Weganlagen im Rätikon

Neuer Weg auf die Scesaplana.
Es wird oft und nicht ganz unberechtigt darüber geklagt, dass der Weg auf die Scesaplana von der Schweizerseite zu wünschen übrig lasse. Es fehlt freilich nicht an Wegmarkierungen und auch nicht am Unterhalt, denn beide werden vom Hüttenwirt Jost in der neuen, trefflich ausgeführten Scesaplanahütte mit viel Mühe und Aufopferung besorgt; dagegen liegt eben ein sehr grosser Teil des Weges in Geröllhalden, wo einem bei jedem Tritt der Weg unter den Füssen wegrutscht. Diesem Umstand ist es jedenfalls zuzuschreiben, dass der Auf- und Abstieg von der Schweizerseite im Verhältnis zur Gesamtfrequenz des Scesaplana wenig benutzt wird, was um so mehr zu bedauern ist, als diese Route vor derjenigen vom Lünersee den Vorteil fortwährender prachtvoller Aussicht hat.
Der rührige Hüttenwirt Jost und Hr. Ernst Seiler vom Hôtel Scesaplana in Seewis haben es sich nun zur Aufgabe gemacht, einen neuen bessern Weg von der Scesaplanahütte aus zu suchen, und zu diesem Zwecke schon letztes Jahr die Felswände des Alpsteines zwischen dem alten Schamellaweg und dem Schaftobel untersucht; sie haben nun ein Tracé für einen neuen Weg in der Hauptsache festgelegt. – Ich entschloss mich, bei meinem diesjährigen Besuch der Scesaplana am 26. Juli in Begleitung von Jost den Aufstieg in der neuen Richtung zu wählen und konnte konstatieren, dass sie sich zur Anlage eines Weges sehr gut eignet. – Man steigt von der Hütte direkt steil hinan über Rasen und kommt nach ca. 20 Minuten in die Felsen; dann geht’s über einige Felswände, die durch umfassende Sprengarbeiten leicht passierbar gemacht werden sollen, und schliesslich wieder fast ununterbrochen über solide, spärlich bewachsene Rasenbänder hinauf an den Gletscherrand, wo man bald in den Straussweg einmündet und auf diesem direkt auf die Spitze gelangt. Die Weganlage wird wegen der Sprengarbeiten und der Anbringung von Drahtseilen an einigen etwas schwindligen Stellen jedenfalls bedeutende Kosten erfordern, hat dann aber den Vorteil grosser Solidität und deshalb auch geringerer Unterhaltskosten; ausserdem wird aber, was nicht weniger angenehm ist, der Aufstieg von der Hütte auf die Spitze leicht in 2 Stunden zu machen sein, während er jetzt 2 ½ – 3 Stunden erfordert.
Wie man mir mitteilt, wird die Sektion Prätigau im nächsten Frühjahr mit dem Wegbau nach dem Projekt Jost-Seiler beginnen, wenn ihr wenigstens die notwendige Unterstützung von anderer Seite, namentlich dem Centralkomitee zu teil wird. Ich möchte deshalb den Anlass benutzen, ein allfälliges Beitragsgesuch beim Centralkomitee und, wo sonst angeklopft wird, warm zu empfehlen. Die unvergleichliche Aussicht von der Scesaplana ist es wohl wert, dass wir diese Spitze auch von der Schweizerseite aus leichter zugänglich machen. (Dr. O. S., St. Gallen)
(Quelle: Alpina 1900)

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Es dürfte noch wenig bekannt sein, dass Führer Jost in Seewis mit materieller Unterstützung der Sektion Prättigau S. A. C. im Laufe dieses Jahres mit vieler Mühe und grossen Kosten von der Schweizerseite aus einen neuen, interessanten Weg auf die Scesaplana erstellt hat, deren Gipfel von der Hütte aus leicht in drei Stunden erreicht werden kann (der Schreiber dies brauchte genau 2 ½ Stunden). Dies ist nun wohl der kürzeste und bequemste Weg, der auf diesen Prachtsberg mit seiner unvergleichlich schönen Aussicht führt, und er ist demjenigen über Bludenz-Brand-Douglashütte auch der viel geringern Kosten wegen vorzuziehen. Von der Station Seewis der Rhätischen Bahn gelangt man durch ein schönes Gelände in ca. 4 ½ Stunden zum neuen, ebenfalls von Führer Jost erbauten Scesaplanahaus in der Höhe von ca. 1900 Metern, das dem müden Wanderer je nach seinem Wunsche in guten Federbetten oder in dem für die Mitglieder des S. A. C. reservierten, reichlich mit Heu gefüllten Raume angenehme Unterkunft bietet. Diese Hütte, welche etwa 200 Meter tiefer liegt als die alte, nicht mehr existierende Schamellahütte, ist bequem eingerichtet und den Sommer über bewirtschaftet, so dass man darin zu ganz bescheidenen Preisen alles findet, was das Herz begehrt.
Mit dem Bau des Scesaplanahauses und der Erstellung des neuen, sogar an harmlosen Stellen mit Drahtseil versehenen Weges auf die Scesaplana, hat sich Führer Jost ein grosses Verdienst erworben, und es ist zu hoffen, dass dieser Berg von der Schweizerseite aus inskünftig viel mehr bestiegen wird, als es bis anhin der Fall war. Wer für den Abstieg nicht den gleichen Weg nehmen will, der traversiert den unschuldigen Gletscher, steigt das verlassene Schafloch hinunter zur Alp Fasons und von da über Stürvis-Fläscheralp nach Jenins-Maienfeld.
Wenn der neue Scesaplanaweg in jeder Beziehung musterhaft angelegt ist, so kann dies nicht vollständig vom sog. Enderlinweg auf den Falknis gesagt werden.
Sobald von einem Weg die Rede ist, bildet man sich ein, eine Anlage vor sich zu haben, die ohne besondere Schwierigkeiten und Gefahr von jedermann begangen werden kann, was zur Folge hat, dass sich auch unerfahrene und ungeübte Bergfreunde daran wagen, bei denen dann, wenn jene Voraussetzung nicht zutrifft, unsere Einrichtungen mehr oder weniger in Misskredit geraten, namentlich bei Fremden, die auf irgend eine Empfehlung hin und gestützt auf die sog. Weganlage einen Berg zu besteigen beabsichtigen. So war es der Fall bei nachstehender Begebenheit.
Als ich am 31. Juli, morgens 7 Uhr, bei starkem Föhn und Regen von der Falknishöhe zum Fläscherfürkli, 2237 m, niederstieg, fand ich in der Schäferhütte daselbst eine Familie aus Holland, bestehend aus zwei Herren und einer Dame, mit Führer, die eben von Bergün aus eingetroffen waren. Sämtliche Reisegefährten, mit Ausnahme des Führers natürlich, zitterten geradezu vor Angst und Schrecken über die bei diesem Wetter überwundenen Strapazen und Schwierigkeiten, und sie beteuerten, nie wieder im Leben sich einer solchen Gefahr aussetzen zu wollen, von der sie keine Ahnung hatten, indem sie sich eben auf den «Weg» verlassen hätten. Ich suchte die Leute so gut als möglich zu beruhigen und bemerkte, dass ich den nämlichen Weg, den sie gekommen, ins Thal zu steigen beabsichtige. Trotz der inständigen Bitte, dies des schlechten Wetters wegen doch nicht zu thun, habe ich diesen Abstieg doch probiert und bin, wie vor mir viele andere, gut durchgekommen. Immerhin sei hier bemerkt, dass an denjenigen Stellen, wo über ziemlich steil abfallende Steinplatten «gerutscht» werden muss, eine Verbesserung des angeblichen Weges durch Anbringung von Sicherheitsvorrichtungen (Drahtseil etc.) am Platze wäre. Meines Erachtens liessen sich auch diese einzigen etwas schwierigen Stellen umgehen durch Benützung eines Rasenbandes, was allerdings ziemlich viel Arbeit erfordern würde. Für geübtere Bergsteiger und bei gutem Wetter ist der Weg im allgemeinen harmlos; derselbe wird aber weit mehr von unkundiger Seite benützt, und es scheint mir daher im Interesse der Sicherheit und des guten Rufes unserer alpinen Weganlagen zu liegen, wenn etwas gethan wird.
Es ist mir nicht bekannt, ob dieser Teil des Rhätikon der Aufsicht der Sektion Rhätia oder Prättigau des S. A. C. untersteht; vielleicht nimmt die eine oder andere Veranlassung, den Weg vom Fläscherfürkli bis Bergün, also thalwärts, begehen zu lassen, und der betreffende wird finden, dass Verbesserungen nicht überflüssig wären, wozu sich Führer Enderlin gewiss gerne entschliessen wird. (E. Rüetsch, Sektion Randen)
(Quelle: SAC Jahrbuch 1901)

