Alpsegen – Ave Maria auf den Alpen

… möge auch eine schöne Sitte Erwähnung finden, welche auf mehreren Alpen des Bezirks Sargans (St. Galler Oberland) heimisch ist. Dort tritt mit einbrechender Dunkelheit ein Senne vor die Alphütte und singt einen längeren Gebetspruch, dessen musikalische Form nach Art der katholischen Litaneien, aber ganz eigenthümlich gestaltet ist. Dieser Gebetspruch wird jeden Abend gesungen, und selbst Schneegestöber oder Sturm hindert den Senn nicht an der Ausübung des religiösen Gebrauchs. Die Art und Weise des Vortrages dieses «Alpsegens», die Dunkelheit, das vieltönige Geläute der Heerdenglocken – alles vereint macht auf den Hörer einen tiefen und unverwischbaren Eindruck. Tritt noch der Fall hinzu, dass auf einer ausgedehnten Alp zwei oder mehrere Besitzungen – «Stösse» – sind, so wird die ganze Eigenthümlichkeit noch dadurch erhöht, dass man den Gesang der Sennen von den anderen «Stössen» her wie ein geisterhaftes Echo in die Nacht ausklingen hört. Die Reihenfolge des Absingens vom «Alpsegen» ist in den Rechtsamen der einzelnen Stösse verbrieft, und die Sennen sind auf den Vorrang so sehr eifersüchtig, dass schon blutige Händel erfolgten, wenn sich ein Senn des folgenden Stosses etwa beigehen liess, in übungswidriger Freiheit den «Alpsegen» vor seinem «berechtigten» Vordermann abzusingen. Gebetspruch und Sangweise scheinen uralt zu sein. Da Letztere meines Wissens noch nie veröffentlicht wurde, so mögen Spruch und Weise zusammen durch unser Clubbuch den Weg in die Oeffentlichkeit finden.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1867-68)

Alpsegen auf Brändlisberg: Das Alpleben ist im Allgemeinen ein freundliches; die Aelpler nähren sich gut mit Milch und “Tätsch”. Auf den meisten Alpen wird noch der Alpsegen gebetet, allerdings nicht gerade immer mit der grössten Feierlichkeit und Hingebung. Ein löbliches Beispiel, wie man den Alpsegen rufen muss, gibt der treue Hirt von Brändlisberg, Jakob Keller, ein Protestant, der aber die Mutter Gottes und die “lieben Gottesheiligen all” so innig anruft, wie der beste Katholik. Keller ruft nicht nur, sondern er vertraut auch auf seinen Ruf und sichtbar erhören die Heiligen, denen er sich und “Alles, was in seinem Ring” ist, empfiehlt, diesen Ruf. Als wir ihn bei Gelegenheit um eine Abschrift seines Alpsegens ersuchten, wollte er nicht willfahren; er sagte, das wäre eine Versündigung, es könnte Jemand über diesen Segen lachen und das könnte und möchte er nicht verantworten. Der gute Brändlisberghirt hatte Recht.
(Quelle: Fridolin Becker: Itinerarium für das Excursionsgebiet des S.A.C. 1888: Graue Hörner – Calanda – Ringelspitz. Glarus 1888)

Wohl sämmtliche Mitglieder unserer Expedition hatten heute zum ersten Mal die Gelegenheit, den Alpsegen sprechen zu hören. Sobald die Nacht hereingebrochen und die Tagesarbeit erledigt ist, begibt sich einer der Sennen, Hut und Hirtenstab in der Hand, ins Freie und spricht oder ruft laut ein langes Gebet, in welchem die Heiligen um Schutz für Mensch, Vieh und Alp angerufen werden:
Ave Maria!
Bhüet’s Gott und üser lieb Herr Jesus Christ,
Liber, Hab und Guet und Alles, was hie uma ist!
Bhüet’s Gott und d’r lieb heilig Sant Jöri,
Der wol hier ufwachi und höri!
Bhüet’s Gott und d’r lieb heilig St. Marti,
Der wol hier ufwachi und walti!
Bhüet’s Gott und d’r lieb heilig Sant Gall
Mit synen Gottsheiligen all!
Bhüet’s Gott und d’r lieb heilig Sant Peter!
Sant Peter, nimm den Schlüssel wol in die rechti Hand;
Bschliess wol den wilda Thiera ihra Gang,
Dem Wolf da Racha, dem Bära da Tatza,
Dem Rappa da Schnabel, dem Stei da Sprung,
Bhüet’s üs Gott vor einer bösa Stund,
Dass solchi Thierli mögen weder kratzen noch bissen,
So wenig als die falscha Juda üsa lieba Herrgott bschissa!
Bhüet’s Gott Alles hie in diesem Ring
Und die liebi Mueter Gottes mit irem herzallerliebsta Chind!
Bhüet’s Gott Alles hie in üsem Tal,
Allhie und überall.
Bhüet’s Gott und das walti Gott und das tue der liebe Gott!
Es macht dieses «Segensprechen» in stiller Nacht auf hoher Alp auch auf prosaisch und skeptisch angelegte Hörer einen tiefen und bleibenden Eindruck.
Nach einer gefälligen Mittheilung des Hrn. Pfarrer Brändle in Ragaz, Präsident der Section Alvier S. A. C., wird dieser Alpsegen ausser auf der Lasaalp noch auf der Alp Brändlisberg im Kalfeuserthal, auf Pardiel und einigen Alpen des Weisstannenthales gesprochen. Einen, abgesehen von etwas verschiedener Schreibweise, ziemlich genau übereinstimmenden Alpsegen gibt Dr. Ludwig Tobler für die Gegend von Sargans an. Die einzigen wichtigeren Abweichungen finden sich in den Zeilen von «St. Peter» an bis «Bhüet üs Gott», die im Sarganser Alpsegen lauten:
«Bschliess wohl dem Bären sein Gang,
Dem Wolf d’r Zahn, dem Luchs d’r Chräuel,
Dem Rappen d’r Schnabel, dem Wurm d’r Schweif,
Dem Stei d’r Sprung!
Bhüet üs Gott vor solcher bösen Stund.»
Kleine Verschiedenheiten im Alpsegen mögen wohl von Thal zu Thal vorkommen. Merkwürdig ist, dass nach Hrn. Pfr. Brändle’s Mittheilung der Senn, der den Alpsegen auf Brändlisberg, in voller naiver Andacht spricht, ein Protestant ist.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1888-89)

