass entweder auf der einen oder andern Seite der Kante stets Stellen gefunden werden konnten, uns das Weiterdringen zu erleichtern; die rauhe Oberfläche kam uns an den abschüssigen Stellen sehr zu statten, ja sie machte uns so sicher, dass wir manche Stufe ohne Bedenken betraten, die wir auf einer andern Steinart gewiss umgangen hätten.
Da sitzt Einer zusammengekauert an einem Felsblock gelehnt, den Hut mit dem Nastuch an den Kopf festgebunden, damit ihn der scharfe Wind nicht entführe, eine Büchse quer über seinen Knieen liegend; es ist ein Jäger auf scheues Wild lauernd, das er über die Felsbänder von den Zaney-hörnern her erwartet. Schade, dass er nicht eine halbe Stunde früher bei uns war, wo wir einen Trupp Schneehühner aufscheuchten. Gewiss war er einer der zwei von diesen Morgen, Martin redete ihn auch in diesem Sinne an, der aber war nicht wenig betroffen, bei dieser Gelegenheit zu erfahren, dass zweimal zwei Jäger vor dem ersten September Ragatz und Pfäffers mit Wildpret versehen wollten; es waren also Rivalen in der Nähe. Nach ein paar gemüthlich gewechselten Worten verliessen wir den kräftigen, blühend aussehenden Mann der Wildniss und kletterten unsere Wege.
Noch mehrere Mal mussten wir uns mit Händen und Fussen durcharbeiten, da kam eine Stelle, wo nicht fortzukommen war und der Gletscher musste betreten werden, ohnehin sollten wir bald nach Norden umlenken und so wählten wir eine Stelle, um von den Klippen auf den Gletscher oder Firnrand hinüber zu springen; dann über eine ziemlich feste Kante balancirend, links der fast überall an solchen Orten sich findende kluftartige Abstand zwischen Fels und Eis, rechts die steile Firnhalde, erreichten wir bald eine weniger abschüssige Stelle dieser letztern, an derselben hinuntergleitend schnell die Gletscherfläche, und bald darauf ein Gletscherjoch vom Südgrat zu den höchsten Hörnern des Westgrates. Diesem zu folgen hätte uns, zwar ohne die mindeste Mühe, nur an den Fuss einer unersteiglichen Felswand gebracht, wir mussten uns deshalb nach einer andern Richtung umsehen, was übrigens nicht schwer fiel. Vor uns gegen Westen lag noch der alleroberste Theil des Gletschers in Form einer eigenthümlich gesenkten Mulde, genährt von den nun nicht mehr hohen Schneehalden der umstehenden wenigen Gipfel. Links lag der von unten aus für den Piz Sol gehaltene, südlich der Zahl 2847 der Generalstabskarte stehende Gipfel, rechts das höchste Horn.
Quer durchliefen wir die Mulde auf kürzestem Weg zum jenseitigen westlichen Felsgrat, es war 7 Uhr Morgens, folgten diesem sodann nördlich auf eben so rauhen Treppen wie am Südgrat und erreichten das Horn, aber das nächste ist noch ansehnlich höher, also abwärts in die Lücke und dann wiederum eine Felszacke nach der andern ergreifend und uns hinaufschwingend. Halt! da kommt eine kritische Stelle, vorwärts geht’s nicht mehr, es ist allzu steil, rechts herum an der Gletscherseite ist’s noch viel schlimmer, überhängend, geradezu unmöglich, aber links herum auf der Westseite bildet das verwitterte Gestein gerade so viel Haltpunkte, um mit einiger Vorsicht gefahrlos weiter zu kommen.
Die faulen Tafeln und Schiefer werden je nach Umständen mit dem Stock, dem Fuss oder mit der Hand beseitigt und aufmerksam folgt das Auge den tollen Sprüngen der Blöcke, wie sie in die Tiefe des Ober-Lawtinathales hinunter sausen, an den scharfen Felszacken zu Dutzenden von Stücken zerschmetternd und im Aufschlagen ganze Furchen von Trümmern in rasselnde Bewegung bringend. Indem wir so den naturwüchsigen Obelisken von Süd nach Nord umgangen, erreichten wir über wenige Stufen hinauf den Gipfel des höchsten Hornes der grauen Hörner; 2847 Meter oder laut der neuen Genfer Correctur 2851 Meter ü. M. Hurrah, hioho. Raum haben mein Begleiter und ich gerade genug, um zwischen uns noch das Säckchen mit dem Proviant vorzunehmen, auch ein winziger Bergfink sitzt kaum auf doppelte Armslänge ruhig neben uns auf einer Felszacke und schaut verwundert auf die neuen Ankömmlinge. Aber schnell noch notirt: 15. August 1864 Piz Sol. Ankunft 7 Uhr 12 Minuten Morgens. Also in der kurzen Zeit von drei Stunden, von Alp Lasa aus, und durchaus nicht übertriebenen Marschirens kann man sich hier das Vergnügen einer prachtvollen Aussicht verschaffen. Vollkommen reine Ausschau bot sich uns heute freilich nicht dar, ein heftiger Westwind blies von Zeit zu Zeit kleine Nebelchen an uns vorbei und vom Val Graussa her stiegen stets neue an den östlichen Hörnern, der Wildspitzkette empor, wo sie vom Wind theils weggezerrt, theils in’s Thal hinunter gedrückt wurden, um in neuem Anlauf an der windfreien Seite aufzusteigen. Nach jener Richtung konnte keine Fernsicht gewonnen werden, sonst aber war der Himmel klar, das Panorama grösstentheils deutlich.
Südlich vor und unter uns liegt der höchste Theil des Gletschers, er senkt sich zuerst östlich und wendet sich dann um einen Felsvorsprung, die westliche Hörnerreihe halb umfliessend, nach Norden, immer breiter werdend, ohne aber sein Ende zu zeigen, ebenso wenig sieht man den Wildsee; desto besser beherrscht der Blick den ganzen Kranz der eigenthümlich verwitterten Hörner, von denen allerdings die Mehrzahl erklettert werden können; alle sind um ein bedeutendes niedriger als unser Standpunkt, nur eine scharfe Pyramide erhebt sich am südlichen Ausläufer nahezu in gleiche Höhe, es ist dies der 2829 Meter hohe Brändlisberg. Die Kette der Wildspitze deckt die Verzweigung gegen Pfäffers und Ragaz. Die übrigen Arme der Gruppe liegen klar vor uns, zwischen dem tiefen Calfeuser- und Weisstannenthal und der breiten Thalsohle des Rheins; ein Hautrelief in Natura, eingerahmt in erster Linie vom Calanda, der Ringelspitzkette und der Sardonagruppe mit ihren nördlichen Ausläufern, deren zahlreiche Köpfe, Foostock, Faulen, Spitzmeilen u.a. in dem Piz Segnes mit seinem Silberhaupt und dem wirklich abschreckend geformten Saurenstock ihren Regierungssitz erkennen müssen. Sehr rauh und steil scheinen von hier aus die Felswände dieser Gruppe, äusserst zerborsten und nur selten einen gangbaren Durchgang zeigend der aus vielen Abtheilungen bestehende Sardonägletscher; eine einzige Ausnahme macht der sanft geneigte, ja fast horizontale Firnkamm vom Saurenstock gegen den Piz Segnes. Doch über den düster ernsten Chef der vom Wetter gebräunten Avantgarde schaut der General der östlichen Schweizerberge, der alte ruhige Tödi hervor, zwar nur mit seinem weissen Scheitel, aber unverkennbar. Rechts hinter der Scheibe hervor gucken die Clariden in ihrem Querschnitt, kühn herausfordernd stehen sie da, ihre schroffen Felswände dem breiten offenen Norden zuwendend, denn was vermögen alle die unzähligen braunen und grünen Köpfe, Rücken und Sättel dem verwöhnten Blick zu bieten; ein Geduldspiel, dass einem die Augen überlaufen, besonders wenn der Wind die hülfreiche Karte fast zerreisst und die Blätter des Notizbuches zu singen anfangen. Da steht den Clariden gegenüber die Schächenthaler Windgälle, obgleich ein ansehnlicher Kamerad, doch wie ein Frosch vor einer Sphinx. Eine stattliche Pyramide stellen die Freiberge mit ihrem Hochkärpf auf, aber vor Allen nach dieser Richtung hin zieht der breitschulterige felsige Glärnisch den Blick auf sich, Vreneli’s Gärtli, Ruchi, Bächistock, sie sind auch von Osten aus gesehen ebenso geformt wie von Westen, daneben steht noch der rauhe Grieseltstock…
Ist’s fertig? Ja so en gros — grün und braun und weiss, das sind die Hauptfarben, die in mannigfacher Schattirung dem Auge das Bild so angenehm machen. Das Blau, durch stille oder bewegte Gewässer den Abglanz des Himmels auf der Erde so wohlthuend wiedergebend, ist hier äusserst spärlich vertreten, und doch ist kaum eine kleine Berggruppe so reich versehen damit als gerade die grauen Hörner. Um alle die Seelein zu schauen, muss man verschiedene Wege einschlagen, und das sollte nun geschehen. Noch ein Blick ringsherum, dann Adieu Piz Sol. Kreuz und quer durchwanderten und durchkletterten wir nun den Krater, besuchten noch den Punkt 2432, von wo man tief unten den hellgrünen Schottensee erblickt, schweiften fast um den ganzen Wildsee herum, erlustigten uns an den Felssätzen des Schwarzblankgrates und stiegen dann fröhlich zu Thal.
(Quelle: Frey-Gessner im SAC Jahrbuch 1865)

Die bis anhin bekannten Besteigungen des Piz Sol (höchste Spitze der grauen Hörner) gingen alle von Valens aus; von Weisstannen aus ist es wohl auch thunlich, allein schwieriger ist es dort, einen passenden Führer zu finden, der den Weg kennt; in Vättis erkundigte ich mich vor einigen Jahren, ob eine Besteigung von dieser Seite möglich, allein bestimmten Bescheid konnte mir nicht gegeben werden und war sie damals von den dortigen Bewohnern wohl noch nicht gemacht worden. In so weit die Beurtheilung des Gebirgsstockes aus grösserer Entfernung zu einem Schluss befähigt, halte ich eine Besteigung von dieser Seite unter Führung eines gewandten Bergsteigers keineswegs für unmöglich.
Der Piz Sol (2847 m) von den Grauen Hörnern wird am besten von der Lasaalp (1846 m) ob Valens (gute Sennhütte) durch das Valplana und die Eisschlucht hinauf bestiegen. Von der Südseite vom Terrsolthal und Alp (1980 m) ist es viel mühsamer. Von Weisstannen zu weit. J. G. Steinmann, eidg. Topograph in Bern.
Die grauen Hörner sind am besten von Ragaz aus zu besteigen mit Nachtlager auf der Alp Terrsol. Gute Sennhütte, Rückweg über Vättis oder Valens und Bad Pfäfers. Nach Weisstannen schwierig und weit. Gonzenbach, Hof Ragaz.
(Quelle: Die Alpenpost 1871)

Der Anblick dieser abgeschlossenen Hochwüsten-Landschaft
Nach einem sehr frugalen Imbiss in Valens schlenderte kürzlich Sonntag Nachmittags die muntere Truppe nach dem Oberstafel der Lasa-Alp, wo sie schon um 5 Uhr anlangte und nach einem gründlichen Labetrunk von frischer Milch sich in den armseligen Hütten, so gut es gehen wollte, einrichtete. Das Wetter war zweifelhaft; wildes Gewölk streifte durch die Landschaft und ballte sich am Montelunazug, den zerrissenen Köpfen der Grauen Hörner und am Vasönerkopf, den man noch gerne besucht hätte, fest. Die Nacht wurde in einem niedrigen Dachwinkel, Mann an Mann gepresst, auf wenigem schlechten Heu und Lumpen zugebracht, während von Zeit zu Zeit heftige Strichregen auf die Dachschindeln niederprasselten. Schon um 2 Uhr dämmerte das Morgenlicht zwischen den Balkenlücken herein und lud zum Aufstehen und ersten Trunke an dem Gletscherbache ein, der durch die mondbeglänzten Alpweiden herunterschäumte. Der Himmel strahlte jetzt in voller Dämmerpracht; nur wenige Wolkeninseln lagen an fernen Bergzügen still und friedlich vor Anker. Aus dem mitgenommenen Moccapulver bereitete eine kundige Hand mit höherem Verständniss in der Universalpfanne ein probates Getränk, welches das dankbare Publikum sofort aus den Holzbrennten emsig auslöffelte, und um halb 4 Uhr setzte sich die Kolonne wohlgemuth in Marsch. Golden stieg der Tag von den Gipfeln nieder, während sie in weitem Bogen die Weiden hinanmarschirte, wo auf tausend leuchtenden Blumengesichtern noch die Thränen der Nacht funkelten. Endlich war der erste Bergriegel mit seinem Blockgetrümm und seinen Schneezungen erreicht, wurde der Proviant und alles Entbehrliche abgelegt und versteckt und dann über Valplana hinauf marschirt bis zum obern Felsriegel, über dessen Schwelle sich nun der Einblick in den eigentlichen Schoos der Grauen Hörner-Gruppe öffnete.
Diese bildet hier einen oblongen Circus von schauerlich zerrissenen, in den wunderlichsten Formen ausgefressenen, ganz nackten und jähen Hörnern, Pyramiden und Zacken, in dessen kraterartiger Mulde Blockwüsten, Firnfelder und ein Gletscher den einsamen Wildsee umrahmen, auf dessen Eisdecke die niederrieselnden Schmelzwasser ein buntes Netz grüner Lagunen gemalt hatten. Ganz eigenthümlich ergreifend wirkt der Anblick dieser abgeschlossenen Hochwüsten-Landschaft, die kaum ihresgleichen hat, ein Bild des Todes, der grauenhaftesten Zerstörung. Mit gehobenem Gefühl und voller seliger Wanderlust balancirte die Kolonne über die scharfkantigen Trümmer und arbeitete sich im bequem angeweichten Firn erst gegen den südlichen Rand des Circus hinan, wo die zerstörenden Naturkräfte einer Felszacke eine wunderliche Menschenähnlichkeit verliehen haben, und wandte sich dann nordwärts zu der dreiköpfigen Hauptzacke des Piz Sol. Diese wurde von der Westseite angepackt, und man gelangte zuerst aus Unkunde des Führers, der noch nie oben gewesen, auf eine Nebenspitze und dann über ein morsches Felsband auf den Hauptgipfel, eine freilich sehr beschränkte Localität; doch finden fast ein Dutzend Personen auf und an dem luftigen Wolkenstuhle leidlich Platz bei nicht allzu unbescheidenen Anforderungen.