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… Ankunft im neuen Scesaplanahaus. Daselbst soll sich eine stattliche Zahl Gäste eingefunden haben, darunter auch Herr Dr. Bosshard, Centralpräsident des S. A. C., da am folgenden Tag, also am 1. September ((1901)), der neue prächtige Weg, welcher von privater Seite aber mit Unterstützung des S. A. C. auf die Scesaplana angelegt worden war, kollaudiert wurde. Am meisten mag der Wirt geschmunzelt haben über die Thatsache, dass vielen Gästen das Geld locker in der Tasche gesessen …
(Quelle: Alpina 1902)

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… Was nun den Weg auf den Falknis betrifft, so haben wir denselben vor mehreren Jahren begangen und für durchaus ungefährlich und unschwierig gehalten. Ob er nicht überall in gutem Stand erhalten worden ist, wissen wir nicht; dass er bei schlechtem Wetter nicht begangen werde, ist allerdings ungeübten Bergsteigern sehr ans Herz zu legen. Im übrigen heben wir ausdrücklich hervor, dass Enderlin aus Maienfeld den Weg ganz auf eigene Kosten erstellt hat, und dass er gewiss alles thut, um das Begehen desselben zu einem sichern zu gestalten. (E. W.)
(Quelle: SAC Jahrbuch 1901)

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Vom Falknis. Von der Lichtensteiner Seite her ist eine Weganlage zum Falknis ausgeführt worden. Von Triesen bei Vaduz führt schon seit einigen Jahren eine interessante Bergstrasse in 3 Stunden zur Alp Lavena (1500 m), wo eine Unterkunftshütte mit Wirtschaft eingerichtet ist. Von hier führt nun eine neue Weganlage in 2 – 3 Stunden zur Falknisspitze.
Von Lavena führt auch ein neuer Weg über den Rappenstein ins Saminatal zur Alpe Sücca und nach Gaflei.
Auch der Naafkopf im Rhätikon kann jetzt infolge einer neuen Weganlage über das Vermalesjoch von der Lichtensteiner Seite her leicht erstiegen werden.
(Quelle: Alpina 1903)

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Im Hinblick auf die intensiven Bestrebungen, den Zugang zur Rhätikonkette von der Vorarlberger Seite aus immer mehr zu erleichtern, mussten wir die Bestrebungen der Sektion Prättigau, den südlichen Zugang zur Scesaplana und zum Lünersee zu verbessern, unterstützen. An die Erstellungskosten eines diesem Zwecke dienenden Weges von der Schuderser Maiensäss nach Colrosa hat deshalb das Zentralkomitee einen Beitrag von 50%, im Maximum Fr. 150, bewilligt.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1904-05)

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Es war am Abend des 13. Oktober, als wir dem Bergdörfchen Schuders zustrebten. Das Wetter sah bedenklich aus. Die Berge ringsum wickelten sich allmählich in graue Watte und jedermann, der uns begegnete, prophezeite Regen. Um 7 Uhr erreichten wir die Pension «Schweizertor» und bald entwickelte sich ein gemütliches «Hüttenleben» bis hinab gegen Mitternacht.
Gegen Morgen nahm der Himmel wieder ein etwas freundlicheres Gesicht an. Ein Viertel vor sechs Uhr verliessen wir das «Schweizertor», Richtung Schweizertor. Bald entdeckten wir im Wege frische Hirschspuren und im Vorderälpli konnten wir denn auch zwei prächtige Exemplare dieses edlen Hochwildes beobachten.
Vom Stafel der Grüscher Alp ging es in steilen Kehren hinan gegen den Obersäss Heidbühl. Oberhalb der Alpgemächer, hinter einem riesigen Stein, kauert die neue Schutzhütte. Es ist eine Unterkunftshütte für Touristen, am neuen Wege von der Garschinafurka zum Schweizertor gelegen. Sie enthält nebst Feuerstelle und Esstischchen ein Heulager für acht Personen.
Hier trafen wir mit dem Bauunternehmer, Herrn Bergführer Andreas Flütsch aus St. Antönien, zusammen. Nachdem uns Herr Flütsch einen duftenden Kaffee serviert hatte, stiegen wir hinauf zur Schüsshöhle. Dieselbe liegt etwa eine Stunde oberhalb der Hütte, in der westlichen Hälfte der Drusenfluh. Der Zugang, der keineswegs schwierig, aber nicht leicht zu finden ist, soll jetzt markiert werden.
… Zur Schutzhütte zurückgekehrt, begingen wir den neuen Weg von Bregez bis zum Schweizertor. Vor einigen Jahren schon hat die Sektion Prätigau S. A. C. von St. Antönien aus zum Drusentor einen Weg erstellt, welcher viel begangen wird. Wollte man jedoch von St. Antönien aus zum Schweizertor und weiter zum Lünersee und auf die Scesaplana, oder umgekehrt, so musste man einen mehrstündigen Umweg machen über den Öfenpass jenseits der Drusenfluh. Ein direkter Weg über Schweizergebiet zum Schweizertor wurde immer mehr Bedürfnis. So beschloss die Sektion Prätigau S. A. C. im Herbst 1905 auf Anregung des Kurvereins St. Antönien, einen Weg zu erstellen von der Garschinafurka über Bregez zum Schweizertor.
Herr Bergführer Flütsch von St. Antönien hat die Arbeit übernommen und ca. ¾ derselben bereits ausgeführt. Die Strecke vom Schweizertor bis Bregez ist fertig erstellt; bleibt die Witterung noch einige Zeit günstig, so wird auch die letzte Strecke noch im Jahr 1906 vollendet werden. Die Erstellung des Weges war mit grossen Schwierigkeiten verbunden, da mächtige Schutt- und Geröllhalden traversiert und verschiedene Felspartien gesprengt werden mussten. Der Unternehmer hat jedenfalls keine glänzenden Geschäfte gemacht, um so weniger, als Arbeiter nur mit Mühe und um grossen Lohn erhältlich waren. Trotzdem hat Flütsch die Arbeit zur vollen Zufriedenheit ausgeführt. Die ganze Linie vom Schweizertor bis zur Einmündung in den Drusentorweg beträgt etwas über 6 km und weicht nur wenig von der Horizontalkurve ab.
Vom Schweizertor gingen wir dann übers Verrajöchli zum Lünersee. Dabei konnten wir ganz in der Höhe ein Rudel Gemsen beobachten. Fünf davon stiegen auf «ungebahnten» Pfaden hinauf zu den Kirchlispitzen, während ein alter Bock, in mächtigen Sätzen die Schutthalden traversierend, sich dem Scesaplanamassiv zuwandte.
Ueber Lünereck oder Cavelljoch erreichten wir wieder Schweizerboden und wanderten dann über Collrosa-Steinhüttli nach Schuders-Schiers. Die ganze Wanderung, die Pausen abgerechnet, erforderte eine Marschzeit von 11 ½ Stunden. (Th.)
(Quelle: Alpina 1907)