… Bei dieser Gelegenheit gerade noch eine andere Bemerkung, die sich auf eine Anmerkung auf Seite 47 des letzten Jahrbuches bezieht. Es wird dort gesagt, dass der allen Besuchern der Lasaalp wohlbekannte Alpsegen auch auf der Alp Brändlisberg, ferner auf Pardiel und einigen Alpen des Weisstannenthales gesprochen werde. Nach der Aussage Kohlers ist der Alpsegen im Kalfeuserthale auf sämmtlichen, wie er sich ausdrückte, katholischen Alpen üblich, und das sind meiner Kenntniss nach alle, mit Ausnahme der Eggalp, die der Gemeinde Sevelen gehört. Ob die Bemerkung Kohlers sich auch auf die den Bündnern gehörenden Alpen Sardona, Malans und Schräa bezieht, kann ich im Augenblick nicht sagen. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass der Alpsegen im Tersol, auf Panära und auf der Plattenalp üblich ist, auch auf der Ebene, wenn mich das Gedächtnis nicht täuscht.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1889-90)

Auf den Alpen des Sarganserlandes, hauptsächlich in den obersten Sässen derselben, wird nachstehendes Ave Maria gebetet, welches unzweifelhaft aus einer Zeit herstammt, da in unsern Gebirgen noch allenthalben Bären, Wölfe, Luchse und dergleichen hausten und da man sogar noch den Spuk eines Lindwurms oder Drachen befürchtete.
Die Alpknechte getrauen sich nicht, dieses Gebet auch nur einen einzigen Abend zu unterlassen. Der Senn oder einer seiner Gehilfen tritt, den Hut und den Hirtenstab in der Hand, vor die Alphütte auf eine Anhöhe und ruft mit lauter Stimme in die Nacht hinaus:
Ave Maria!
Bhüt’s Gott und unser lieb Herr Jesus Christ
Liber, Hab und Gut und alles, was hierum ist;
Bhüt’s Gott und der lieb heilig St. Jöri,
Der wohl hier ufwache und höri.
Bhüt’s Gott und der lieb heilig St. Marti,
Der wohl hier ufwache und warti,
B’hüts Gott und der lieb heilig St. Gall
Mit seinen Gottsheiligen all.
Bhüt’s Gott und der lieb heilig St. Peter.
St. Peter, nimm die Schlüssel wohl in deine rechte Hand,
Bschliess wohl uf dem Bären seinen Gang,
Dem Wolf den Zahn, dem Luchs den Kräuel,
Dem Raben den Schnabel, dem Wurm den Schweif,
Dem Stein den Sprung!
Bhüt’ üs Gott vor solcher böser Stund,
Dass solche Tierle mögen weder krätzen noch bissen,
Wohl so wenig, als die falschen Juden unsern lieben Herr Gott bschissen.
Bhüt’s Gott alles hier in unserm Ring
Und die lieb Mutter Gottes mit ihrem Kind.
Bhüt’s Gott alles hier in unserm Tal,
Allhier und überall.
Bhüt’s Gott, und es walte Gott, und das tue der lieb Gott!”
“Ave Maria” und die Rufe an die Heiligen werden dreimal gesprochen.