Es war gegen halb acht Uhr und die Temperatur in der leichtbewegten Luft sehr angenehm. Die nächste Umgebung ringsum trägt das ausgesprochenste Gepräge der unaussprechlich wilden Gebirgsscenerie, welche dieser Gruppe eigen ist. Nordwärts starrt der Trümmer- und Eiskrater des Wildsee’s; an ihrer Seite streicht vom Sol eine Kette, die sogenannte Gilbe, ursprünglich ein Felswall von ungefähr gleichmässiger Höhe, aber durch die Zerstörung der Jahrtausende in eine lockere Reihe einzelner nackter Zacken von den seltsamsten Formen zerfressen, südwärts streckt sich der etwas compactere Grat, welcher der verwitternden Auszähnung etwas besser widerstanden hat, zum Brändlisberg, wieder andere phantastisch gegliederte Kämme nach Süd- und Nordost, und zwischen ihnen senkt sich das Auge in grausige Trümmerwüsten, aus denen von Zeit zu Zeit Nebelmassen aufwirbelten, um in den von den besonnten Felsketten erwärmten Luftschichten sofort zu zerfliessen. Die nördliche Bogenhälfte des Panorama’s war grösstentheils von einem wild kochenden Wolkenmeer verhüllt, aus dem hie und da eine bekannte Parthie auftauchte, während in der südlichen die Ringelspitzkette, gegenüber die Glarner, Urner und Bündner Alpen (besonders schön die Silvretta-, Bernina- und Disgrazzia-Gruppe) das Auge entzückten.
Ein seliges Stündchen verrann und noch ein halbes. Der kleine Becher kreiste und die Hochrufe auf die ewig schönen Heimathberge, die Lieben am fernen Heerde und auf Alles, was ein Clubistenherz erfreut, hallten in die Grauen Hörner hin, die zu solchen Neuerungen fast grämlich dreinschauten, während zu Füssen plötzlich eine erschrockene Gemse aufsprang und eine Geröllsaat ihrer Spur folgte. Der Abstieg wurde der Kürze wegen durch eine steile Schneekehle am Seil auf den Gletscher genommen, und dann, nachdem der Circus verlassen war, langsam botanisirend und die leuchtenden Schätze einer herrlichen, viele Seltenheiten bergenden Flora einsammelnd, zur Proviantstelle. Nach kurzer Rast erfolgte der Rückweg am Wangserseelein vorüber, über die Laufböden und den langen Kamm, der sich über leuchtende Alpenrosenfelder zur Ragazeralp senkt, ein ausserordentlich schöner Marsch, während dessen erst ein erschrocken davonlaufender Schneehahn, dann ein stattlicher Rehbock und später ein paar Rehgeissen die Wanderer erfreuten. Es sind dies Einwanderer aus dem Lichtensteinischen, gegenwärtig 10-12 Köpfe starke Aufenthalter in den Vilterserwäldern und würden gern bleibend Niederlassung nehmen, wenn die Frevler nichts dawider hätten. Um 3 Uhr langte man in Ragaz an, wo die wohlthätige Therme manche kleine Unbilde des Tagewerks versöhnte.
(Quelle: Die Alpenpost vom 11. Juli – 1. August 1874)

Die Grauen Hörner
Wenn einmal ein Name treffend gewählt ist, so ist es hier der Fall: von welcher Seite man sich dieser Gruppe nähert, nichts als Hörner, keine Spitzen, Stöcke, Köpfe, alles veritable Hörner und alle sind grau, schwarzgrau oder weissgrau, wie so eine Versammlung von Clubveteranen. Ein Horn davon ist das höchste, es heisst ironisch Pizsol, wohl nur deshalb, weil es im Hintergrunde der Alp Tersol steht, wo es sich von allen aus ein wenig markirt. Sonst muss man diesen Gebieter der Gruppe immer suchen. Seine Ueberlegenheit über andere Gipfel ist nicht sehr gross; das Sazmartinhorn hat nur 1 m weniger und ist dafür viel imposanter; das höchste der Zanayhörner reicht bis auf 24 m an die Majestät heran. Lässt man einmal einen Turnverein auf den Pizsol, so reissen ihn die zusammen, er könnte eigentlich von selbst auseinander fallen, solo, so verwittert und verlottert sieht er aus.
In einem Raume von kaum 1 Quadratstunde zählen wir über 30 Hörner, vom Zentrum aus gehen 4 Hauptkämme, die sich ihrerseits wieder in eine Anzahl Zweige gliedern; so gabelt sich z. B. der Kamm der Zanayhörner siebenfach. Alles graue Hörner, an die sich graue Schutthalden anlegen; wandert man über diese hin, so wird man selbst ganz grau. Ist man einmal so recht drinnen, so empfindet man vollständig den wilden, rauhen Charakter des Hochgebirges. Wie um das Auge etwas zu erquicken oder zu versöhnen, erscheinen in dieser Wildniss drei herrliche Seelein, der grünblaue Wildsee, der weissblaue Schottensee und der schwarzblaue Schwarzsee. Um das Bild des Hochgebirges zu vollenden, liegt in einem kleinen Kessel der kleine Pizsol-Gletscher, so dass es kaum ein anderes Gebiet geben kann, das mit dieser relativ geringen Erhebung so vollständig das Wesen des Hochgebirges trägt. Das überwältigende Bewusstsein hat man allerdings auf keinem dieser Hörner, hoch über allen andern zu stehen, triumphirend über die ganze Umgebung, wo alles andere bei weitem nicht an unsern Standpunkt heranreicht. Dafür hat man aber auch nicht den Eindruck, ausser dem erstiegenen keinen andern lohnenden Gipfel mehr in der Nähe zu finden; in den Grauen Hörnern lockt es uns im Gegentheil, auch andere Gipfel zu nehmen, die so lohnend, zum Theil noch lohnender sind als der höchste selbst. Wir befinden uns hier in einem wahren Labyrinth von Gipfeln; ohne Karte oder ganz detailirte Kenntniss der Gliederung dieser Gruppe kann man sich kaum erkennen und z.B. beurtheilen, in welches Thal oder Thälchen jeder der unzähligen Sättel hinüberführt. Oft glaubt man, eine einzige Kette von Hörnern zu sehen; dann löst sich beim Wechseln des Standpunktes diese Kette auf in 2-3 andere, getrennte. Die meisten Gipfel sind namenlos, glücklicherweise, sonst würde die Konfusion noch grösser. …
Gewöhnlich wird von den Grauen Hörnern nur der Pizsol besucht. An Zugängen fehlt es nicht, so dass es wohl kaum einen zweiten Gipfel gibt, der so mannigfache Auf- und Abstiege gestattet. Meistens geht man von Ragaz aus, welcher Weg, wenn er auch einige Nachtheile gegenüber andern hat, doch immer der beliebteste bleiben wird, und mit Recht. Nach Ragaz kommt man sehr leicht, findet dort schon viel Interessantes, (auch die Pfäverserschlucht sieht man immer wieder gern). In der Alp Lasa findet man gutes Quartier und in 3 Stunden ist der Gipfel erreicht. Eine Variante dieses Aufstieges über Valens ergiebt sich, wenn man nach der Hütte von Oberzanay und von da zum Gipfel aufsteigt; diese Hütte liegt noch ca. 100m höher als Lasa und näher am Gipfel. Durch das Schafälpeli kommt man leicht, wenn auch nicht gerade angenehm über Schutthalden zu Punkt 2791 und von da zum Signal 2849. Ein anderer Weg führt über Ragaz nach der Alp Pardiel 1708m, den man vielleicht einschlagen wird, wenn man am Nachmittag erst spät von Ragaz fort kann und dafür am Morgen Zeit genug hat. Von der Alp Pardiel wandert es sich sehr schön über die Laufböden der Wildseefurkel zu.
Nimmt man Vättis zum Ausgangspunkt, so hat man ebenfalls verschiedene Möglichkeiten, z.B. nach Vättnerälpli 1896 (als Nachtquartier eignet sich die Schäferhütte im Gelben Berg weniger); dann durch das Thälchen zwischen Aelplikopf und Drachenberg zum Punkt 2670 und über den Grat zur Furggla 2577, endlich über Crisp und Punkt 2767 zum Gipfel. Auf diesem Wege, der allerdings etwas lang ist (Vättis-Vättnerälpli 2 ½ Std., Vättnerälpli-Pizsol 4 ½ – 5 Std.) geniesst man eine prächtige Gratwanderung. Das Gegentheil, eine langweilige Thalwanderung, die zudem noch durch die Schlucht des Tersolbaches ihre Schwierigkeiten hat, findet man auf dem Wege über Gigerwald-Tersolalp. Von den Hütten dieser Alp in 3 Stunden über Wildhand steinig und rauh zum Pizsol.
Von Mels aus führen ebenfalls verschiedene Wege nach Rom. Man kann directe aufsteigen nach Muggalp und Gaffia 1862m oder Vermi 1804m und über den Gamidauerkamm und Schwarzplangg zum Wildsee, oder man schlägt den Weg durch das Weisstannenthal ein. Da empfiehlt sich besonders ein Weg von der Schwendi aus über Precht nach Obergamidaur 2081m (höchste Hütte St. Gallens); dann von dort zum Schwarzsee und über den Schwarzplangggrat am Schotten- und Wildsee vorbei zum Gipfel. Man kann auch durch das Gafarratobel hinein über Vermol und dem rechten Ufer des Baches folgend zum Schottensee aufsteigen; doch ist dieser Aufstieg als Thalwanderung nicht lohnend. (Ein Aufstieg sollte immer so gewählt werden, dass man möglichst rasch in die aussichtsreichen Höhen gelangt und dafür möglichst lang darin verbleiben kann. Man soll den Genuss einer Gipfelbesteigung in einem schönen Aufstieg mit immer neu sich bietenden Bildern suchen, deren schönstes und Schlussbild dann die Aussicht vom Gipfel selbst ist).
Endlich von Weisstannen aus. Will man z.B. am Morgen früh von Weisstannen fort, so steigt man am besten zum Gafarrabühl hinauf, um von da dem Grat nach den Punkt 2402 und den Sattel 2593 zu gewinnen, eine ungemein bequeme Bummelei; von diesem Sattel traversirt man nach dem Pizsolgletscher und von diesem auf dem gewohnten Weg, den Pizsol etwas südlich umgehend nach dem Gipfel. Möchte man am Abend noch in eine Alphütte hinauf, so findet man in Ober-Lavtina 1909m, freundliches Quartier und ist dann am Morgen auch in 3 Stunden auf dem Gipfel, entweder über den Sattel 2593 nach dem Wildseekessel oder aus dem Kiesthälchen directe unter Punkt 2720 durch, einem Felsbändchen folgend, zum Westfusse des Pizsol. An der Stelle, wo man aus dem Thälchen den Felsen zuschwenkt, hat Führer Hobi von Mels einen Wegweiser angebracht.
Wir haben also nur die wichtigsten gezählt, bloss ein Dutzend verschiedener Zugänge zum Pizsol; da hat man auch eine grosse Auswahl im Abstieg. Man sollte nun wenn immer möglich Aufstieg und Abstieg so combiniren, dass man dabei alle drei Seelein, Wildsee, Schottensee und Schwarzsee berührt; namentlich der letzte ist in seinem stillen Kessel wunderlieblich.
Will man bei eintretendem Nebel oder Unwetter so rasch als möglich aus diesen wilden Höhen in’s Thal hinabkommen, so steure man immer dem Wildsee zu, den man finden muss, wenn man einfach der Tiefe zugeht. Vom See aus kann man leicht die Furkel 2515 und das Vaplonathälchen gewinnen, oder man geht noch weiter der Tiefe nach, folgt dem Ostufer des See’s und dem Murmeln des zum Theil mit Schutt bedeckten Baches bis zum Schottensee. Dort sucht man wieder den Ausfluss und steigt dann zwischen Felswand und Bach an dessen rechtem Ufer in’s Gafarrathal hinunter, wo man dann von selbst auf den Weg gelangt. Bei den Hütten „im Loch“ überschreitet man den Bach und gelangt durch das Thälchen hinaus nach Schwendi. Dieser Weg würde sich als Aufstieg am meisten empfehlen, wenn man z.B. Lasten nach dem Wildsee transportiren müsste.
Bei den drei Seelein werden dem Besucher die starken Balken auffallen, welche man an deren Ausfluss findet; diese dienen zum Aufstauen des See’s, um durch zeitweiliges Ablassen genug Wasser zum Holzflössen zu haben.
An unerstiegenen Gipfeln, oder solchen, von deren Ersteigung man keine verbürgte Kunde hat, ist in der Gruppe der Grauen Hörner noch eine hübsche Auswahl vorhanden. Dem Pizsol sind ebenbürtig und zum Theil wegen der grossartigern Form überlegen, namentlich das Sazmartinhorn 2848m und das höchste der Zanayhörner 2825m. Beide sind von Süden resp. Westen her zu nehmen. Dann sind namentlich die Hörner östlich des Wildseekessels von 2649-2688 noch unbesucht, wie die Gipfel des Grates zwischen Pizsol und Seezberg. Jede einzelne dieser Spitzen ist im Detail gewiss so interessant oder interessanter als der Pizsol selbst, der unter all diesen schlanken Zinnen eine ziemlich knotige Figur macht. Westlich von Valtüsch harrt der Hangsackgrat 2640m des ersten Bergsteigers.
Ein kürzerer Passübergang von Weisstannen nach Vättis als über den Heidelpass ist derjenige über Piltschina-Tersol, doch wird man den nur einmal und dann nicht mehr machen. Für einen angehenden Hochclubisten und Pfadfinder bieten die Grauen Hörner mit ihrer Umgebung ein prächtiges Uebungsfeld; man wird dabei immer von Erfolg gekrönt sein, was so sehr aufmuntert zur Lösung von schwierigern Aufgaben an andern Orten. Freilich wird man bei dieser Pfadfinderei hie und da ein abgenagtes Rippli finden, das nicht ein Adler dorthin getragen, sondern ein ungeflügelter Topograph. Der Pizsol ist sehr spät erstiegen worden, zum ersten Male am 15. August 1864 von Herrn Frey-Gessner in Zürich. Auch Escher von der Linth und Theobald, die, namentlich der Erstere sehr viel dort herumgestiegen, z.B. im Anfang der Vierziger Jahre, waren vorher nicht oben. Nach den hinterlassenen Notizen Eschers hatte er mehrmals angesetzt; ungünstige Verhältnisse hinderten ihn aber immer am Erreichen des Zieles.