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Der von der Sektion Prätigau S. A. C. kürzlich erstellte Weg vom Schweizertor zur Garschinafurka (ob St. Antönien) bietet Gelegenheit zu einem sehr lohnenden, prächtigen Gebirgsspaziergang. Er zieht sich in einer Höhe von ca. 2000 Meter am Südabhang des Rätikon durch schöne Alpen und wilde Schuttpartien sozusagen eben dahin; stetsfort hat der Wanderer einen schönen Blick auf das nähere interessante Gebiet und auf ein grosses Stück der Gebirgswelt im Süden, Osten und Westen. Die Sektion Prätigau verdient für diese Arbeit grosse Anerkennung. Sie hat damit einem weitern Publikum eine Gebirgspromenade eröffnet und zugleich die Verbindung zwischen den beiden vielbesuchten Klubistenstationen St. Antönien einer- und Scesaplanahütte und Lünerseehütte andrerseits wesentlich verbessert. Um das Werk zu vollenden und zu krönen, sollte sie nun auch noch zwei Fortsetzungen erstellen: vom Schweizertor zur Scesaplanahütte, damit auch diese Partie gangbarer wird, und ferner von der Garschinafurka nach Partnun hinunter (ein markiertes Weglein führt einstweilen nur nach St. Antönien-Platz), dem stillen, wilden Alpentälchen mit seinen schönen Aussichtsbergen. Fiat!
Wenn diese Verbindung erstellt ist, können alle die, denen die Spitzenerklimmung versagt ist, die aber doch gern im Gebirg wandern, ohne Bedenken die schöne Tour Scesaplanahütte – St. Antönien machen. Die Scesaplanahütte verdient den Namen einer gutgelegenen Klubhütte und eines von Bergführer Jost gut und preiswürdig geführten Alpenwirtshauses. Sie verfügt über gute Betten sowohl als über Heulager. Wer sich nicht bewirten lassen und kein Bett beanspruchen will, der kann es ungeniert tun; wer es aber anders haben will, hats auch nicht schlecht. – Wünschenswert ist, dass die Gäste dem Wirte die Durchführung der Polizeistunde und Nachtruhe nicht erschweren.
(Quelle: Alpina 1907)

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Die intensiven Bestrebungen der betreffenden Sektionen des D. & Ö. A. V., durch Hüttenbauten und Weganlagen den Zugang zu den Bergen des Rhätikons von der Nordseite aus zu erleichtern, nötigen die Sektion Prättigau, auch die Wegverhältnisse auf der Südseite stetsfort nach Möglichkeit zu verbessern. Nachdem schon in den letzten Jahren daselbst umfangreiche Wegbauten und Wegverbesserungen zur Ausführung gelangt sind, hat die Sektion Prättigau beschlossen, pro 1907 einen Fussweg von Colrosa aus zur Scesaplana und eine Abzweigung von dem letztes Jahr erstellten Schweizertorweg nach Partutts zu erstellen, wofür das Zentralkomitee seine finanzielle Mitwirkung zugesagt hat.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1907)

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Sektion Pfannenstiel. Am 7. April verschied im Alter von 66 Jahren in Seewis i. P. der Bergführer Andreas Jost, der Wart unserer Clubhütte am Scesaplanahang. … Seit der Erstellung der Scesaplanahütte war fürderhin Jost während der Sommermonate «droben» zu Hause und unzählige Berggänger haben bei ihm willkommene Unterkunft gesucht und gefunden. Er war aber nicht nur ein fürsorglicher Gastwirt, sondern dem unkundigen Wanderer auch ein getreuer Führer. … gab es in seinem Sportsgebiet keinen Weg und keinen Steg, den er nicht kannte, und mehrmals holte er führerlose, unvorsichtige Touristen, die sich in den Felsen des Scesaplana verirrt und beschädigt hatten, in finsterer Nacht und tiefem Schnee als Lebensretter herunter. Viel getan hat Jost für die Wegverhältnisse, speziell im Scesaplanagebiet. So hat er die Wege nach der Lüneregg und der kleinen Furka auf eigene Kosten ausgeführt, und durch die Erhaltung des kunstvoll angelegten Pfades auf die Scesaplana erleichterte er manchem den früher nicht ungefährlichen Aufstieg zur aussichtsreichen Warte. Keine Mühe und Arbeit scheute er, wenn ein «Schmeissregen» oder die Schneeschmelze die gut hergerichteten Wege wieder zur holperigen Wasserrinne umsetzte, mit Schaufel und Pickel korrigierte und revidierte er immer wieder. Recht schalkhaft wies er jene Touristen zurecht – ob mit Goldzwicker oder Ketten behangen, war für ihn gleich – die sich den Weg auf die Scesaplana als ein Boulevard vorgestellt hatten und sich bei ihm über die erlebte Enttäuschung beklagten. … (Oe.)
(Quelle: Alpina 1919)

Papa Enderlin: Falknisweganlage und Enderlinhütte

Alpina 1895
Führerwesen.
Neupatentierte Führer der Sektion Rhätia: …. Johann Peter Enderlin, Maienfeld, ….