Ernste Mahnung: Einst beabsichtigte ein Senn, das Ave Maria nicht mehr zu beten und blieb deshalb um die bestimmte Zeit in der Hütte, wo er mit den andern Knechten des Gebetes spottete.
Da flog mit lautem Krachen die Hüttentüre auf. Es wollte sich aber niemand zeigen, der diese aufgemacht hätte, weshalb sie die Knechte wieder zuschlössen. So geschah es auch zum zweiten Male. Als der Senn beim dritten Male die Türe wieder schliessen wollte, sah er einen ungewöhnlich grossen Mann vor der Hütte stehen, der einen hohen, wackeligen Hut auf dem Kopfe trug und der ihn mit einer tiefen, wie aus der Ferne her tönenden Stimme also anredete: “Ich rate dir, unverweilt das Ave Maria zu beten!”
Zitternd und bebend gehorchte der Knecht. Der finstere Nachtwandler aber stand hinter ihm, schaute ihm während des Gebetes über die Achsel und sprach nachher: “Es ist dir guot chu, dass du kei einzigs Wort usglu häst; sust hätt ich dich verrupft wie ‘s Gstüpp in der Sunnä!” (Gstüpp, Stuppe heisst der Abfall des Werges beim Hanf. Gemeint sind wohl die leichten Nebel, die vor der Sonne weichen.)
(J. Natsch)
(Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen. Von J. Kuoni. St. Gallen, 1903)

Auf hoher Alp, wo die feindliche Wirkung der Elemente verstärkt zu Tage tritt, sehnt sich der Hirte, abgeschlossen von allem menschlichen Beistand und ohnmächtig gegenüber den vielen ihn umlauernden Gefahren, doppelt nach einer schirmenden Hand. Die Alpen werden kurze Zeit nach deren Bezug durch den Ortsgeistlichen benediziert, um Krankheit und Gefahr zu bannen. Auch wird dem Vieh vor der Alpfahrt Heu, das während des Läutens in der hl. Nacht vor das Haus gelegt worden, zu fressen gegeben, da solches schützende Kraft besitzt.
Ueberdies glaubt sich der Senn, angesichts der vielen feindlichen Gewalten, in der Weise des Beistandes überirdischer Helfer versichern zu müssen, das er durch den nachfolgenden Alpsegen (Betruf), durch das «Ave Mareïä» den Segen Gottes, den Schutz der Jungfrau Maria und der Heiligen herniederfleht auf Mensch und Vieh, auf Hütte und Matte, auf Grund und Grat.
«Ave Maria! Ave Maria! Ave Maria!
B’hüät’s Gott und über liäb Herr Jesu Christ
Lyber, Hab und Guät und alles, was hier umä-n-ist!
B’hüät’s Gott un-d’r heilig Sant Jöüri (Georg),
Där wohl hier ufwachi und höüri!
B’hüät’s Gott un-d’r heilig Sant Marti,
Där wohl hier ufwachi und warti!
B’hüät’s Gott un-d’r liäb heilig Sant Gall!
Mit synä Gottsheiligä-n-all!
B’hüät’s Gott un-d’r liäb heilig Sant Peïter!
Sant Peïter! Nimm dy Schlüssel wohl in dy rächti Hand,
Und b’schlüss wohl uf dem Bären syn Gang,
D’m Wolf d’r Zahn,
D’m Luchs d’r Chräuel,
D’m Rappen d’r Schnabel,
D’m Wurm d’r Schweif,
D’r Flug d’m Greif,
D’m Stei d’r Sprung!
B’hüät-is Gott vor solcher bösen Stund!
Dass solchi Tiärli mögen weder kretzen noch byssen,
So wenig, als die falschen Juden üsern liäben Herrgott b’schyssen!
B’hüät Gott alles hier in üserm Ring,
Un-die liäb Mueter Gottes mit ihrem Chind!
B’hüät Gott alles hier in üserm Tal,
Allhier und überall!
B’hüät’s Gott und das walti Gott, und das tuä d’r lieb Gott!
Ave Maria! Ave Maria! Ave Maria!
Der Betruf wird durchwegs in gleicher Tonhöhe gesprochen; nur ab und zu lässt der Betende seine Stimme um eine Terz oder Quart fallen. Der seltsam singende Tonfall erinnert lebhaft an die katholische Litanei. Wehe dem Sennen, der den Alpsegen zu rufen vergass, der sich des Gebetes halber nicht von Lust und Freude trennen wollte! Furchtbar lässt die Sage den Frevler büssen. Der reissenden Tiere, des Bären, Wolfes und Luchses ist andernorts Erwähnung getan worden. Der «Rappen» ist der Lämmergeier, der Schrecken der Schaf- und Ziegenherden. Dieser horstete nach Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Höhen des Sarganserlandes. Der «Wurm» und der «Greif» sind Lindwurm und Greif, die beiden durch die mittelalterliche Volksphantasie stark umrankten Fabelwesen. …
(Quelle: Volksbrauch und Volksglaube des Sarganserlandes. Von Werner Manz. 1916)

Postkarte Alpsegen Alp Schrina 1926

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