Der Umstand, dass der Pizsol schon in der ersten Triangulation des Kantons St. Gallen in den Vierziger Jahren als Fixpunkt aufgenommen wurde, dass ferner ein anderer Fixpunkt, der sog. Simel 3061m, der viel schwerer zugänglich ist, schon damals mit einem flotten Steinmann gekrönt wurde, scheint es doch wahrscheinlich zu machen, dass eben ein solcher Allerweltsgeometer auch in aller Stille schon vor 1864 seinen Fuss auf jene Höhe gesetzt.
(Quelle: Fridolin Becker: Itinerarium für das Excursionsgebiet des S.A.C. 1888: Graue Hörner – Calanda – Ringelspitz. Glarus 1888, S. 24-29)

Heute soll’s dem Sazmartinhorn, 2848 m, gelten.
Mittwoch den 25. Juli verlasse ich um 6 Uhr mit David Köhler das einfache, aber gut gehaltene Gasthaus zur Lerche, für einige Tage mit Proviant wohl ausgerüstet. … Der gewöhnliche Weg in’s Kalfeuserthal, der sich bis St. Martin auf dem rechten Ufer der Tamina befindet und die unangenehme Eigenschaft hat, bald aufwärts und bald wieder abwärts zu gehen, wird etwa eine Viertelstunde weit verfolgt, dann benutzen wir das neue Strässchen, das bis zum Gigerwald angelegt wird und augenblicklich bis auf ein Stück von vielleicht zehn Minuten nahezu vollendet ist. So viel ich weiss, wird es durch den Kanton gebaut, der hier Waldungen besitzt. Eine Fortsetzung, wenigstens bis St. Martin, steht hoffentlich in nicht allzu weiter Ferne. Das Strässchen überschreitet bald die Tamina und steigt dann allmälig durch schönen Wald bergan. Noch sind wir keine Stunde unterwegs, als wir den Bach aus dem Tersol überschreiten und die prächtigen Wiesen von Gigerwald betreten. Auf unserer Thalseite erheben sich die gewaltigen Felswände des Gigerwaldspitzes und des Gelben Berges, gegenüber die nicht minder grossartigen der Orgeln und der Gipfel östlich der Ringelspitze, und im Rückblick endlich zeigen sich die Massen des Calanda. Sofort geht’s nun steil und immer steiler in’s Tersol hinein, auf einem Weg, der gelegentlich kaum zu erkennen ist, aber an Romantik seinesgleichen sucht. In der Nähe des kleinen Baches, der vom Gigerwaldspitz herunter kommt, wird gefrühstückt und dann noch eine halbe Stunde lang thaleinwärts gestiegen, bis man fast eben zu den Hütten von Tersol hinein sieht. Jetzt geht es sehr steil die Grashalden zur Linken hinan, zum Schönbühl, der seinen Namen mit Recht führt, dann, nicht mehr so anstrengend und in der obersten Partie etwas nach Norden umbiegend, zum Grat und zuletzt, vielleicht 20 m abwärts, zum Signal des Gigerwaldspitzes, 2296 m, der in gigantischen Wänden zum Kalfeuserthal abfällt. Nach zwanzig Minuten Aufenthalt treten wir, zehn Minuten nach 10 Uhr, den Weitermarsch zum Sazmartin an, der so ziemlich vorgezeichnet ist, da man im Grossen und Ganzen einfach dem Grate zu folgen hat. Bis zu Punkt 2582 ist es ein sanftes, fast müheloses Ansteigen, immer mit herrlichem Blick in die umliegende Bergwelt und die Thäler Tersol und Kalfeusen. Jetzt verlässt man den Grat und hält sich am westlichen Abhang, doch ohne je weit von ihm, dem Grat nämlich, abzukommen. Bei Punkt 2658 betritt man ihn wieder. Diese Stelle kann auch, ohne besondere Mühe, direct vom Tersol aus erreicht werden. Wir halten eine stündige Mittagsrast und erreichen dann in einer halben Stunde, immer dem Grate entlang, mit etwas Kletterei den ersten Gipfel des Sazmartin, der circa 10 m niedriger als der Hauptgipfel und von ihm durch eine ziemlich beträchtliche Lücke getrennt ist, deren Ueberwindung indessen nichts auf sich hat. Um halb 2 Uhr stehen wir, vermuthlich als die Ersten, auf dem Sazmartinhorn. Unsere erste Arbeit ist die Herstellung eines ordentlichen Steinmanns, dann geht’s an die Musterung der Aussicht, die heute bei dem hellen, allerdings etwas windigen Wetter nichts zu wünschen übrig lässt. Die Fernsicht ist, wie zu begreifen, so ziemlich diejenige des Piz Sol, bedeutende Verschiedenheiten können sich nur für die nächste Umgebung zeigen. Recht hübsch präsentirt sich ein Theil des Dorfes Weisstannen, das vom Piz Sol nicht gesehen werden kann. Nach Süden und Westen ist die Fernsicht so ziemlich verhindert durch die Ringelspitz- und Sardonagruppe, die sich dafür in nächster Nähe um so schöner zeigen. Ausgedehnter ist der Blick gegen Osten und Südosten, ich erwähne einige der Hauptgipfel, soweit ich sie überhaupt erkennen konnte: Rothe Wand, Scesaplana, Silvrettagruppe, Piz Linard, Piz Kesch, Piz d’Aela und Piz d’Err. Die vielen kleinern Gipfel im Norden und Nordwesten sind natürlich fast alle zu sehen, da der Piz Sol kaum etwas zu verdecken im Stande ist. Wir studiren auch etwas die verschiedenen Zugänge zu unserm Gipfel und erkennen zunächst, dass der Uebergang zum Piz Sol sich ganz wohl ausführen lässt. Da der verbindende Grat ziemlich tiefe Lücken aufweist, muss man allerdings beträchtlich in die Tiefe steigen. Der Abstieg in’s Piltschina und damit nach Weisstannen bietet ebenfalls keine Schwierigkeiten. Am leichtesten ist aber jedenfalls der Zugang über den westlichen Grat, den wir für den Rückweg wählten. Wer also von Vättis aus die Tour möglichst bequem machen will, wird sich nach St. Martin begeben, dann zur Alp Brändlisberg hinauf und in nördlicher Richtung zum Grat zwischen Sazmartin und Punkt 2730. Der von uns eingeschlagene Weg ist aber gewiss der interessantere. Wenn ich endlich noch Sazmartin und Piz Sol mit einander vergleichen soll, so ist, wie oben bereits bemerkt, bezüglich der Fernsicht kein nennenswerther Unterschied, doch der Vorzug eher auf Seite des Piz Sol. Das Sazmartinhorn dürfte dagegen bezüglich der nähern Umgebung in erster Linie stehen. Im Ganzen aber würde ich eine Tour auf den Piz Sol vorziehen wegen der zahlreichen See’n, die man zu besuchen Gelegenheit hat. Es empfiehlt sich dann freilich, wenn der Sommer nicht ganz günstig ist, bis in den August hinein zu warten, um alle See’n offen zu finden. Wählt man den Weg über die Vilterseralp und den Abstieg über Schwarzplangggrat und Gamidauerkamm, so kommt man an nicht weniger als sechs See’n vorbei und geniesst während des Aufstieges sowohl als des Rückweges die herrliche Aussicht in’s Rheinthal. – Um halb 3 Uhr begeben wir uns auf den Rückweg. Mit Leichtigkeit liesse sich Punkt 2730 m besteigen, doch sind wir heute zu bequem dazu und haben zudem noch einige Stunden Marsch vor uns, bis wir unser Nachtquartier, die Hintere Ebene, erreichen. Ueber Schnee und Geröll und von zahlreichen Murmelthieren bewohntes Gelände geht’s hinunter und hinüber zu den Zinerböden. Beinahe glaubten wir, einen «Munk» fangen zu können. Wir hatten ihn überrascht, er flüchtete sich auf ein Schneefeld und verschwand plötzlich. Wir dachten, er habe sich nur geduckt, eilten hinzu und waren nicht übel erstaunt, zu sehen, wie die Thiere sich durch den gewiss noch 2 m tiefen Schnee eine Röhre gegraben hatten. Um 4 Uhr gelangen wir zur obern Malanseralp, 1990 m, und halten uns eine Stunde auf, bis sich die jetzt sehr drückende Hitze etwas gemildert hat. Dann führt uns ein Marsch von anderthalb Stunden über die Plattenalp hinunter zur Brennhütte und zur Hintern Ebene, 1780 m.
(Quelle: W. Gröbli im Jahrbuch 1888)

Die Grauen Hörner im Spätherbst
Prächtig schauen an jedem schönen Tage die Grauen Hörner über die Klus in’s Vorderprättigau herein und laden den Bergfreund zum Besuche ein. Keine andere Berggruppe präsentirt sich von Schiers aus so schön, wie die Grauen Hörner, denn die eigentlichen Prättigauergebirge Rhätikon, Hochwangkette und Silvrettagruppe sind durch Vorberge ganz oder größtentheils verdeckt und werden erst sichtbar, wenn man etwas in die Höhe steigt; die Grauen Hörner dagegen sieht man vom Thalboden und selbst von der Mitte des Dorfes aus, und zwar mit fast allen ihren wichtigern Gipfeln, Gräten und Einschnitten. Vom Fenster aus, an dem ich diese Zeilen schreibe, sehe ich z.B. den ganzen Grat vom Garmil (2012 m) bis zum Punkt 2791; dahinter den Piz Sol (2849 m) und den Punkt 2770m zunächst rechts oder nördlich von demselben, dann die hintern Zanayhörner vom Punkt 2791 m bis Punkt 2825 m, mit der daran gelehnten wilden Zanayalp, und als Gegenstück hiezu die Vasanealp, die Lasaalp und das kleine Thälchen Vaplona, mit den darüber thronenden Gipfeln: Vasanekopf, Schlößlikopf und Tagweidlikopf. Die Vaplonaköpfe, so nenne ich die Köpfe auf der Südseite von Vaplona, vom Hochpardiel (2355 m) bis zum Wildseehorn (2688 m), werfen gerade jetzt ihre Schatten in das noch in der Abendsonne glänzende Vaplona… Das ganze diesjährige Clubgebiet ist also der Hauptsache nach vor mir aufgestellt, und die Gesellschaft grauer Clubveteranen, wie das Itinerar die Grauen Hörner nennt, lud uns jüngere Clubgenossen freundlich zum Besuche ein…
Da bringt der Spätherbst unerwartet schöne Tage. Die Berge sind zwar weit, bis über Alp Lasa herab, überschneit; aber im hellsten Sonnenglanz, in wunderbarer Schönheit grüßen und winken die Grauen Hörner über die Klus herein, und da sollte man daheim bleiben? Wegen ein wenig Neuschnee? Nein, wir gehen, nämlich Freund Zwicky und ich.
Samstag den 27. Oktober, Mittags 11 Uhr, wird in Schiers aufgebrochen; raschen Schrittes geht’s nach der Station Landquart, dann per Bahn nach Ragaz und sofort weiter nach dem Bade Pfävers und hinauf nach Valens, wo wir unsern Proviant ergänzen und bei Schreiber Üehli zur Post die Schlüssel zur Alphütte in Lasa holen. Der gute Mann macht ein bedenkliches, fast erschrockenes Gesicht, als er von unserm Plane hört, und meint, wir würden des weichen Schnee’s wegen wohl bald umkehren. Um 4 Uhr wird unter den Glückwünschen Üehlis und seiner Frau der Aufstieg nach der Lasaalp begonnen. In mäßiger Steilheit geht’s bergan, und schon wenig über Valens, etwa in einer Höhe von 1000 m, treffen wir den ersten Schnee, der zuerst nur in wenigen kleinen, dann in immer zahlreichern und größern Flecken auftritt, die bald genug zu einer gleichmäßigen Decke verwachsen. Diese aber trägt uns und weckt darum gute Hoffnungen auf den folgenden Tag. Auf der untern Hälfte des Weges treffen wir noch hie und da Leute an, denen aber unser Vorhaben durchaus nicht gefällt. Die Grauen Hörner würden uns nicht fortlaufen, meint ein älterer Mann, wir könnten die auch das nächste Jahr besuchen, wenn’s gerade sein müsse, und er hatte eigentlich nicht so ganz Unrecht. Wir aber lassen uns weder belehren noch abschrecken und steigen rasch aufwärts, denn die Zeit drängt und die Nacht bricht bald herein.
Um 6 ½ Uhr ist der Säß erreicht; nach einigem Suchen finden wir die Hütte, zu der unsere Schlüssel passen, und bald steigen darin die Flammen lichterloh auf; sie erleuchten sie nur, sie erwärmen sie nicht. Leider haben wir nichts auf’s Feuer zu setzen. Wohl hatten wir Kaffeepulver mitgenommen, um uns am Abend und am Morgen einen warmen Kaffee zu machen, aber die Pfanne, die wir in der Hütte zu finden hofften, war nicht da, und wir hatten keinen Kochapparat mitgenommen. Wir mußten uns also mit Brod, Fleisch und Wein begnügen. Auch der Schlafraum war zu dieser Zeit, selbst für die bescheidensten Ansprüche, ungenügend. Er bestand in einem engen Dachraum, zu dem man mittelst einer Leiter aufsteigen mußte, und enthielt gerade Heu genug zur Herstellung einer nicht zu harten Unterlage. Doch genügte der Vorrath nicht, um auch noch eine Decke machen zu können, und so konnten wir wegen der Kälte nicht oder doch nur wenig schlafen. Solche Alphütten sind eben nur im Sommer, wenn das Vieh auf den Alpen weidet und Senn und Alpknechte die Hütte bewohnen, auch für Touristen brauchbar. Sind einmal die Aelpler wieder zu Thal gestiegen und haben sie, wie das gewöhnlich geschieht, Schiff und Geschirr mitgenommen, so enthalten die Hütten nichts mehr, als höchstens noch etwas Heu und Holz. Jedenfalls sollte man, wenn man zu ungewöhnlicher Zeit in Alphütten übernachten will, außer dem Proviant auch Kochapparat und Decken mitnehmen.
Unsere etwas fatale Lage wohl erkennend, blieben wir lange auf beim flackernden Feuer, rauchten unsere Cigarren und besprachen die Projecte des nächsten Tages mit ihren verschiedenen Möglichkeiten. Da wir uns sagen mußten, daß die Schneeverhältnisse wahrscheinlich sehr ungünstige sein würden, so durften wir keine hochfliegenden Pläne schmieden. Wir kamen überein, einen Versuch auf den Punkt 2650 m zu machen, dann zum Wildsee abzusteigen, und am Schottensee und Schwarzsee vorbei und über die Vermialp nach Mels, resp. über Gamidauer nach Schwendi im Weißtannenthal zu gehen. Sollte aber dies des Schnee’s wegen unmöglich oder doch zu anstrengend sein, so würden wir zum Wangserseeli gehen und über die Laufböden, eventuell mit Besteigung eines der Lasaköpfe nach der Alp Pardiel und nach Ragaz hinuntersteigen. Bei über Erwarten guten Schneeverhältnissen dagegen würden wir nach Besteigung des Punktes 2650 m uns an den Piz Sol wagen und dann nach Weißtannen hinabgehen.