Alpina 1896
Die Sektionstour auf den Falknis, 14. Juni 1896, hatte eine besondere Veranlassung. Bergführer Fortunat Enderlin Vater, Bünte-Maienfeld hat vor einigen Jahren von Maienfeld auf den Falknis auf eigene Initiative einen Weg erstellt.
„Der Falknis, 2566m, ist eine der schönsten Bergformen Bündens und vielleicht der ganzen Schweiz. Scharf geschnitten, in verwegenen Umrissen steigen seine Kanten und turmartigen Hörner auf. Wald und Rasenbänder unterbrechen die grauen kahlen Felsen, und die Spitze ziert den grössten Teil des Jahres glänzender Schnee. Abends, wenn die Sonne sinkt, färbt sich das alles mit glühendem Rot.“ (Theobald)
Auf diesen herrlichen Berg hat Vater Enderlin mit viel Mühe und Arbeit einen Weg gegraben, von dem Imhof im Itinerar sagt: „Dieser Weg ist der kürzeste, aussichtsreichste und der beste. Gute Gänger können auf ihm leicht von Maienfeld aus in fünf Stunden die Spitze erreichen.“ Für die Erstellung dieses Weges sowie für den jährlichen Unterhalt hat Enderlin jede Entschädigung mit der ihm eigenen Energie zurückgewiesen. „Ich habe den Weg erstellt, weil ich in meinem langen Leben auf den Bergen so viele glückliche Stunden und Tage verlebt und weil ich andern diese Freude auch gönnen mag.“
Man hat ihm dafür eine Anerkennungsurkunde in Farbendruck erstellen lassen und übergeben.
„Die Sektion Piz Sol des Schweizerischen Alpenclubs widmet Bergführer Fortunat Enderlin in Maienfeld in dankbarer Anerkennung seiner uneigennützigen Verdienste als Bergführer, sowie seiner aufopfernden Thätigkeit in Erstellung des Falknisweges dieses Gedenkblatt, begleitet von den besten Wünschen. Maienfeld, August 1893. Namens der Sektion Piz Sol, der Präsident: Dr. Max Franz.“
Enderlin erklärte aber, diese Urkunde freue ihn erst recht, wenn die Sektion Piz Sol den Weg selber in Augenschein genommen und begangen habe. Das ist nun endlich geschehen.
Samstag 13. Juni, abends 6 ½ Uhr wurden die bergfreudigen Clubisten der Sektion Piz Sol vom Vater Enderlin auf der Station Maienfeld in Empfang genommen. Bei seinem Haus in der Bünte kredenzte uns Elly, Enderlins schöne Enkelin, einen Willkommenstrunk seines ausgezeichneten selbstgezogenen Weins. Auch Johann Peter Enderlin Sohn kam mit uns. In zwei Stunden waren wir bei den Heuschobern Bargün, 1462m. Nach kaltem Nachtessen schliefen wir im Wildheu warm und weich wie Munken. Nur der deutsche Herr, der von Ragaz aus mitgekommen war, sagte am Morgen: „Geschlafen habe ich nicht, aber schnarchen gehört habe ich.“ Das war wohl das fröhliche Murmeltier? – Morgens 3 Uhr Tagwacht. Präsident und Führer kochen eine kräftige Knorrsuppe, die allen schmeckte. Photographische Aufnahme von den Bargün. Um 4 Uhr Abmarsch, Vater Enderlin mit seinen 72 Jahren voran in einem Tempo, das uns Jungen Beine und Lungen auf eine harte Probe stellte. Durch die Wildheuplätze bis unter die Türme, zwischen grossem Similaturm und kleinem Gleckhorn mit den wunderzierlichen Gesteinsfalten hinauf ins Fläscherfürkli. Ob dem Schäferhüttli erste Rast, 6 Uhr 15 Minuten bis 7 Uhr 3 Minuten, essen, trinken, photographieren. Der deutsche Herr blieb hier ermüdet zurück. Über tiefen tragenden Schnee auf die Falknishöhe, an 7 Uhr 40 Minuten. Rede des Präsidenten, offizielle Anerkennung des von Fortunat Enderlin erstellten Weges, der zu seiner Ehre für und für Enderlinweg heissen soll. Ein aus aller Herzen kommendes Hoch und Vater Fortunat Enderlin schallte über Berg und Thal.
Aussicht prachtvoll. Die ganze hohe und hehre, nahe und ferne Firnenwelt um uns, und unter uns in milden Farben das Rheinthal von Chur bis zum Bodensee, das Seezthal und Lintthal bis zum Wallensee und Zürichsee und das Prättigau mit seinen waldigen Seitenthälern. Die Alpenseen des Fläscherthals waren noch zu; nur der unterste öffnete verschlafen ein wenig sein blaues Äuglein.
Tiefblauer Himmel, Windstille und warmer Sonnenschein und den kleinlichen Plagen des Alltagslebens entrückte glückliche Menschenkinder mit gehobenen menschenwürdigen Gefühlen. Sonntag auf den Bergen, sonniger wonniger Sonntag. Hier verstehen wir Uhlands Sonntagslied: „O süsses Graun, geheimes Wehn. Der Himmel nah und fern, er ist so klar und feierlich, so ganz, als wollt‘ er öffnen sich“; und Kapuziner Zwyssigs Schweizerpsalm: „Trittst im Morgenrot daher“; und Gottfried Kellers: „O mein Heimatland, o mein Schweizerland“; und Bergführer Mettiers „Heimweh“, als er das erste Mal allein auf dem Piz Kesch war, und den alten Enderlin, der still in die Welt hinausschaut. Wir verstehen uns. „Ich habe keinen Namen dafür. Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut.“