Die folgende Darstellung wird zeigen, wie wenig wir uns an diese Verabredungen gehalten haben, und wie wir trotz der schwierigsten Schneeverhältnisse mehr ausführten, als selbst unser größtes Project, das nur für gute Schneeverhältnisse berechnet war, in sich schloß. In den Bergen bindet man sich eben nicht einmal an selbstgemachte Projecte, geht freilich dann auch nicht immer straflos aus, wie wir dies genugsam erfahren mußten. Hinterdrein aber, wenn Alles glücklich vorbei ist, macht man sich aus diesen Strafen nicht viel, sondern findet sie am Ende gar noch interessant und lehrreich. Die Lehre jedenfalls haben sie uns gebracht, daß es nicht rathsam ist, solche Touren bei so später Jahreszeit und so schlimmen Schneeverhältnissen, wie wir sie fanden, zu unternehmen. Unsere Tour wäre bei schönem Sommer- oder Herbstwetter nicht nur viel leichter und gefahrloser, sondern auch ungleich schöner und genußreicher gewesen. Es wandert sich denn doch ganz anders im wonnigen Sommer, wenn Heerden und Hirten das Gebirge beleben, die Alpenmatten in tausendfarbigem Blumenschmuck prangen, rothe Alpenrosen, blaue Gentianen, gelbe Anemonen und weiße Steinbreche uns auf Schritt und Tritt begrüßen, und selbst Gletscher und Felsenhänge einiges Leben entwickeln, als im frostigen Winter, wenn alles Leben erstorben scheint, allüberall ein großes weißes Leichentuch uns kalt entgegenstarrt und tiefer weicher Schnee unsere Schritte hemmt und unsere Kräfte lähmt!
Es war eine lange Nacht in der kalten unwirthlichen Hütte, doch nicht ohne ihren eigenen Zauber: Bald nach unserer Ankunft glänzten plötzlich die Hörner und Felszacken unserer Umgebung, namentlich die Zanayhörner, fast wie bengaliseh beleuchtet in hellem Lichte auf, um sich dann nach einigen Secunden ebenso plötzlich wieder zu verdunkeln. Wir konnten nicht beobachten und uns auch nicht erklären, woher diese plötzliche grelle Beleuchtung kam. Rührte sie vielleicht von einem Meteor, von einer vorbeifliegenden Feuerkugel her? Sternschnuppen sahen wir viele fallen, allein von solchen konnte diese starke Beleuchtung nicht herkommen, dazu ist das Sternschnuppenlicht zu schwach. Der Sternhimmel war überhaupt prachtvoll: Es waren die schönen, aber winterlichen Sternbilder Leier, Schwan und Adler in gleichschenkligem Dreieck zusammengestellt, das herrliche Trapez des Orion, mit dem funkelnden Jakobsstab in der Mitte, dann der kleine und große Hund mit dem strahlenden Sirius, Fuhrmann und Zwillinge, Cassiopeja und Perseus u. A. m, die sich unsern Blicken zeigten und uns zu stiller Andacht stimmten. Doch endlich war die Nacht dahin und wir traten, nach kurzen Vorbereitungen, um 5 Uhr 30 Min. den Marsch aufwärts gegen Vaplona an.
Zuerst war der Schnee noch gut, aber bald hatte die Herrlichkeit ein Ende; der Schnee wurde immer weicher und tiefer, und das ermüdende Waten begann. Wir hielten uns möglichst hoch auf der nördlichen, nach Süden fallenden Seite von Vaplona, gewannen das kleine Tobel, das gegen den Punkt 2547 m ansteigt, wateten durch dasselbe hinauf und erreichten den genannten Punkt um 8 Uhr 45 Min. Hier sahen wir etwa 200 m unter uns den Schottensee mit Schnee und Eis bedeckt. Schottenseefurke wäre vielleicht, der Wildseefurke (2515 m) entsprechend, der passendste Name für diese Scharte zwischen den Punkten 2647 m und 2650 m. Wir blieben nicht lange hier, sondern stiegen bald wieder links auf, theils über Schnee, theils über Verrucanotrümmer, und betraten den Gipfelpunkt 2650 m um 9 Uhr 15 Min. Es ging ein schwacher Windzug, und das Thermometer zeigte auf -2 ° C., für diese Höhe und Jahreszeit eine noch ganz erträgliche Temperatur. Wir fanden weder ein Steinmännchen, noch sonst Spuren einer frühem Besteigung, und sind also vielleicht die ersten Besucher dieses Punktes, abgesehen etwa von Jägern und Geißbuben, von denen aber die Geschichte schweigt.
Der Punkt, der wohl passend Schottenseehorn genannt würde, ist sehr interessant und besuchenswerth. Er bietet einen guten Ueberblick über den geologischen Aufbau der Grauen Hörner, und eine prachtvolle Aussieht, die bei dem sonnigen Wetter und der reinen klaren Herbst- oder fast Winterluft wirklich entzückend war…
Denn einen höchst eigenthümlichen, befremdenden Anblick gewähren die Grauen Hörner! Zu unsern Füßen liegen die kraterähnlichen Becken des Wildsee’s und Schottensee’s. Jetzt freilich ist der Grund dieser Becken sammt den See’n und dem vom Wildsee gegen den Piz Sol ansteigenden Gletscher in den weißen Schneemantel gehüllt, und die See’n erkennt man nur an der ausgeglätteten Ebene. Ringsumher erheben sich seltsame, fast unheimliche Felsgestalten, die vielfach zerrissen und zerklüftet sind, und deren vorspringende Ecken und Thürme oft schief dastehen, ja zu wanken scheinen und mit Einsturz drohen. Diese Felsenhörner stehen nämlich gar nicht an ihrem Platz; weit unten in unterirdischen Räumen, viele hundert Meter unter ihrem jetzigen Ort sollten sie eigentlich sein und dem ganzen Gebirge als solide Grundlage dienen. Aber es gefiel eben diesen unruhigen Köpfen nicht, in untergeordneter Stellung die andern zu tragen; in frecher Selbstüberhebung haben sie alle Bande der Ordnung durchbrochen und sich emporgedrängt in lichte Höhen, für die sie nun einmal nicht passen. Dem Verfasser des trefflichen Itinerars erscheinen diese Häupter wie eine Versammlung von Clubveteranen. Uns scheinen sie eine viel gefährlichere Gesellschaft. Fast möchte man wähnen, unversehens einer Bande böser Anarchisten in die Hände gefallen zu sein!
Seht diese rauhen schrecklichen Gestalten ringsumher, wie sie finster und grimmig dreinschauen! seht, tragen sie nicht sammt und sonders Jakobinermützen? Ja, ja, Mützen von rothem Verrucano tragen diese sauberen Gesellen, aber sie sehen schrecklich zerrissen aus, auch müssen sie nicht farbächt gewesen sein, denn sie schillern in allen Farben: graugrün, schmutzig-violett, rostbraun. Einer Halsbinde vergleichbar zieht sich unterhalb der obersten Köpfe ein hellgraues Band von sogen. Lochseitenkalk um den Felsnacken, das wir namentlich beim Heraufsteigen von der Lasaalp beobachten konnten und das man im Sommer sogar von Schiers aus deutlich sehen kann, und dann kommt der Rumpf von dunkeln Schiefern und Kalken, die hinunterreichen bis in die Pfäverser Schlucht, wo sie reichlich Nummuliten enthalten. Da ist also Alles drüber und drunter gekehrt. Während die richtige, althergebrachte und bewährte Ordnung die wäre: unten ein festes Grundgestell und sicheres Fundament von Verrucano und andern altern Gesteinen, dann ein Etagenwerk von jurassischen Kalken und oben ein gutes Dach von eocänen Schieferplatten, so steht hier verkehrt Alles auf dem Kopf…
Jedoch der Zeiger an der Uhr und die Sonne am Himmel schreiten unerbittlich vorwärts und mahnen uns, daß auch wir weiter müssen, und so machen wir uns nach einstündigem genußreichem Aufenthalt um 10 Uhr 20 Min. wieder auf den Weg. Das Verständigste wäre nun gewesen, entweder über die Laufböden und Pardiel nach Ragaz zurückzugehen, oder allenfalls an Wildsee, Schottensee und Schwarzsee vorbei über Gamidauer und Vermialp nach Mels hinunter zu steigen. Aber das Wetter war so schön, und uns gefiel es hier oben so gut, daß wir wenigstens einen Versuch gegen den Piz Sol machen wollten. Um dem Schnee einigermaßen auszuweichen, stiegen wir zunächst zum Wildseefürkli 2515 m hinunter, und auf der andern Seite gleich wieder hinauf, gegen Punkt 2688 m (Wildseehorn), in der Hoffnung, dann von dort über die Punkte 2686 m, 2649 m und 2791 m eine ziemlich schneefreie Gratwanderung bis zum Piz Sol machen zu können. Wir kamen auch glücklich und ohne zu viel Schnee auf die zwei erstgenannten Punkte. Es war eine interessante, alle Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit in Anspruch nehmende Felskletterei. Von Zeit zu Zeit kamen wir an einen gewaltigen Felsenthurm, der sich breit und trotzig in den Weg stellte und ein energisches: „ Halt, bis hieher und nicht weiter!“ zu gebieten schien. Dann galt es, an dem ungeschlachten Kerl herumzuspüren und herumzuklettern, zu kriechen und zu springen, bis sich irgendwo ein Ausweg fand. Meist konnten wir die Thürme auf der rechten Seite, also auf der Seite des Gletschers, umgehen; nur einmal ging’s links herum, mit Blick in gähnende Tiefe gegen Valgrausa. Einer dieser Felsobeliske war, wie durch einen Axthieb, von oben bis unten gespalten. Auf den Punkten 2688 m und 2686 m blieben wir je etwa 20 Minuten, denn die Aussicht von ihnen aus bot gegenüber Punkt 2650 m wenig Neues. Doch traten hinter der Albulakette noch die Berninagruppe und der Ortler hervor. Erwähnt sei noch, daß uns längere Zeit zwei gelbschnäbelige Bergdohlen umkreisten, die es offenbar auf die spärlichen Ueberreste unseres Proviants abgesehen hatten; sonst sahen wir auf diesem Grat im Schnee nur noch einige todte Fliegen. An einer geschätzten, sonnigen Stelle hatten wir schon vorher wenige Meter unter Punkt 2547 m (Schottenseefurke) in einer Felsenspalte ein ganzes Büschel schön blühender gelber Ranunkeln gefunden.