Nach langem genussvollen Verweilen, photographischen Aufnahmen, Einschreiben ins Gipfelbuch, musste von der Falknishöhe geschieden sein. Vater Enderlin legte Schwingerhosen an, und er, der 72jährige, machte uns einen Schneeritt vor, vor dem sich mancher überbedächtige Clubist entsetzt hätte. Der Schnee war aber auch wie gemacht zum Abrutschen. Über den alten tiefen Schnee eine neue weiche Schneeschicht ging es glatt und flott, ohne dass eine Hose zu Schaden kam. Der zurückgelassene deutsche Herr wurde im Fläscherfürkli abgeholt. Das Schneerutschen ins Fläscherthal wurde fortgesetzt. Bei den dieses Sports Unkundigen kam es zu possierlichen Purzeleien, „Donnerwetter“. Doch bald entschädigten die von den wenigsten Touristen gekannte Frühflora der Berge und einige leibhaftige Gemsen, „die müssen ins Protokoll, Herr Aktuar“, für das ausgestandene Ungemach, und alles war wieder gut.
Zwei der Gesellschaft erklommen noch das kühn aufstrebende Gleckhorn, 2451m. Wie von einem Ballon aus liegt die Bündner Herrschaft unter uns, jedes Haus, jeder Garten, jedes Weglein deutlich erkennbar. Neckische Nebelchen stiegen die Felswand herauf, umgaukelten und hüllten uns zeitweise ein. „Schweben wie Adler, vom Äther umschwommen, über den Wolken und über dem Wind, heia!“ Auf einen so luftigen Zacken zieht es euch nicht auch, fühlt ihr euch nicht versucht zu fliegen, wie wir es im Traum ja können? Eine Vererbung von geflügelten Ahnen, oder ein Ahnen von einer Entwicklung unseres Geschlechts zu einem neuen Geschlecht mit Flügeln, zu Formen, wie Phantasie und Künstler sie längst schufen? Von Darwins fledermausflügeligen Sauriern des alten Jurameers, dem dieses Riff entragte, bis zu Deschwandens und Murillos Engelsgestalten mit Federfittigen? Fliegen möchte‘ ich hinüber. Dort ist St. Pirminsberg.
Wir konnten uns fast nicht trennen von dieser hohen Warte. Auf dem Rückweg bot sich uns eine steile ununterbrochene Rutschbahn von der Höhe des Gleckhornkamms bis zur Tiefe des Fläscherthals. Um den Neuschnee vor uns in Bewegung zu setzen und von ihm nicht bedeckt zu werden, wälzten wir einige grosse Steine hinab. Dann wagten wir’s und machten eine Fahrt gegen 1000m Länge und 500m Fall in wenig Minuten in einem Flug, wie es schöner nicht hätte sein können. Es giebt Leute, sogar Clubisten, die über das Abrutschen nur Worte der Missbilligung, wie „jugendlicher Übermut“, „sträflicher Leichtsinn“ und dergleichen haben. Es kommt doch noch darauf an, wie und wo. Vor allem bedarf es auch dazu der Erfahrung und richtigen Beurteilung der mannigfachen Verhältnisse. Ein Abrutschen über eine steile, mit neuem oder nassem Schnee bedeckte Grashalde oberhalb Felsabstürzen ist ungleich gefährlicher, als über einen mit tiefem Schnee bedeckten Schuttkegel. Bei Neuschnee muss man sich hüten, vom mit- und nachrutschenden Schnee bedeckt zu werden; immer obenauf bleiben und Füsse frei behalten. Abrutschen im Nebel ist bedenklich, ausser an ganz bekannten Orten. Nur tiefer Schnee eignet sich zum Abrutschen. Bei einer dünnen Schneedecke könnte man sich an Steinen oder Stumpen schädigen. Harter Schnee, z.B. Lauenschnee und schnorziger Schnee sind zum Abfahren weniger gut. Der Bergstock eignet sich der Länge wegen besser zum Abfahren als der Pickel, mit dem man sich zudem beim Überschlagen schwer verletzen könnte. Stock oder Pickel nie zwischen die Beine nehmen. In tiefem weichem Schnee darf man absitzen, wenn man extra Hosen, z.B. solche mit Lederbesatz hat, im harten Schnee aber nicht. Gegen das Ende eines Schneefeldes immer die Geschwindigkeit mässigen, weil es unten vom Schmelzwasser meistens Eis hat und das plötzliche Anhalten auf schneefreiem Boden einen Sturz unvermeidlich macht, wobei an steinigen Orten der Schädel zu Schaden kommen könnte. Doch genug der prosaischen Rutschtheorie.
Mächtige Massen Schnee lagen noch in den Hochalpen. Auf dem Oberstaffel der Fläscheralp war der eine Schopf noch ganz unsichtbar, und der andere guckte erst mit seinem Frontgiebel ein wenig hervor. Also Schneetiefe 3-5m.
Hinaus über die blendende Fläche mit blumigen Inseln voll blühender Azaleen, Anemonen, Androsaceen, Aurikeln, Primeln, Seidelbasten, Soldanellen, Gentianen, Veilchen, Ranunkeln usw. Sprudelnde Quellen, Durstesqualen stillend. Spuren von Rehen und Hirschen, eines grossen und eines kleinern, aber auch bleichendes Gebein eines dem Hunger, den Elementen oder einer Wunde erlegenen Hirsches. Memento mori. – Hinaus ins ergrünende Stürvis mit seinen roten Felswänden und dem breiten weissen Silberband des Jesbaches. Stürvis, das verschwundene Dorf mit seinen sinnigen Sagen von Liebe und Treue, von Oswald und Elly, vom Seewiser Jüngling und seiner Montavoner Spusa. Hinaus über gewaltige Lauen, über rauschende Bäche riesige Brücken bildend, und über vom Wind und Schnee geworfene Tannen ins verschüttete Ganei, Geschichten von Kriegsgetümmel in den Gebirgen gedenkend. Aus den Ruinen des von den Österreichern 1799 zerstörten Bades grünen mächtige Bäume empor. Die Heilquelle mit ihren wunderbaren, Leben weckenden Wirkungen werde wieder gefasst und nach Seewis geleitet. Über die neugebaute Brücke auf neuem weichem Weg durch Wald und Wiesen über rauschende Wasser hinaus ins windgeschützte sonnige Seewis, ins Hotel Scesaplana zu Genüssen der Kulturwelt.
Pardisla Maienfeld, leb wohl, Vater Enderlin, auf Wiedersehen! (Johann Baptist Stoop)