Vom Punkt 2686 m an konnten wir, ohne Führer und Seil, nicht mehr auf dem Grat weiter gehen. Also ließen wir uns durch eine steile, schneeerfüllte Runse auf das große Schneefeld hinunter, das jetzt den ganzen Felsenkessel ausfüllte, während im Sommer nur ein kleiner Gletscher sich vom Piz Sol gegen den Wildsee hinunterzieht. Jetzt war freilich vom Gletscher selber nichts zu sehen; er lag unter einer dicken weichen Schneedecke, die weit über ihn hinaus und hinauf reichte, so daß nur die obersten Gräte ihre starren, zerklüfteten Felsmassen zeigten. Auf diesem ansteigenden Schneefeld gab es nun furchtbar ermüdende und zeitraubende Arbeit. Fast durchweg sanken wir bis an oder über die Kniee in den weichen pulverigen Schnee ein, oft genug auch bis an die Brust, und manchmal mußten wir 4 bis 6 Schritte machen, ohne auch nur um ein paar Centimeter vorwärts zu kommen, indem wir an steileren Stellen immer wieder zurücksanken. Auf einer längeren Strecke mußten wir alle 20 bis 30 Schritte einen kleinen Halt machen, um Luft und Kraft zu schöpfen. Oft lag’s uns wie Blei in den Beinen und zeitweilig hatten wir auch mit dem Schlaf zu kämpfen. Aber „nit nahlah gwinnt”, und so arbeiteten wir uns unverdrossen vor- und aufwärts. Gegen Punkt 2791 m gab’s einmal eine ganz schlimme Kletterei durch ein steiles Couloir hinauf, in dem Hände und Füße keinen sichern Halt fanden, weil der Fels faul war, und die Steine, die als Angriffs- und Stützpunkte hätten dienen sollen, losließen und in die Tiefe stürzten. Das war eine höchst mißliche Stelle, aber wir waren, ich weiß nicht wie, hineingekommen und konnten ohne die größte Gefahr des Ausgleitens nicht mehr zurück, mußten also um jeden Preis aufwärts zu kommen suchen, was uns denn auch mit viel Mühe und unter Anwendung aller Vorsicht und von allerlei Kriech- und Kletterkünsten schließlich gelang. Die Höhe wurde ohne Unfall erreicht, und dann ging es wieder etwas leichter über den im Sommer schneefreien, jetzt aber stark verschneiten Grat zwischen Punkt 2791 m und Piz Sol hinweg. So erreichten wir ein steiles Kamin, das uns, weil es ebenfalls mit weichem Schnee erfüllt war, große Anstrengung kostete, aber uns direkt auf den mittleren und höchsten Gipfel des Piz Sol führte, den wir endlich um 3 Uhr 40 Min. erreichten. Wir hatten also für die kleine Strecke vom Punkt 2686 m bis Piz Sol, die im schneefreien Sommer jedenfalls in einer Stunde ganz gut gemacht werden kann, volle drei Stunden angestrengtester Arbeit gebraucht. Das hatte der weiche Schnee verschuldet. Wir erschraken nicht wenig, als wir bemerkten, daß es so spät geworden war, allein zu ändern war da nichts mehr. Lange aufhalten durften wir uns hier natürlich nicht, aber eine halbe Stunde mußten wir uns doch gönnen, um uns nach der mehrstündigen großen Anstrengung etwas zu erholen, und uns durch Brod, Fleisch und Wein wieder zu stärken…
Doch nun ist’s die höchste Zeit! Nachdem wir einen Zeddel mit unseren Namen in der zerbrochenen Flasche des Steinmännchens geborgen, treten wir den Abstieg gegen Weißtannen an. Es war 4 Uhr 10 Min., und das Bestreben darum wohl berechtigt, einen möglichst kurzen Weg einzuschlagen. Im Sommer oder bei tragendem Schnee würden wir auf den Gletscher hinunter gestiegen und an dessen linkem Rande gegen den Lavtinasattel 2593 m gegangen sein, um dann über den Stafinellegrat und Gafararücken (die Punkte 2402 m, 2080 m und 1766 m) nach Weißtannen zu eilen. Jetzt aber fürchteten wir, im Wildseekessel des weichen Schnee’s wegen fast nicht vom Fleck zu kommen, und dann von der Nacht überfallen zu werden. Darum wagten wir, in der Meinung, so viel schneller vorwärts zu kommen, den Abstieg vom Piz Sol gerade westlich durch die sogen. Gelbi hinunter direkt auf die Hütte von Oberlavtina zu. Das brachte uns nun gehörig in’s Pech. Zunächst allerdings ging’s in hellen Sätzen abwärts. Doch bald merkten wir, daß Vorsicht geboten sei, denn der Berg bestand hier vielfach aus losen Steinen, die zudem meist mit glattem Eis überzogen waren. So fiel ich einmal um, rutschte abwärts, wollte mich an einem vorspringenden Stein hatten; der aber ließ los und kollerte weiter, während es mich zwei Mal überwarf, bevor es mir gelang, mich an andern Steinen festzuhalten, wobei ich mehrere Finger ziemlich stark verletzte. Es war die höchste Zeit, daß ich mich halten konnte, denn wäre ich nur noch wenig weiter gerutscht, so wäre ich in eine bedeutende Tiefe gefallen. Nach dieser Episode kamen wir bald auf steile Schneefelder, durch die wir sitzend hinunterrutschten. Ganze Schneeströme fuhren mit uns und hinter uns her zu Thal, uns manchmal fast in sich vergrabend. Nun wurde die Stelle, die einen Abstieg zu ermöglichen schien, immer enger und steiler; Felsen starrten, mit gefrornen Wasserfällen behangen, in die Höhe, und Abgründe zeigten uns ihre gähnende abschreckende Tiefe. Jedes weitere Fortkommen schien unmöglich zu werden. Sollten wir umkehren und weiter oben einen andern Ausweg suchen? Drei Blicke genügten, um uns Alles versuchen zu lassen, auf dem einmal eingeschlagenen Weg weiter zu kommen: ein Blick aufwärts auf den zurückgelegten Weg, der uns zeigte, daß wir nur mit großem Zeitverlust und übermäßiger Anstrengung im weichen steilen Schneefeld wieder in eine Höhe kommen könnten, von der aus ein anderer Weg in mehr nordöstlicher Richtung unter dem Gipfel des Piz Sol durch sich versuchen ließe, ein zweiter Blick auf die Excursionskarte, der diesen neuen Weg nicht besser erscheinen ließ als den, auf dem wir waren, und ein dritter Blick an den Himmel, der uns die beängstigende Nähe der Nacht verrieth. Also steigen wir abwärts, langsam, Schritt für Schritt abwägend, einander zurufend, helfend, ermuthigend, aber in peinlicher Ungewißheit, ob wir nicht doch noch an eine Stelle kommen würden, wo wir nicht mehr weiter könnten. Plötzlich hatten wir eine senkrecht abstürzende Felsstufe unter unsern Füßen, weder rechts noch links eine Möglichkeit, sie zu umgehen. Jedes weitere Vordringen schien unmöglich. Allein, Noth, bricht Eisen und macht auch etwa erfinderisch. Fassen wir den Stier bei den Hörnern; der Fels ist nämlich nicht sehr hoch und wie der ganze Berg zerrissen und zerhackt; er bietet also vielleicht Anhalts- und Stützpunkte für Hände und Füße und – frisch gewagt ist halb gewonnen! Ich werfe Bergstock und Proviantbüchse hinunter in den weichen Schnee und beginne die Kletterei und – es geht! Langsam, vorsichtig, denn ein einziger loser Stein, auf den man sich stützte, ein einziger Fehltritt müßte Verderben bringen. Endlich komme ich unten auf dem weichen sichern Schnee an. Nun rückt Zwicky nach, unter meinen Commandorufen: rechts, links, weiter unten, größerer Schritt, weiter spannen, festhalten etc., und mit einem letzten Sprung ist er auch auf dem Schnee. Nun geht’s wieder in Rutschpartien, mit mächtig hinter uns her rauschenden Schneezügen abwärts, aber doch nur mühsam, mit Unterbrechungen und nicht ohne einige kleine Abenteuer, weil der Schnee zu weich und zu pulverig ist und zu wenig Halt bietet; schließlich jedoch kamen wir ohne größern Unfall unten beim Bach an und überschritten ihn etwas unter der Hütte von Oberlavtina, nachdem es bereits Nacht geworden war. Ohne Rast stürmen wir vorwärts. Dem Bach nach abwärts zu gehen, wagen wir nicht, denn es sieht in der Dunkelheit gar unheimelig aus dort unten in den Schluchten. Ohne die Karte zu berathen, steigen wir rechts an, gegen den Punkt, der auf dieser als Hochwart bezeichnet ist, in der Meinung, dann von dort in’s Thal hinunter steigen zu können. Allein dort angekommen, schreckt uns die grausige dunkle Tiefe zurück, und wir stürmen nun in der Angst gegen Punkt 2402 m hinauf, ohne recht zu wissen, wo wir sind. Aber die Erfolglosigkeit solchen Thuns bald einsehend, machen wir Halt und studiren bei mattem Schein eines Kerzenstümpchens, das wir für äußerste Fälle aufbewahrt hatten, die Karte. Auf Grund derselben entscheiden wir uns für den Weg durch’s Lavtinatobel, weil uns in der Dunkelheit der Bach eine bestimmte Leitlinie bietet und weil wir so hoffen dürfen, auch bei langsamem Gehen doch bald in größere Tiefe und aus dem Schnee zu kommen, wobei wir allerdings voraussahen, daß wir da hinunter wenigstens bis zum Punkt 1501 m sehr schlimmen Weg durch finstere Schluchten, steile Halden, Felsen und Rüfen haben werden.
In langem Zickzack steigen wir durch steile holperige Grashalden, die hier zu unserer Freude schneefrei sind, hinunter auf den Punkt zu, wo der Lavtinabach im Tobel aus der Südwestrichtung in die Westrichtung übergeht, und erreichen den Bach über dem Buchstaben p des Namens Krautplangg in der Karte. Nun tappen wir tapfer, theils im Bach, theils neben ihm, theils an den Gehängen rechts und links durch die Schlucht hinaus, was zwar sehr langsam, aber sonst im Ganzen nicht so übel geht. Freilich sind wir puncto Gangbarkeit des Terrains allmälig sehr genügsam und wenig wählerisch geworden. Hie und da gibt’s einen gehörigen „Patsch” bis an die Kniee in’s Wasser, dann steckt man mit den Füßen in tiefem Schlamm, dann fällt man über Steine hin und windet sich zwischen großen Blöcken hindurch, bleibt mit einem Fuß zwischen Steinen in einem Loch stecken, klettert etwas am rechten Abhang hinauf und dann wieder hinunter, je nach der Beschaffenheit des Bachbettes, verstrickt sich im Gesträuch u. s. w. Aber aus allem dem und vielem Andern, von dem die Geschichte schweigt, machen wir uns nichts mehr, wenn’s nur immer vor- und abwärts geht, denn darauf ist jetzt all’ unser Sinnen und Trachten gerichtet. Stellenweise wird die Schlucht unheimlich enge, und die schwarzen Felsgestalten scheinen uns erdrücken zu wollen. Wie Gespenster hängen besonders an den hohen linksseitigen Felswänden gewaltige Orgelpfeifen von Eis absturzdrohend herunter. Aber es geht doch immer vorwärts und endlich treten wir, indem wir ein wenig rechts ansteigen, aus der Schlucht heraus und kommen im wilden Felsenkessel von Badöni beim Punkt 1501 m an, der uns auch durch eine kleine, an den Felsen gelehnte verfallene Hütte erkennbar wird, und wir brauchen nun nicht mehr zu fürchten, an unpassirbare und gefährliche Stellen zu kommen.
Aber nun folgt neue Enttäuschung. Anstatt, wie wir gehofft, aus dem Schnee heraus und auf einen ordentlichen Weg zu kommen, stecken wir auch hier wieder, und, wie wir bald merken, noch für lange, in tiefem, weichem Schnee, auf dem holperigen steinigen Grund eines immer noch engen schluchtartigen Thals. Stellenweise hatten wir auch Trümmerfelder mit wild durcheinander geworfenen großen und kleinen Blöcken zu passiren. Erst oberhalb der Hütte von Unterlavtina kamen wir auf besseren Weg, auf dem wir endlich einmal in ordentlichem Schritt vorwärts kamen.
Endlich standen wir um 12 Uhr 30 Min. vor dem Hotel Alpenhof in Weißtannen, mußten aber noch lange warten und läuten, klopfen, rufen und lärmen, bis wir Einlaß erhielten. Die freundlichen und sehr zuvorkommenden Wirthsleute waren nicht wenig erstaunt ob unserer Ankunft in so später Nacht und von solchen Orten. Am Morgen marschirten wir wieder rüstig durch’s romantische Weißtannenthal hinaus nach Mels, dann ging’s per Bahn nach Landquart, und zum guten Schluß wieder zu Fuß nach Schiers, wo wir Mitte Nachmittags wohlbehalten ankamen. So viel Mühe und Schwierigkeit uns unsere Herbstfahrt in Folge des vielen weichen Schnee’s bereitet hatte, waren wir doch, und sind es noch, von derselben in hohem Grade befriedigt, war es uns doch gelungen, mehrere Gipfel der Seehörner und das Haupt der Grauen Hörner, den Piz Sol, zu besteigen und herrliche Aussichten zu genießen, und war uns schließlich trotz aller Ungunst der Schneeverhältnisse und trotz unseres allerdings etwas unbesonnenen Vorgehens doch nichts Schlimmes zugestoßen! …
(Quelle: Eduard Imhof im SAC Jahrbuch 1888)

Auf das Grosse Zanayhorn 2825 m.
Am Morgen des 22. Juli kämpfte das Wetter lange zwischen Regen und Sonnenschein hin und her, bis endlich letzterer die Oberhand erhielt. Ich brach deßhalb erst um 10 Uhr 30 Min. auf. Ein schöner Fahrweg führt in mäßiger Steigung durch Buchen- und Tannenwald am linken oder nördlichen Ufer der Tamina hin bis gegen den Ausgang des Tersoltobels. Dieses vom Kanton St. Gallen zur Ausbeutung seiner Wälder angelegte Sträßchen bietet prächtige Ausblicke auf den Hintergrund des Kalfeusenthals, auf die Ringelspitzkette und rückwärts auf den Calanda. In einer Stunde hatte ich das einsame Gigerwaldgut erreicht. Es fällt mir, wenn ich aus Graubünden in das Gebiet der St. Galler- und Glarneralpen komme, jedesmal auf, wie ungleich wilder es hier bei gleicher Höhenlage ist, als in unsern rhätischen Thälern und Alpen. So liegt das Gigerwaldgut nur 1237 m hoch und ist ein vereinzeltes, rauhes Gut, so daß man sich billig darüber verwundern muß, daß Jemand dasselbe ständig bewohnen mag. Der Wald kommt dort nur noch in kleinen Fetzen vor und reicht nicht weit über das Gut hinauf.
Beim Aufstieg nach der Alp Tersol ging’s erst noch ein kleines Wäldchen hinauf, dann aber folgten abwechselnd abschüssige Grashalden und von Runsen durchfurchte Felsenhänge, in denen der schmale, holperige, steil auf- und absteigende Fußweg oft für längere Zeit ganz verschwindet. Ist das ein Tobel! Rechts und links, über und unter sich sieht man mit Staunen grandiose Felswände von furchtbarer Steilheit und Höhe. Unten in der engen Schlucht, in der der Blick nur selten bis auf den Grund hinabdringt, tobt und stürzt der Bach von Stufe zu Stufe in einer fast ununterbrochenen Folge von vielgestaltigen Wasserfällen, von denen manche von großer Schönheit sind. Da und dort wölben sich prächtige Regenbogen über den tiefen Abgrund und tanzen den fröhlichen Reigen auf dem feinen Wasserstaub, der aus der schwarzen Kluft emporwirbelt. An manchen Stellen sieht man das Wasser in wildem Wirbel durch glattpolirte, runde Felsennischen jagen, um dann plötzlich mit gewaltigem Sprung in die Tiefe zu stürzen und weiter unten das gleiche Spiel von Neuem zu beginnen. Hoch oben an den Wänden aber reiht sich ein Auswaschungskessel an den andern. Jetzt sind diese Erosionsnischen längst verlassen, aber sie sind Zeugen aus alter Zeit und verrathen das gewaltige Schaffen der Natur, die mächtige Kraft des erodirenden Wassers. Für den leicht bepackten Touristen mag nun freilich dieser Weg mit all’ seinen Naturwundern trotz seiner Steilheit recht angenehm, wenn auch durchaus nicht mühelos sein. Aber die zwei Männer, die ich unterwegs antraf und die sich mit unendlicher Anstrengung abmühten, einen 6 bis 7 m langen und 120 m dicken Balken nach der Alp hinauf zu tragen, mögen die Schlucht mit ganz andern Augen und Gefühlen betrachtet haben als ich. Da hat nämlich im vorigen Winter (1888/89) eine Lawine eine Hütte zerstört und die muß nun wieder aufgebaut werden. Die Alp liegt aber 1995 m hoch und ist weit von allem Wald entfernt und so müssen denn die Alpbesitzer das Bauholz vom Gigerwald aus 600 bis 700 m hoch hinauf tragen. Der Weg ist aber wohl der schlechteste Alpweg, den ich bis jetzt kennen gelernt habe. Ich habe absichtlich hier meinen Aufstieg verlangsamt, um diesem Balkentransport zuzuschauen und einen Eindruck von den damit verbundenen Schwierigkeiten, Gefahren und fast übermenschlichen Anstrengungen zu gewinnen. Wo es anging, nahmen die Männer den Balken auf die Schultern, der eine am vordem, der andere am hintern Ende, und schritten behutsam über steile, glatte Grashalden oder über schmale Felsenbänder hoch über dem Abgrund hin. Von Zeit zu Zeit kam eine scharf vorspringende Felsecke und zugleich ging der Weg aus, also mußte der Balken niedergelegt und mit untergelegten Steinen vor dem Sturz in’s Tobel bewahrt werden. Dann wurde er an’s Seil genommen und von den Männern, die den Felsen umklettert hatten, heraufgezogen und auf der andern Seite wieder vorsichtig hinabgelassen. Dann wieder wurde der Balken ein Stück weit steil aufwärts getragen, bis etwa eine kleine, krumme Seitenrunse wieder die Anwendung des Seils mit Heraufziehen und Hinunterlassen oder mit Hin- und Herschieben nöthig machte. An manchen Stellen, an denen der Weg in scharfen Ecken um Felsen bog, waren die Männer in der höchsten Gefahr, durch den an den Felsen streifenden, unbiegsamen Balken in den Abgrund gedrückt zu werden oder den Balken fahren lassen zu müssen und sich um die ganze Arbeit betrogen zu sehen. Auch sollen den Männern wirklich einige Balken entgangen und in der unzugänglichen Schlucht auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein. Bei diesem Transport machten die Männer einige Stationen und schafften also einen Theil des Holzes vom Gigerwald zunächst nach der ersten Station, später von dieser nach der zweiten und so weiter, bis sie oben bei der Hütte ankamen. Auf solche mühe- und gefahrvolle Weise mußten die Besitzer der Alp eine größere Anzahl Balken und Bretter in die Alp hinauf schaffen. Und dabei rauchten sie noch gemüthlich ihr Pfeifchen!