Jahrbuch 1896-97
Sektion Piz Sol. Sektionstouren: …. Falknis, offizielle Anerkennung des Enderlinweges, …

Alpina 1901
Sektion Piz Sol. … Drüben am rechten Ufer des Rheins grüsst der Falknis herüber nach Ragaz; neben ihm die steilen Wände des Gleckhorns. – Für Touristen untrennbar vom Namen Falknis ist der Name Enderlis. Die Weganlage des greisen und noch so rüstigen Führers ist ein Muster in ihrer Art, und das von ihm nach Art einer Clubhütte erstellte Bargün-Häuschen (1400 m ü. M.) nimmt gastfreundlich den müden Wanderer auf. …

Jahrbuch 1903-04
Sektion Piz Sol. … Nicht vergessen wollen wir auch in unserm Jahresbericht des Führerveteranen Herrn Fortunat Enderlin in Maienfeld, der kürzlich seinen 80. Geburtstag feierte und dessen Rüstigkeit und froher Sinn noch beredtes Zeugnis gibt von dem Jungbrunnen der Bergsteigerei.

Jahrbuch 1914-15
Von einer Lawine in die Tiefe gerissen und mitsamt dem ganzen Hüttendörfchen Bargün vernichtet wurde ferner im Frühjahr 1914 die Enderlin-Hütte am Falknis. Sie war kein Aktivum im Immobilienkonto des S. A. C., sondern Privateigentum von Bergführer Enderlin in Maienfeld, der diesen für die Falknisbesteigung wichtigen Stützpunkt den Mitgliedern des S. A. C. seit vielen Jahren unentgeltlich zur Verfügung gestellt hatte. Mit der Registrierung dieses bedauerlichen Vorkommnisses verbinden wir den herzlichsten Dank an Papa Enderlin für die unsern Mitgliedern so oft und so gern erwiesene Gastfreundschaft.

Alpina 1915
Falknishütte. Vom 10./11. Januar 1914 ist die «Enderlinhütte» am Falknis durch eine mächtige Lawine weggefegt worden. Bergführer J. P. Enderlin, Sohn des bekannten alten Bergführers, hat nun ca. 50 m weiter oben, auf aussichtsreicher Warte, eine neue gemütliche Unterkunft erstellt. Das neue Heim ist in Rundholz aufgeführt und inwendig gut ausgetäfert. Die Pritsche, mit duftigem Bergheu und Decken versehen, bietet Raum für 10 – 12 Personen. Kocheinrichtung und das nötige Koch- und Essgeschirr sind vorhanden. Enderlin stellt die neue Unterkunft gleich wie früher die alte allen Touristen zur Verfügung. Für das Uebernachten ist pro Person eine Taxe von 50 Cts. und für die Benützung der Kocheinrichtung tagsüber, also ohne Uebernachten, eine solche von 10 Cts. in die Hüttenkasse zu legen. Holz ist genügend vorhanden.
Ich möchte bei diesem Anlasse die Sektionen, welche s. Z. an der Besprechung in Maienfeld vertreten waren, ersuchen, dem Erbauer die damals votierten Beiträge zukommen zu lassen. Enderlin hat da eine Unterkunft geschaffen, an der jeder Clubist seine Freude haben wird.
(R. T., Rhätia S. A. C.)

Alpina 1915
Falknishütte (Enderlihütte) 1500 m.
ca. 3 Std. ob Maienfeld od. Ragaz. Bundesfeier 1. Aug. 1915.
Die Sektion Kamor hatte auf diesen Tag eine Sektionstour auf den Falknis (2566 m) auf dem Programm; dieselbe ist ausgeführt worden, um die Bundesfeier auf dieser Hütte feiern zu können. Zu allgemeinem Erstaunen fanden sich nebst dem Besitzer der Hütte, Herrn Enderli jun., 65 Jahre alt, auch noch dessen Vater, 92 Jahre alt, ein, früher Bergführer und Ersteller des nach ihm genannten Wegleins auf den Falknis. Vater Enderli bezeugte grosse Freude ob unserm vaterländisch gesinnten Vorhaben und er fügte hinzu, dass er diesmal wohl das letzte Mal auf dieser Höhe Bundesfeier halte; denn gar steil und anstrengend sei der Weg auf die Falkniswand. Die Freude wurde noch grösser, als wir die kleine, recht heimelige Hütte lange rot und grün bengalisch beleuchteten, aber auch einen wackern Funken haben wir mit Herrn Enderli jun. angezündet, welcher weithin sichtbar sein musste und Zeuge war, dass wir das hehre Schweizerland hochhalten. Dem Vater Enderli aber mögen noch viele Jahre beschieden sein. Die Hütte ist ein Ideal im Sinne des S. A. C.
(Tobias Dierauer, Berneck)

Alpina 1918
Totenliste.
Anfangs Mai starb in Maienfeld der bekannte Bergführer Fortunat Enderlin im Alter von 93 Jahren. Der Verstorbene hatte eine ausserordentliche Liebe zu den Bergen und verstand es auch, andere für die Berge zu begeistern. In seinem edeln Streben baute er ganz allein, auf eigene Kosten, einen Weg zu den Wänden des Falknis hinauf und richtete eine Heuhütte auf den sogen. Bargün als Clubhütte ein. Selten hat ein Mann aus dem Volke den Bergen soviel Freude abgewonnen.

Alpina 1919
Totenliste.
In Maienfeld starb der bekannte Bergführer Enderlin, über welchen in der «N. Z. Z.» folgendes berichtet wird: Das Falknisgebiet hat durch den in den ersten Tagen des neuen Jahres erfolgten Tod des in weiten Kreisen der schweizerischen Touristen rühmlichst bekannten Bergführers Joh. P. Enderlin einen schweren Verlust erlitten. In den sonnigen Maitagen des vergangenen Jahres wurde sein Vater, der um seine Heimat verdiente Bergführer Fortunat Enderlin, nach vollendeten 94 Lebensjahren auf dem Friedhof in Maienfeld zur letzten Ruhe gebettet, und schon heute folgte ihn sein Sohn und Nachfolger im Bergführergewerbe im Tode nach. Eine Grippe-Lungenentzündung hatte den 67 Jahre alten, scheinbar felsenstarken Mann geknickt. Auch sein Verdienst ist die durch Weg- und Hüttenanlagen erweiterte Erschliessung des Falknisgebietes. Zu früh ist der bleiche Tod an den begeisterten Freund seiner schönen heimatlichen Berge herangetreten. Seine Freunde werden den treuen, zuverlässigen Bergführer in Andenken bewahren.

Alpina 1922
Enderlinhütte.
Die Sektion Piz Sol hat die Touristenunterkunft am Falknis, bekannt unter den Namen «Enderlinhütte», käuflich erworben und hält sie für die Mitglieder der andern Sektionen zu den gleichen Bedingungen wie für Sektionsmitglieder offen.
Die Hütte wurde 1914 vom verstorbenen Bergführer Enderlin in Maienfeld erstellt. Sie liegt auf ca. 1450 m Höhe bei den sog. «Bargün» am Südhang des Falknis, ist von Ragaz und Maienfeld in 3 Stunden auf rotweiss markiertem Wege zu erreichen. Das Hüttchen bietet 10 Personen Raum zum Schlafen und dient der Besteigung des Falknis, Schwarzhorns und Gleckhorns.

Aus dem Hüttenbuch der alten Enderlinhütte:

Übernahme und 1tes Betriebsjahr 1922.
Viel Berühmtes ist in unserm neuen Bergheim nicht passiert.
Die Hütte wurde damals in dem Zustande übernommen wie sie sich zeigte.
Über die Besucherzahl im vergangenen Sommer können wir nicht mit sorgfältigem Aktenmaterial aufrücken, da das Hüttenbuch zu verschiedenen Malen von unbekannten Händen verschleppt wurde. Ebenfalls ist aus dem Bestand der Kasse kein Schluss zu ziehen, da dieselbe 3mal aufgebrochen wurde und der Inhalt derselben in fremde Hände wanderte.
Hingegen können wir das sagen, dass sie immer mehr als Touristen-Unterkunftsort benützt wird.
Um den Unfug der Beraubung der Kasse zu steuern ist beabsichtigt eine einbruchssichere Kasse zu montieren.
Ebenfalls wird diesen Frühling neues Heu, zur Hebung des Confortes und zur Beseitigung der beissenden Zustände, hinauftransportiert.
Hoffen wir auf einen etwas besseren Sommer.
(Der Hüttenchef: Steiner Emil)

Eintrag vom 29./30. Mai 1929
Hütten-Inspection und -Restaurierung. Das Hütten-Inventar erneuert um:
6 neue Wolldecken
1 Verbandskiste mit nötigen Medikamenten
6 Suppenteller
6 Tassen
6 Gläser
6 Esslöffel
6 Gabeln
2 grosse Milchkrüge
1 Suppenschöpflöffel
Die fehlende Fensterscheibe und Axt ersetzt.
2 Aschenbecher und 2 Pfannenribeli, Lappen für Geschirr
Die Hüttenbesucher werden gebeten mit dem Hüttenmaterial sorgfältig umzugehen, sowie die vorgeschriebenen kleinen Hüttentaxen einzuzahlen, umsomehr ja der Ertrag, der zur Verbesserung der Hütte verwendet wird, wieder den Hüttenbesuchern zu gute kommt.
Da für Brennholz nichts kassiert wird, sind die Hüttenbesucher gebeten, den Brennholz-Vorrat nach Möglichkeit zu ergänzen.
(Hans Dové S.A.C. Piz Sol Obmann der Enderlinhütte Ragaz)

Eintrag 10./11. Oktober 1931:
Bei der Hüttenkontrolle am 10./11. Oktober musste leider konstatiert werden, dass neuerdings 3 neue Decken fehlen. Es sind von den 12 neuen Decken nur noch 3 vorhanden.
(Hüttenobmann: Fritz Schwendener)

11. Oktober:
Um 1 Uhr vom Falknis via Gyr zurück, und noch Holzvorrat erneuert.
Jeder Besucher sollte es sich zur Ehrenpflicht machen, bei trockenem Wetter den Holzvorrat so viel als möglich zu ergänzen.

Eintrag 22. November 1931:
Hüttenkontrolle. Hütte für den Winter hergerichtet.
Pro 1931 laut Bucheintrag total 181 Besucher, davon 36 SAC Mitglieder und 8 Junioren
(Fritz Schwendener, Maienfeld, SAC Piz Sol)

Eingebundener Zettel:
An die Besucher der Enderlinhütte:
Die Art und Weise, wie das Hüttenbuch bis jetzt geführt wurde, macht eine zuverlässige Kontrolle über die Anzahl der Besucher und die einbezahlten Beträge zur Unmöglichkeit. Die Besucher sind daher höflich gebeten, ihre Eintragungen klar und im vorgesehenen Raum zu machen.
(Der Hüttenchef: Fritz Schwendener)

Eintrag vom 19. August 1932: Zur Orientierung!
Der Erbauer dieser jetzigen Enderlinhütte war: Johann Peter Enderlin, Bündte Maienfeld, Sohn des meisterlichen Fortunat Enderlin, der die alte Hütte und den Weg erstellte. Gestärkt durch seine grosse Liebe zum Falknis, hat er allein die grosse Arbeit ausgeführt und das Holz für den Hüttenbau auf seinen Schultern hier herauf getragen. Schweisstropfen perlten an seiner Stirn, weil die Last jeweilen sehr gross war, Hans Stocker, der spätere Wirt im Annahof war sein Arbeiter, den er aber von sich aus belohnte. Also auch die finanzielle Seite hatte Johann Peter Enderlin zu bestreiten. Schon im Jahre 1919 wurde der treue Falkniswart von der Grippe dahingerafft, zu früh für das liebe traute Hüttlein und zu früh für uns Hinterbliebene. Manches Augustfeuer habe ich mit ihm hier oben entfacht! Er ruhe in Frieden, der Sohn vom Falknis!
(Frieda Hintermann-Obrecht, Küsnacht ZH, Enkelin des J. P. Enderlin)

Eintrag vom 9./10. September 1932:
Es musste das Fehlen von 2 Decken konstatiert werden.
Die geschätzten Touristen sind ersucht, vorhandene Mängel an Hüttenchef Fritz Schwendener, Buchs zu melden, damit für Abhülfe gesorgt werden kann.
(Fritz Schwendener, Hüttenkontrolle, Hüttenobmann)

Eintrag vom 25. September 1932:
Die Besucher vom 23. September haben eine Unordnung zurückgelassen. Anständige Besucher lassen sich derartige Gemeinheiten nicht zu schulden kommen.
(Fritz Schwendener, Hüttenchef, Hüttenkontrolle, Materialtransport)