Nachdem ich einige Zeit dieser harten Arbeit zugesehen hatte und mir nicht die mindeste Lust kommen wollte, mich an derselben zu betheiligen, schwang ich den Hut, eilte wieder schnelleren Schrittes aufwärts und erreichte die Hütte der Alp Tersol um 2 Uhr 10 Min. Es ist das eine sehr rauhe, von hohen zackigen Felshörnern umschlossene Galtvieh- oder Jungviehalp. Unter den Spitzen ragen namentlich die drei höchsten der Grauen Hörner hervor: Piz Sol im Norden, Sazmartinhorn im Westen und Großes Zanayhorn im Osten. Die Alp gehört 5 oder 6 Geschwistern aus Vasön und kann an 100 Stück Jungvieh und eine größere Anzahl von Schafen sömmern. Früher soll die Alp für die doppelte Stückzahl genügt haben. Infolge fortdauernder Verschüttung durch den von Jahr zu Jahr sich mehrenden Bergschutt nimmt aber ihre Ertragsfähigkeit fortwährend ab. Immerhin ist sie auch jetzt noch eine, wie es scheint, nicht ganz zu verachtende Verdienstquelle für ihre Besitzer, indem dieselben außer ihrem eigenen Jungvieh auch noch fremdes gegen Entgelt auf derselben sommern können. Aber wie lange wird es noch gehen, bis wir auch hier eine „todte Alp haben werden?
Tersol hat zwei Zugänge, von denen der eine schlechter ist als der andere. Der eine ist der eben beschriebene, der andere führt von Vasön über Vindels, Calvina und die 2577 m hohe Furggla. Auf diesem letztern wird das Vieh hergetrieben, weil der erste für dasselbe ungangbar ist. Nachdem das Vieh zur angesetzten Zeit von verschiedenen Orten her in Vasön sich versammelt hat, wird es mit Rufen und Johlen, Schreien und Fluchen, Stockschlägen und allerlei Hantirung der Furggla zugetrieben, um dann von dort wieder fast 600 m abwärts zu steigen. Dabei ist dieser Weg meistens sehr rauh, steinig und steil und besonders der oberste Theil desselben für das Vieh nicht ohne Gefahr, so daß bei regnerischem Wetter, wenn der Boden vielfach schlüpfrig wird, manchmal einige Stück „erfallen“. Da mag denn auch die Poesie der Alpfahrt an einem kleinen Ort sein! Auf der Alp residirt den Sommer über ein Hirt mit ein oder zwei Unterhirten oder Knechtlein. Er ist den Alpbesitzern für richtige Wartung des Viehes verantwortlich, erhält aber auch von ihnen einen wahrhaft fürstlichen Gehalt von, wenn ich nicht irre, Fr. 200, woraus er auch seine Beamten besoldet und dieselben wie sich selber beköstigt. Das Residenzpalais ist eine aus Steinplatten gebaute, kleine, niedrige Hütte ohne Fenster, aber mit einem fast viereckigen Loch als Thüre, durch das man, wenn man sich genügend bückt, ohne Anschlagen des Kopfes eintreten kann. Drinnen kann man, wenn man nicht zu groß ist und sich in die Mitte stellt, aufrecht stehen, und findet in einem Raum Küche, Schlafzimmer, Speisezimmer und Salon vereinigt. Das Bett besteht aus einer Pritsche mit etwas Heu und einigen ehemaligen Roßdecken, der Herd aus einigen Steinplatten. Die Pritsche dient zugleich als Stuhl und Canapé, die Kniee des Sitzenden als Tisch. Der Rauch entweicht, nachdem er zuvor den Raum in allen Theilen gehörig desinficirt bat, gelegentlich durch das Thürloch, wenn er nämlich dort nicht durch den Wind zurückgetrieben wird. Der Wirth empfing mich freundlich, reichte mir eine Schale Milch und bot zur Herberge mir sein Haus. Da ich wirklich hier zu übernachten gedachte, nahm ich das Anerbieten dankbar an.
Nach kurzer Ruhe und angenehmer Unterhaltung mit meinem Wirth über die damals brennende Wohlgemuthfrage und den darauf folgenden Notenwechsel machte ich mich um 3 Uhr auf eine Recognoscirung gegen das Große Zanayhorn. Diese Recognoscirung war von so gutem Erfolg, daß aus ihr gleich eine Besteigung des Horns noch am selben Nachmittag wurde.
Ich stieg nämlich auf dem Furgglaweg bis zu etwa 2400 m, ging dann dort in nordsüdlicher Richtung hin und her und untersuchte genau die Abhänge des Horns und die gegen dasselbe hinaufführenden Runsen. Zwei Stellen schienen mir für die Ersteigung günstig: die eine vom p im Wort Crisp der Karte durch eine Schuttrunse gegen das zweite a des Namens Zanayhörner, die andere vom Hügel 2410 m ebenfalls durch eine Runse gegen die Ziffern 82 in der Zahl 2825 m. Ich wählte sofort den ersteren Weg, um, wenn mich derselbe nicht an’s Ziel führen sollte, am folgenden Tag nur noch den zweiten versuchen zu müssen. Am linken Rand der Schuttrunse, wo dieselbe von einem herabsteigenden, verwitterten Felsenriff begrenzt wird, aufsteigend, kam ich trotz des rutschigen Bodens rasch aufwärts, da mir das genannte Riff gute Stützpunkte für die Füße und gute Angriffspunkte für die Hände bot. Die Runse führte mich gegen eine Einsenkung im Kamm, die, von unten gesehen, als geradlinige, kurze Schneide erscheint und von zwei hornartigen Spitzen begrenzt wird, von denen das nördliche das Große Zanayhorn ist. Fast in der Höhe der Schneide angekommen, stellte sich mir ein Felsband entgegen. Ohne den Versuch zu machen, dasselbe zu übersteigen, traversirte ich nun, weil mir das leichter schien, unter und längs demselben die Schutthalde nach Norden und kam so auf den Grat, der mich in wenigen Minuten und ohne weitere Schwierigkeiten auf die Spitze führte, die ich um 4 Uhr 45 Min. betrat.
Die Aussicht geht nicht gerade in die Weite. Im Norden und Nordwesten ist sie beschränkt durch den Hauptzug der Grauen Hörner (Piz Sol, Seehörner), im Westen durch die äußerst zerrissene, zackenreiche Kette des Sazmartin, von Südwesten bis Südosten durch die Ketten der Ringelspitze und des Calanda. Doch sieht man den ganzen Rhätikon und Theile des Plessurgebirges und der Silvrettagruppe, dann Gonzen und Alvier. Dagegen eignet sich der Punkt sehr gut zum Ueberblick über das Excursionsgebiet: Graue Hörner, Calanda, Ringelspitzkette mit allen ihren Spitzen und Hörnern. Besonders prächtig erscheint von hier aus die Kette der Ringelspitze und der wilde Geselle, das Sazmartinhorn. Tief zu Füßen liegen unter schauerlichen Schieferwänden die Zanay- und die Calvinaalp, getrennt durch den Zug der Vogelegg und des Monteluna. Weiter unten glänzen die grünen Terrassen von Vättnerälpli, Vättnerberg und Vindels, der Zanayalp gegenüber die Lasaalp unter den gerundeten Lasaköpfen. Von Tersol sieht man nur den obern Theil sammt Crisp, aber nicht die Hütten. Im Rheinthal lag Nebel.
Spuren von früherem Besuch fand ich keine. Da auch Führer David Kohler in Vättis nichts von einer frühern Besteigung dieses Horns weiß, so bin ich wohl der erste Tourist, der das Vergnügen hatte, dort oben zu stehen. Steinmännchen konnte ich keines bauen, da es mir an Zeit und naheliegendem Material dazu gebrach. Ich hinterließ also nur einen Zeddel mit meinem Namen und einigen Notizen über die Besteigung, den ich zwischen zwei Schieferplatten legte. Ich durfte schon deßwegen nicht lange hier oben weilen, weil ein scharfer Westwind ging und das Wetter sich verschlimmerte. Ueberall mehrten sich die Wolken und immer näher rückten dicke Nebelmassen. Nach einem Aufenthalt von 15 Minuten trat ich um 5 Uhr den Rückweg an und zwar auf derselben Linie, auf der ich gekommen war. Um 5 Uhr 35 Min. war ich wieder im Crisp und um 6 Uhr in der Tersolhütte. Da das Wetter für den folgenden Tag nichts Gutes erwarten ließ, so entschloß ich mich, sofort nach Vättis zurückzukehren, um für alle Fälle freie Hand zu haben.
Um 6 Uhr 15 Min. verabschiedete ich mich vom Hirten und eilte, so rasch ich konnte, thal- oder eigentlich schluchtauswärts, um wo möglich vor Eintritt völliger Dunkelheit im Gigerwaldgut anzukommen. Trotzdem mir der Nebel an mehreren Stellen in den Weg trat und mich öfters in ein Gefühl der Unsicherheit brachte, kam ich doch überall gut und schnell durch und war schon um 7 Uhr 15 Min. im Gigerwaldgut und um 8 Uhr in Vättis.
Herr Zimmermann, der Wirth zur Lerche, machte mir nachträglich fast die Haare zu Berge stehen durch ein Geschichtchen, das ich hier wiedererzählen will, weil es zeigt, in welche Gefahren der Wanderer im Gebirge manchmal kommen kann, auch an Orten, wo er von Schwierigkeiten oder Gefahren keine Ahnung hat. Der Wirth meinte nämlich bedeutungsvoll zu mir, ich werde doch nicht etwa im Tersoltobel über die große Lawine marschirt sein. Ich merkte nun schon, daß ich etwas verbrochen hatte, da ich wirklich diese Lawine, d.h. den von einer solchen im Tobel liegen gebliebenen Schnee passirt hatte. Der Wirth erschrak fast ob dieser Meldung, obwohl er mich unversehrt vor sich sah, meinte, ich könne von Glück reden, daß mir nichts zugestoßen sei, und erzählte mir nun Folgendes:
Vor einigen Jahren kam ein Mann – dessen Namen und Wohnort er mir nannte und den ich recht wohl kenne – auf der Suche nach einem verlornen Schaf nach Tersol. Den Rückweg nahm er durch’s Tobel und passirte die Lawine. Plötzlich brach die trügerische Decke unter ihm zusammen und er stürzte in die unheimliche Tiefe, wo er in dem mit ihm gefallenen Schnee stecken blieb. Es gab keine Möglichkeit, sich wieder hinauf an’s Tageslicht zu schaffen; auch im Flußbett war es unmöglich, fortzukommen, denn in beiden Richtungen, nach oben und unten, war dieses durch Wasserfälle unterbrochen. Ja, es lag die Gefahr nahe, daß der wüthende Bach den Mann sammt dem Schnee wegspülen und über den nur wenige Schritte weiter unten befindlichen Wasserfall hinauswerfen könnte. Der Mann war in furchtbarer Noth, erschöpft sank er nach langen, vergeblichen Anstrengungen zusammen und glaubte sich dem Tode geweiht. Da wollte es ein glücklicher Zufall, daß der Hirte von Tersol an diesem Tag mit seinen Arbeiten früher fertig wurde als gewöhnlich. Um für den folgenden Tag vorzuarbeiten, ging er gegen Abend auf die Holzsuche in dem Erlen- und Legföhrengebüsch des Tobels. Dabei kam er in die Nähe der Lawine und vernahm von dort her ein anhaltendes Rufen und Stöhnen. Zuerst meinte er, es komme von einem verirrten Menschen. Wie er aber dem Rufen nachging, kam er an das Loch in der Schneedecke. Nun wußte er wohl, um was es sich handelte, konnte aber doch nicht sogleich Hülfe schaffen, sondern mußte vorerst in der Alp ein Seil holen. Mit diesem konnte er endlich unter eigener Gefahr den Verschütteten aus seiner qualvollen Lage befreien, der schon vor Erschöpfung, Kälte und Angst dem Tode nahe war. Der Mann lebt noch, wird aber nicht so bald wieder über alten Lawinenschnee gehen, von dem man eben nicht wissen kann, wie weit er schon unterhöhlt ist. Auch Andere mögen sich daraus eine Lehre ziehen.
(Quelle: Eduard Imhof im SAC Jahrbuch 1889)

Piz Sol (Sonnenspitze) oder Pizol (Spitzlein)?
Das eidgenössische topographische Bureau in Bern giebt folgende Auskunft:
„Ursprünglich schrieben wir Piz Sol. Diese Schreibweise ist nach der Einsendung der Probeabdrücke an die Kantonsbehörde von derselben in Pizol korrigiert worden. Wir schreiben auch Pizalun, weil nach Ansicht obgenannter Behörden die Namen Pizol und Pizalun mit Sol und Luna nichts zu thun haben.“
Herr Dr. Wilhelm Götzinger schreibt in seinen „Romanischen Ortsnamen des Kantons St. Gallen“:
„353. Pizòl GG. Mels-Pfäfers, Bergspitze und
354. Pizòl G. Grabs, relativ geringe Erhöhung (1885m?) zwischen Tristenkolben und Sichelkamm.
Der Name wurde bis 1889 auf den meisten Karten Piz Sol geschrieben. Wie Pizalun ist dieser eine Ableitung von piz, Diminutivbedeutung, welche jedoch mit der Zeit abhanden gekommen zu sein scheint.“
Wir sind zu dieser Neuerung, soweit sie auf den Piz Sol der Grauen Hörner Bezug hat, weder bekehrt noch belehrt.
1. In Büchern und Karten vor 1889 findet man überall Piz Sol, Pizsol, nie Pizol.
2. Für Piz Sol kommt auch der Name Solstock vor. Schulbuch von Dr. Scherr für den Kanton St. Gallen 6,29.
3. Die Alp südlich am Piz Sol heisst Terrsol (Sonnenboden).
4. Ein Thal südöstlich vom Piz Sol in der Alp Zanai heisst Sonnenthal.
5. Die Analogie mit den naheliegenden Monte Luna (Mondberg) und Pizalun, Pizza Luna (Mondspitze) erfordert Piz Sol (Sonnenspitze).
6. Die Höhe des Piz Sol, 2849m, höchste Spitze der Gruppe, weist durchaus nicht auf die Verkleinerung Pizol (Spitzlein). Dagegen sagt Dr. W. Götzinger: „352. Pizalun ist eine Ableitung vom rätoromanischen pizz, pizza, Spitze, Bergspitze und bedeutet grosse Spitze.“ Also Pizol 2849m = kleine Spitze; Pizalun 1482m (eigentliche Spitze, aber nicht haushoch) = grosse Spitze; wie verkehrt.
7. Bei Iwan Tschudi hat das Wort Piz – mehr als 200 mal – stets ein Substantiv oder Adjektiv nach sich, ist also nie Diminutiv.
8. Der Piz Sol wird als hervorragendste Spitze seiner Gruppe von der Sonne zuerst und zuletzt beschienen. Das weist doch eher auf Piz Sol (Sonnenspitze) als auf Pizol (Spitzlein). Analog nennen die Melser und Sarganser das Gleckhorn Sonnenspitze, weil für sie die Sonne eine Zeit lang bei demselben aufgeht.
9. Die neue Sektion Piz Sol des S. A. C. schrieb sich trotz offizieller Schreibart und trotz sprachgelehrter Erklärung ohne weiteres Piz Sol.
(Quelle: Johann Baptist Stoop in: Alpina 1894, S. 36)

Das Große Zanayhorn (2825 m).
Wer von Pfävers ins Taminathal hineinwandert, der sieht im Hintergrunde des jenseitigen Mühletobels links eine hohe schwarze Felswand weit über die andern Höhen und Gräte hinausragen. Es ist das Große Zanayhorn. In Vättis ist es unter diesem Namen weniger bekannt; es heißt dort unter den Hirten und Jägern durchweg der „Hochberg”.
Das Zanayhorn ist der Vereinigungspunkt dreier Gräte; einer führt vom Piz Sol her; ein anderer, der als Fortsetzung des ersten angesehen werden kann, verbindet das Große Zanayhorn über den Furgglapaß mit dem Vättnerkopf und Drachenberg; der dritte und wildeste Grat, nach der unten liegenden Alpweide am passendsten Scadellagrat genannt, verbindet unsern Gipfel mit der Vogelegg (2543 m) und in der weitern Fortsetzung mit dem Monte Luna, den man mit dem gegenüberliegenden Vättnerkopf (2670 m) als Seitengipfel des Großen Zanayhorns ansehen kann.
Alle diese Hörner und Gräte wurden schon vor Jahrzehnten von Vättner und Vasöner Hirten und Jägern betreten. Nebenbei bemerkt, war das Gebiet der Grauen Hörner früher sehr gemsenreich; aber wie an andern Orten wurde auch hier diesen alpinen Antilopen zu stark zugesetzt, so daß sich nur selten mehr eine blicken läßt.
Der erste Tourist, der auf das Große Zanayhorn gelangte, war Eduard Imhof. …
Bei meiner Besteigung vom 31. August letzten Jahres wählte ich den Weg über Ladils-Davos gegen die Furggla hin. In halber Höhe schwenkte ich rechts ab gegen die Runse zwischen dem Kleinen und Großen Zanayhorn. Dieser entlang erreiche ich gefahrlos über leichten Fels den Grat, wo sich mir ein prächtiger Ausblick in die nahe und ferne Bergwelt öffnet. Über lose Gesteinstrümmer, zwischen welchen gar manches frische Blümchen hervorguckt, mäßig steil ansteigend, erreiche ich bald die sonnige Höhe.
Unmittelbar neben dem Steinmann fällt die Nordwand ein Stück weit senkrecht ab gegen die Zanayalp, deren Hütten ich in schwindliger Tiefe erblicke. Freundlich grüßt der Piz Sol; trotziger schaut unser finsteres Gegenüber, das Sazmartinhorn, drein. Darüber hinaus bis in die blaue Ferne wimmelt es von Hörnern und Gräten. Über der Trinserfurka schimmern die zackigen Gipfel des Oberalpstock; neben dem Piz Segnes das breite Firnhaupt des Tödi. Das wilde Ringelgebirge steht in erdrückender Nähe; vom Simelhorn fährt eben eine Lawine nieder. Vom fernen Osten schimmert die Weißkugel; hinter dem Flüela-Schwarzhorn leuchtet das Schneefeld des Ortler; über dem Calanda winken die Firnen der Bernina, des Monte della Disgrazia. Wer nennt sie alle beim Namen, die weißen Höhen, wer zählt ihre Spitzen? Es ist ein Blick, erhaben in die Thäler, die Klüfte hinab, wundervoll auf die nahen und fernen Bergeshäupter.
Drei Wochen später, am 19. September, versuchte ich den Aufstieg über den östlichen Scadellagrat, den bisher noch niemand auf der ganzen Strecke begangen. Der wild zersägte Grat hat auch meine Erwartungen nicht getäuscht. Ich betrat, vom Vättnerberg ausgehend, zunächst den Grat der Vogelegg, der mit einem interessanten Felskopfe (oberhalb der Zahl 1904 der Siegfriedkarte, Blatt 402) beginnt. Natürlich konnte ich von einer Erkletterung desselben nicht abstehen, zumal ich bei seiner Beschaffenheit annehmen mußte, er sei noch nicht so oft bestiegen worden. Ein der Größe des Berges angemessener Steinmann wird die Heldenthat späten Zeiten verkünden, wenn nicht vorher der Berg mit samt seinem Turmwächter auf die Hütten von Calvina herunterpurzelt. Von da ging’s steil aufwärts bis zum Gipfel der Vogelegg, in welchem der vom Monte Luna herkommende Seeligrat einmündet. Auf diesem grasbewachsenen Felskopfe bietet sich der beste Überblick über die Zanayhorngruppe und ihre Verbindung mit den eigentlichen Grauen Hörnern. Das ganze Gebirge, das von der Ferne einen zahmen, milden Charakter zeigt, löst sich in der Nähe in die scharfen, zerhackten Formen der Eozänschiefer auf, die zu den runden Linien des Monte Luna und Vättnerkopfes einen malerischen Kontrast bilden. Das Große Zanayhorn zeigt sich als düstere, unnahbare Pyramide, und macht bei dem heutigen dunklen Wetter und dem Nebelspiele einen abschreckenden Eindruck. Doch so schnell läßt sich ein richtiger Clubist nicht einschüchtern. Indem er immer zuerst das nächste mustert und das folgende für nachher aufspart, dringt er weiter und weiter, bis er zuletzt einsieht, daß die Sache gar nicht so schwierig ist, wie sich’s ein anderer vorstellt.
Zunächst ging es noch ein Stück weit ziemlich eben vorwärts; dann begannen die Genüsse, wie sie ein recht zerrissener, messerscharfer Grat angesichts der beidseitigen jähen Abstürze bieten kann. Vorläufig kann ich mich auf der Schneide des Grates bewegen, bis plötzlich vor mir ein jäher Felsturm riesig hoch emporsteigt, an dem ich vergeblich nach einem Kletterpfade suche. Seine Größe und Wildheit imponieren mir derart, daß ich schnell seine Umrisse aufs Papier werfe. Ich klettere auf die Nordseite des Grates, wo noch frischer Schnee vorhanden war, mit dessen Hülfe ich ziemlich schnell und ungefährdet wieder auf den Grat gelange. Ein wohlthuendes Siegesgefühl belohnte mich für die überstandene Arbeit; der Turm ist verschwunden, und ich sehe, daß es bloß ein Absturz des Grates ist, dessen westliche Fortsetzung mir verborgen war. Schnell errichte ich eine steinerne Siegestrophäe. Von da geht’s leichter bis zur höchsten Spitze, wo sich mir eine neue Wand entgegenstellt, die ich aber leicht auf der Südseite umgehen kann. Bald bin ich am Ziele.
Damit wären nun die „ersten Leistungen” in diesem Gebiete erledigt. Der ganze Weg ist eine richtige Kletterei, die genügend Abwechslung in der Bewegung bietet; der Abstieg nach Calvina war wirklich eine Spielerei dagegen. Sonst hat diese Tour nicht viel auf sich. Wollen wir eine leichte, genußvolle Gratwanderung, so haben wir den Furgglagrat, und die First jenseits des Tersolthales.
Ich darf es kühnlich behaupten, daß außer dem Ringelgebirge eine Zanayhorntour auf obigem Wege über Calvina, mit Abstieg über den „Vättnerberg” oder Tersol, bei ihren geringen Anforderungen die genußvollste Tour des ganzen Taminathales ist, mit welcher sich weder ein Piz Sol, noch Calanda messen kann. Jenem fehlt der allseitig freie Blick in die Thäler, die hohen Gipfel seiner nahen Umgebung erwecken ein drückendes Gefühl. Auf dem Calanda vermissen wir den Blick über das endlose Heer der Glarner und Urner Alpen, welche vom Ringel und den Grauen Hörnern vollständig verdeckt werden.
(Quelle: Friedrich Wilhelm Sprecher: Aus den Bergen des Taminathales. SAC Jahrbuch 1894)

Das Sazmartinhorn (2848 m).
Im Hintergrund des Tersolthales erhebt sich das Sazmartinhorn als eine rauhe, finstere Pyramide, deren Gipfel drei scharfe Spitzen krönen. Mit dem Zanayhorn hat es in Bezug auf äußere und innere Gestalt die größte Ähnlichkeit. Beide bestehen aus Flyschschiefer der Jüngern Eozänperiode mit gegenseitig paralleler, steil nach Süden fallender Schichtung. An beiden hat die Erosion überraschend ähnliche Formen herausgebildet. Man kann das eine Horn förmlich das Spiegelbild des andern nennen, wie denn das ganze Tersolthal eine solche Symmetrie der beiderseitigen Abhänge, der Gräte, Felswände und Runsen zeigt, wie wir sie wohl selten in den Alpen wiederfinden. …
Die beiden Hörner, Sazmartinhorn und Zanayhorn, nehmen eine von der Piz Sol-Gruppe ziemlich unabhängige Stellung ein, wie sie auch an Höhe mit dem Piz Sol rivalisieren, und das mit Recht, denn in ihnen erreicht die normale Schichtung die höchste Erhebung, während jener den 1 m betragenden Vorrang seiner geliehenen, rot-grünen Verrucanokappe zu verdanken hat. Vom Taminathale bei Vättis ist weder das eine, noch das andere der beiden Hörner sichtbar. Auf dem Wege zum Calanda erblickt man sie erst in bedeutender Höhe.
Das Sazmartinhorn kann sowohl über seine Flanken, wie über die Gräte erstiegen werden. …
Im September 1892 bestieg ich … über St. Martin und Brändlisberg-First den höchsten Gipfel, von welchem ich durch ein schneeerfülltes Couloir, das mir stellenweise Rutschpartien bot, direkt ins Tersol gelangte.
Am 14. September letzten Jahres zog es mich wieder hinauf, um so mehr, da ich das Sazmartinhorn als einen vernachlässigten Berg kannte. … Es war ein herrlicher Herbstmorgen. Über die frisch beschneiten Berge stieg rosenrot die Sonne nieder. Ein früher Aufbruch am Morgen ist nicht meine Sache. Ich lasse gewöhnlich zuerst die Sonne aufstehen und das Geschick des kommenden Wetters verkünden, bevor ich mich zum Aufbruche entschließe. Infolgedessen sah ich auch bisher fast alle meine Touren vom besten Erfolge gekrönt. Der nächste Weg auf das Sazmartinhorn geht über Tersol; dahin wandte ich mich heute.
Schon die Wanderung durch das Calfeusenthal, das wenigstens in der ersten Hälfte an wilder Größe, an malerischer Abwechslung der wundervollen Scenerie seinesgleichen in der Schweiz sucht, ist eine genußvolle. Wie überall, muß man eben auch hier das Verständnis, ein gewisses poetisch-ästhetisches Gefühl mitbringen für das, was man genießen, was man lernen kann und soll, um auch dem Toten in der Natur Leben einzuhauchen, um auch das scheinbar Widerwärtige zu einem harmonischen Bilde vereinen zu können.
Das neue Sträßchen längs der wildrauschenden Tamina, meist durch kühlen Forst führend, ermöglicht mir, tapfer auszuschreiten. Hell schimmern die morgenroten Flühe des Brändlisberg und Hochgang durch die grünen Tannenwipfel herab. Wie ich aus dem Walde heraustrete, sehe ich hoch über dem dämmernden Thalgrund einen glänzenden Firn, mit den schwarzen Verrucanotürmen des Ringel. Eine hohe Brücke über den Tersolbach bringt mich zum Gute Gigerwald, und von da in den Eingang des Tersolthales. Die Waldgrenze ist bald überschritten, und es öffnet sich ein Bild von erhabener Pracht. Charakteristisch für dieses Kalkgebirge ist die Bildung von engen, schauerlichen Schluchten, wie die des Mühletobels bei Valens, des Radeintobels, Kreuzbachtobels und Tersoltobels bei Vättis. Mehr als eine Taminaschlucht ist in ihnen verborgen. Schäumende, tosende Wasserfälle drunten im Abgrund, wohin kein sterblich’Auge dringt, sorgen für die Lebendigkeit dieser wilden, verlassenen Welt. Links und rechts senden himmelhohe Wände das Echo rauschend zurück. Droben vom blauen Himmel winken die gelben Wände des Drachenberges herab, vom Morgenglanz übergössen; und blick’ ich zum Thal hinaus, seh’ ich die wild durchfurchten Felsenstirnen der Orgeln sich in den Sonnenstrahlen spiegeln, die fächerförmig über dem Calanda hervorschießen. Alles erwacht; auch in mir entfacht sich der frohe Clubistensinn zu neuer Lust und Begeisterung.
Ein Weg, urwüchsig wie die uns umgebende Natur, führt mich von Höhe zu Höhe. Beim „Leiterli” geht der alte Weg, den man aber Schritt für Schritt suchen muß, über steile Grashalden empor, bis er wieder gegen die Alp Tersol einbiegt. Statt dessen aber benützt man der Abkürzung halber die selten schmelzenden Lawinenreste, welche die Schlucht eine große Strecke weit ausfüllen. Heute aber fand ich keinen Schnee mehr vor; trotzdem drang ich durch die Schlucht hinauf, indem ich bald auf die eine, bald auf die andere Seite des Baches sprang. Gottlob dauerte das Abenteuer nicht lange; statt dessen grüßte mich bald die gastliche Hütte von Tersol.
Dieses in weitem Umkreise höchst gelegene Thal – die mittlere Höhe mag 2200 m betragen – machte im frischen Schneekleide einen recht hochalpinen Eindruck. Rings umgeben von hohen, wilden Hörnern und Gräten, bietet es eine eigentümliche Einsamkeit; man sieht nur Felsen, Matten und droben den Himmel; heute war mit dem Schnee auch das frische Grün der Weiden verschwunden. Das Bächlein, das zu Zeiten, wie der Zwerg in der Sage zum Riesen, zum verheerenden Wildstrome anwachsen kann, vermag die öde Stille kaum zu beleben; und fühlte es der einsame Wanderer nicht, das leblose Gerölle, das die einst herrlichen Weiden bedeckt, würde es ihm sagen, daß wir hier eine Alp haben, die dem Tode, der Zerstörung preisgegeben ist, so lange, bis die über ihr thronenden Bergeshäupter durch die Erosion so weit abgetragen sind, daß die geschiebeführenden Wildwasser und Lawinen ihre größte Kraft verloren haben.
Das Leben, das die Erosion geschaffen, zerstört sie wieder, um es nach Jahrtausenden wieder zu erwecken. Werden und vergehen, und vergehen, um zu werden, das ist der Kreislauf der Natur, der toten und lebendigen; das ist der Kreislauf des Menschenlebens, der Weltgeschichte; nur der ist ohne Werden und Vergehen, von dem das Werden kommt und zu dem es wieder zurückkehrt.
Ein frischer Trunk alpinen Nektars, vulgo Milch, in der gastlichen Hütte belebte mich zu neuer Arbeit. Das Trio Zanayhorn, Piz Sol und Sazmartinhorn hat man unmittelbar vor sich. Vor allem aber fesseln die nackten, schwarzen Wände des letztern hoch über dem Thale. Auf weichen Rasenhalden emporsteigend, betrete ich bald den Neuschnee, in welchem die „Munggen” ein förmliches Straßennetz eingetreten hatten. Ich bekam auch alsogleich einige Pfiffe zu hören, und sah einen solchen Kobold, wie er auf einer Steinplatte seine Kundschau hielt. Langsam stieg ich über den mühsamen Schnee gegen Punkt 2658 der Siegfriedkarte. Eine Erkletterung der Couloirs, die, in halber Höhe beginnend, direkt zur Spitze führen, und welche ich vor zwei Jahren zum Abstiege benutzte, schien mir bei den heutigen Schneeverhältnissen zu zeitraubend und gefährlich. Auf dem Grate schwenkte ich rechts gegen die südliche Spitze des Gipfels, welche von den zwei andern durch einen ziemlich bedeutenden Einschnitt getrennt wird. Eine kleine Kletterei, da ich diese Spitze nicht umgehen kann, bringt mich hinauf und bei etwas schwindligem Ausblick in die Lücke hinab, von wo ich über den scharfen Grat leicht zum höchsten Gipfel des Sazmartinhorns gelange. In dem neuen Schneekleide macht er wirklich einen ganz respektabeln Eindruck, als wäre er zum wenigsten ein 4000er. Aber in der Nähe Seiner Majestät, des Ringel, ist ein übertriebener Größenwahn nicht zu befürchten. Denn dieser Herrscher im Reiche der Tamina kann in seinem gewaltigen, türmereichen Massenbau von keinem andern Punkte aus besser studiert werden, als hier. Freilich erscheinen diese jähen, unnahbaren Wände mit den vielen Schneerinnen nicht gerade einladend. Auch der glänzende Ringelfirn oder Panäragletscher, wie er meist genannt wird, der aus seiner stolzen Höhe von 3200 m herabschimmert, schleudert dann und wann seine mächtigen Eiskolosse gegen Panära herab, wo sie als Lawine ihren rauschenden Fall beenden.
Die Aussicht ist im übrigen derjenigen des Zanayhorns und Piz Sol ähnlich. Dazu kommt hier noch der Blick auf das Dörfchen Weißtannen. Frei und offen ist der Blick in die Thäler Tersol und Valtüsch und den scharfen Nordgrat des Calfeusenthales. Nach zwei Stunden Aufenthalt brach ich auf.
Der Abstieg über den Westgrat gegen die Brändlisbergalp bot keine Schwierigkeiten, noch besondere Mühe. Bei genügend Schnee ließen sich die ergötzlichsten Rutschfahrten veranstalten. Heute aber kam ich immer und immer wieder auf den Grund, wie ich auch stoßen und rudern mochte. Den Weg über Brändlisbergalp und durch die Tannenwälder nach St. Martin darf man füglich einen herrlichen Spaziergang nennen. Den Aufstieg über Tersol auf den Gipfel, mit Rückweg über Brändlisberg, wie ich die Tour heute ausführte, ziehe ich jeder andern Kombination vor. Auf Wiedersehen, Sazmartinhorn!
Bei der inmitten der großartigsten Gebirgswelt wunderlieblich gelegenen St. Martinskapelle werfe ich einen letzten Blick auf den sagenumwobenen Sardonagletscher, der neben dem Felsturme des Ancapan herableuchtet. Eben war die Abendsonne hinter ihm hinabgestiegen, deren glühendes Rot noch von den Felsruinen der Orgeln niederschimmert.
Die altersgraue Kapelle auf ihren Felsen über der rauschenden Tamina wüßte noch manches Geheimnis verschwundener Geschlechter zu erzählen, die einst in diesem weltverlassenen Thale ihr kümmerliches Leben fristeten; wüßte zu erzählen von jener wunderschönen Alpe, an deren Stelle heute der Sardonagletscher den gottlosen lasterhaften Hirten mit all seinem Hab und Gut auf eisigem Grunde begraben hält. Das ist der Grund, weshalb der „Sauren” so ernst und düster niederblickt. Verschwunden und vergessen sind die Generationen von Jahrhunderten; niemand hat ihre Geschichte geschrieben, nur mangelhafte Daten melden uns von ihrer dahingesunkenen Existenz. Ihre Nachkommen sind hinausgezogen nach Vättis, oder noch weiter zu andern Völkern mit andern Sitten. Das heutige Geschlecht, das alljährlich am Jakobsfeste aus der umliegenden Gegend hierher pilgert zur Feier St. Martins, gedenkt ihrer kaum. Eine neue Zeit, eine neue Geschichte lebt in ihren Kindern.
(Quelle: Friedrich Wilhelm Sprecher: Aus den Bergen des Taminathales. SAC Jahrbuch 1894)

Die Reklame hat ihn eben vergessen.
… Am letzten Tage des vergangenen August führte mich das clubistische Sursum und nicht zum wenigsten das herrliche Wetter dort hinauf, und der reine, ungestörte Genuss, den ich auf der Tour sowohl, wie auf der Spitze empfunden, und die beschämend wenigen Beweise früherer Besteigungen veranlassen mich, diesem mit Unrecht vernachlässigten Berggipfel wieder zur gebührenden Ehre zu verhelfen.
Das grosse Zanayhorn, 2825 m, ist im Höhenrang der dritte Gipfel der Grauen Hörner und als die höchste Erhebung jenes Grates zu betrachten, der, beim Piz Sol beginnend, in südöstlicher Richtung über das hintere und grosse Zanayhorn, wo er sich verzweigt, teils über das kleine Zanayhorn und die Furggla zum Drachenberg, teils über Vogelegg zum Monteluna sich fortsetzt. Diese Zweiteilung des Grates ermöglicht den Niederblick in drei Thäler, ins Tersol-, Zanay- und Calvinathal, ähnlich wie beim gegenüberliegenden Satzmartinhorn. Jedes dieser drei Thäler bietet auch eine eigene Aufstiegsroute. Meines Wissens stieg der erste Besteiger des gr. Zanayhorns, Herr E. Imhof, von Tersol aus durch eine steile Runse zum Gipfel. Dieser Weg ist sehr mühsam und kann bei Schnee und Regenwetter auch gefährlich werden. Den Aufstieg von Calvina, der als der sicherste und bequemste bezeichnet werden darf, wählte ich bei meiner zweiten Besteigung vom letzten August. Man steigt am besten zur Runse zwischen dem kleinen und grossen Zanayhorn; von da beliebig durch die Runse oder die Felsen auf den Grat und über gefahrloses Geröll zum Ziele. Kletterpartieen können auf diesem Wege nach Wunsch eingeschaltet werden, sind aber nicht gefordert. Auch ist man auf dieser Seite weniger den Winden ausgesetzt.
Ein dritter und mühsamer Weg, der ziemliche Kletterei erfordert, führt von der Alp Zanay her durch das Sonnenthal in die tiefste Gratsenkung zwischen Gross- und Hinter-Zanayhorn, sodann über den zerhackten, zerrissenen Grat zum Gipfel. Von Valens aus ist dies der kürzeste, wenn nicht der bequemste Weg.
Für die obersten Partieen ist der Aufstieg von Calvina aus jedenfalls weitaus der beste und sicherste, der noch dadurch den Reiz gewinnt, dass er uns bis in die obersten Regionen den grössten Teil der Aussicht vorenthält, dann aber, wenn man sich über die umliegenden Gräte erhoben hat, wie mit einem Zauberschlage die ganze Herrlichkeit der weiten Alpenwelt aufdeckt. …
Das Aussehen des ganzes Gebirges ist, wie schon angedeutet, ein ausserordentlich wildes und rauhes, besonders von Norden und Osten her. Die Gräte sind durchweg zerhackt, scharf und schneidig, die Spitzen förmlich zugefeilt, so dass kaum ein ordentlicher Steinmann darauf Platz findet. Die Flora ist sehr reichlich vertreten; besonders finden sich Ranunculus glacialis, Geum reptans, Campanula cenisia, Linaria alpina, auch Sempervivum arachnoideum, Achillea moschata und andere.
Für den Abstieg sind wieder drei Wege offen: einer nach Calvina, identisch mit dem Aufstiege, ein anderer zum kleinen Zanayhorn und von da durch das Geröll nach Grisp-Tersol; ein dritter führt ein Stück weit über den Nordgrat in die Lücke des hintern Zanayhorns, von dort ebenfalls durch Fels oder Geröll direkt nach Grisp-Tersol hinunter. Die ganze Tour von Vättis oder Valens hin und zurück lässt sich ganz bequem in einem Tage vollführen, wenn man auch unter den genannten Wegen beliebig wählt. Beim Zanayhorn fällt eben vermöge seiner vorgeschobenen Lage die lange Thalwanderung, wie wir sie beim Piz Sol finden, weg; man ist näher und schneller beim Ziele, und schneller wieder zu Hause, und hat trotzdem, oder vielmehr eben deshalb einen ebenso hohen Genuss gehabt.
Die Aussicht von der Spitze des grossen Zanayhorns halte ich unter übrigens gleichen Bedingungen für die schönste im Gebiete der Grauen Hörner, noch schöner als die vom Calanda oder Piz Sol. Denn im Vergleich mit dem Calanda ist das Zanayhorn höher und bietet infolge seiner Lage einen viel freieren Überblick über die Grauen Hörner selbst, sowie über die Ringelkette und Glarnerberge.
Und im Gegensatz zum Piz Sol ist das Zanayhorn nicht in einer Masse von Hörnern eingeengt, sondern der Blick dringt frei und offen nach allen Seiten in die Tiefe, der Piz Sol selbst zeigt hier seine schönste Seite, und den grandiosen Wänden der Ringelkette ist man hier teils näher gerückt, teils sieht man das ganze Gebirge mehr in der Längsrichtung, so dass dasselbe nicht mehr wie beim Piz Sol, in seiner ganzen Breite die dahinter liegenden Berge verdeckt. …
Ich habe Calanda, Piz Sol, Satzmartinhorn und Ringel mehrmals bestiegen, aber keiner von allen hat mir bei so geringer Mühe mehr wahren Genuss und Freude bereitet, als das grosse Zanayhorn. Und doch ist es, nach den zurückgelassenen Karten zu schliessen, ausser von Jägern, kaum 6-7 mal bestiegen worden. Die Reklame hat ihn eben vergessen, wie so manchen Menschen auch; aber dessenungeachtet wirft am hellen Morgen das Himmelsgestirn auch ihm das Purpurkleid um die Schultern, und glüht er am stillen Abend ebenso golden, wie mancher Alltagsberg; und wenn der Mensch oft in seinem Leben, durch falschen Glanz geblendet, das Kleinod in seiner Nähe vergisst, so verliert es deshalb seinen Wert und seine Schönheit nicht; ebenso, wie die Blumen, die noch auf dem Scheitel des Berges blühen, nicht weniger frisch und munter in die Welt hinausblicken, wie die, welche in der Tasche des Salontouristen von ihren Bergen scheiden.
Clubisten, vergesset das Kleinod nicht!
(Quelle: Friedrich Wilhelm Sprecher: Das grosse Zanayhorn, 2825 m. Alpina 1895, S. 69f.)

Piz Sol oder Pizol?
Es empört mich immer, wenn fernstehende, mehr oder minder Gelehrte sich bemühen, den Landesbewohnern die altherkömmlichen eingelebten, sinnvollen Orts-, Flur- und Bergnamen nach Schreibart und Deutung als unrichtig darzustellen und dafür ihre neuen, mehr oder minder geistreichen Spekulationen aufzudrängen. Das Beste ist, dass diese Neuerer in der Regel unter sich in Widerspruch geraten.
Piz Sol. Der Name ist zu schön, zu sinnvoll. Es muss heissen: Pizol, und bedeutet nach Dr. Götzinger „kleine Spitze“; nach anderen mit etwas mehr Sinn „Piz ault“, „hohe Spitze“. Sogar der vom Grabser Ingenieur Sulser richtig geschriebene Name Spizol, „beim Zaunpfahl“, Bezeichnung einer Weide in der Grabser Alp Schlewiz, musste nach der gelehrten Schablone im top. Atlas auch in „Pizol“ rektificiert werden. „Piz Sol und Monte Luna haben mit Sonne und Mond nichts zu thun“, spricht die „Wissenschaftlichkeit“. Aber Piz Sol wohl mit Tersol, der anliegenden Alp; Sol, Solstein, Solstock, Solberg sind doch unbestreitbare Analogien, bedeute nun Sol Sonne oder etwas anderes oder gar nichts.
Als im Jahre 1895 die Sektion Alvier auf den Vorschlag des damaligen Comités in Ragaz, nach meiner Ansicht kein glücklicher Einfall, sich in Sektion Piz Sol umgetauft hatte, wurde wegen der Rechtschreibung des Namens Piz Sol eine Anfrage an den in dieser Sache wohl kompetentesten Herrn Professor Muoth in Chur gestellt, der in einem vielseitigen Gutachten zum Schlusse kam, es sei an der Schreibart Piz Sol festzuhalten.
(Quelle: Johann Baptist Stoop in: Alpina 1902, S. 117)

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