Piz Sol Klubnachrichten, I. Jahrgang, Nr. 2, Februar 1937
Frondienst am Enderlihüttli am Falknis am 1. November 1936
Ein prächtiger Spätherbstmorgen ist angebrochen, in allen Farben prangt der Wald, den Berg- und Naturfreund beglückend. Er weiss ja, der Wald stirbt nicht, hinter jedem bunten Blatt rüstet sich und schwellt bereits eine neue Knospe, neues Leben und Blühen verheissend. Von Balzers her schnaubt ein Auto der Steig zu und verschwindet geheimnisvoll im noch in tiefster Sonntagsruhe träumenden Steigwald. Soeben flitzt auch ein Töff heran und wendet dem gleichen Ziel zu. Dazu kommen einige Velofahrer, ja sogar die zur seltenen Spezies gewordenen Fussgänger sind vertreten. Von Maienfeld her ächzt ein Lastwagen mit Brettern, Werkzeug und Männern beladen dem Glecktobel zu. Was ist denn heute los da oben? Ist etwa eine Grenzschutzübung im Gang? Keine Spur, die „Piz Söler“ sind es, die sich in den Kopf gesetzt haben, die herrschende Arbeitslosigkeit noch zu verschärfen. Die Enderlihütte soll auf möglichst billige Art renoviert werden. Beim Enderlistein sammelt sich die abenteuerlich aussehende Gesellschaft, 20 Mann stark, um einen etwas kurzen, dafür umso breiter geratenen Mann. Auch ein Nichteingeweihter hätte sofort erkannt, dass er unter den Anwesenden ziemlich viel zu sagen hat. Mit sympathischem Lächeln (oder war es ein Grinsen?) schaut er zu, wie sich diese Gestalten mit Bretterbürden und Werkzeug beladen. Er bedenkt, wie schnell sich diese jauchzend beladende Schar in eine stumme, schwitzende Einerkolonne verwandeln werde. Und fürwahr, es ist keine Kleinigkeit, bei Neuschnee den Enderliweg unter die Füsse zu nehmen und dazu drückt die Last auf die, meist nicht für diese Arbeit gewachsenen, Achseln. Manch einer hat sich im stillen gefragt, was wohl den Erbauer dieses Weges veranlasst habe, denselben in solch rabiaten Windungen empor zu führen. Endlich kommt der erste Halt, schmerzlich erwartet. Verlangend richten sich unsere Blicke nach den frischverschneiten, in der Morgensonne leuchtenden Sarganser- und Bündnerberge. Man sieht es unsern Skikameraden an, wie sie mit den Augen die Schneehalden abspähen, die Abfahrtsmöglichkeiten berechnen und sich dorthin wünschen. Hinter unseren Rücken ein ganz anderes Bild, welch ein Kontrast! Durch einzelne Tannengruppen hindurch schauen aus fast unwirklicher Höhe herab das Gleckhorn und die Türme, eine Dolomitenlandschaft vortäuschend, im Schatten stehend, drohend und abweisend. Ich gedenke des Mannes, der vor Jahren die Kühnheit besass, diese Westwand in einem Zuge zu durchsteigen. Doch wir müssen weiter, denn heute gehts ja nicht zum Vergnügen in die Berge, sondern zum Arbeiten. Nach vielen Windungen endlich kommt von vorn die Meldung, es bessere und richtig, wir haben jenen Punkt erreicht, wo das Hüttli zum Vorschein kommt.
Nach einem Imbiss geht es ohne Kommando an die Arbeit, so gut sind die „Piz Söler“ erzogen. Steine rüsten und transportieren soll eine Abteilung. Wir ziehen los, an der Spitze der Kolonne die „Steinrüster“. Jeder macht was er kann und es ist köstlich anzusehen, wie der Vizeammann dem Steinrüster den 50 Kiloblock abnimmt und denselben mit unvermindertem Gewicht an den „Mineralwasserfabrikanten“ abgibt. So häufen sich schnell die Steine an jener Stelle, von wo sie mechanisch transportiert werden können. Schon langen sie an jene Mannen, die diese Arbeit zu leisten haben. Jeder hat in der Hand einen wedelnden Palmzweig, nein einen Tannast, den „Fredy“ gehauen hat. Mit diesen improvisierten Schlitten geht die Arbeit famos und wird stellenweise zum Vergnügen, namentlich für diejenigen, welche einen breit ausladenden Ast erhalten haben. Er hat scheints doch noch „günstelet“, der Fredy. Manch interessanter Fall wickelt sich ab auf dieser schmalen Bahn, denn unsere gewichtigen Passagiere haben zuweilen Ausreissgelüste. Aber oha, so leicht geht das nicht, mit vereinten Kräften und lautem „Ho-ruck“ werden sie angeseilt und wieder hinaufgezogen. Auch hier die „reinste Demokratie“. Der zartbehandete Bankbeamte springt dem robusten Landwirt bei, der Malermeister hilft dem Schreiner, der Kaminfeger stemmt Schulter an Schulter mit dem Architekten. Sogar der Chefspediteur vertauscht seine Kalkulation mit dem Werkzeug des Pfahlbauers. In kurzer Zeit liegt ein Zweispänner gerüsteter Steine beim Hüttli und laut ertönt der Ruf „Halt“.
Unterdessen geht eine eigentliche Wühlarbeit rings um die Hütte los. Bald sind die faulen Balken entblösst. Hartnäckig und verbissen wird gearbeitet, um die Hütte herum häuft sich eine Geröllmasse, die nur mit akrobatischen Sprüngen überquert werden kann. Alle scheinen nur einen Willen zu haben, von dem mit einem Doppelmeter bewaffneten Pädagogen nicht Faulenzer geschimpft zu werden. Unser Hüttenwart Senti kocht mit Eifer Tee, um die durstigen Seelen zu laben. Aus was er ihn gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis, denn niemand hat auf Befragen solchen herauf getragen. Jedenfalls war er gut, ob aber allenfalls anwesende Abstinenten der gleichen Ansicht gewesen wären, bezweifle ich, sie hätten wahrscheinlich den Namen Tee deplaziert gefunden. Inzwischen hüpft um die Hütte herum ein kleines Männlein, misst hier etwas, schätzt dort ab, schreibt und rechnet. Dieses eigentümliche Tun fällt uns Schwerarbeitern auf und schon sind wir etwas gegen ihn eingestellt, denken, der wolle seine Lorbeeren auf diese leichte Art erwerben. Da fällt das Wort, das sei unser Vereinsarchitekt und sein Tun bezwecke das Hereinholen einer Subvention vom Zentralkomitee. Das versöhnt uns wieder mit seinem Tun. Nun verschwindet die Sonne hinter dem Piz Sol und fast gleichzeitig unser Arbeitswille. Irgend ein „Bergaufwind“ hat einen sonderbaren, in diesen Höhen ganz seltenen Duft heraufgebracht, alle schnuppern in der Luft herum und schütteln die Köpfe. Da erklärt Florian, der Werdenberger, das Produkt der Aktienbrauerei rieche so fein!
Nun ist kein Halt mehr, die noch fällige Rede des Präsidenten wird ignoriert und im Sturm gehts dem Glecktobel zu. Mit was für einer Rasanz der Abstieg vor sich ging, beweist der Umstand, dass einem Kameraden ein Ast ins Gesicht sprang und ihn erheblich verletzte. Aber zu was haben wir Samariter. Im Nu kunstgerecht verbunden und rasch abwärts. Nachdem noch zwei Klubisten ihre Abstammung nach Darwin bewiesen, indem sie auf ungewöhnlichem Weg die Rüfi übersetzten, sammelte sich die ganze Gesellschaft in der warmen Stube der Steigwirtschaft, wo dem Maienfelder alle Ehre angetan wurde. In trautem Plaudern vergeht rasch die Zeit und bald heisst es heimwärts ziehen. Ein kräftiger Händedruck und auf Wiedersehen, sei’s bei der Sektionsarbeit oder auf froher, freier Bergfahrt.
(Robert Rohrer)

Der Piz Sol. Nachrichten der Sektion Piz Sol, Nr. 8, September 1955
Nach geologischer Begutachtung und nach menschlichem Ermessen sollte der grosse Enderlinstein allen Einflüssen trotzen und auch der neuen Hütte vor Steinschlag und Lawinen Schutz gewähren. Nachdem die Arbeiten in vollem Gange waren, zwar durch schlechtes Wetter und verspäteten Seilbahnbau etwas verzögert, stand das Fundament und die bergseitige Mauer. Über Nacht rutschte der Enderlinstein durch Untergrabung und Absprengung gelockert, nach vorn und drückte die Mauer ein. Eine Besichtigung und Beurteilung ergab nun, dass der Enderlinstein gänzlich gesprengt werden muss und an seine Stelle eine starke Stützmauer treten muss.
(Jakob Frigg)

Der Piz Sol. Nachrichten der Sektion Piz Sol, Nr. 10, Dezember 1955
Mitte Oktober trafen sich Arbeiter und Vertreter der Sektion und der Baufirma zum üblichen Aufrichtmahl. In gemütlichem Gespräch erfuhr man dabei manch Interessantes von der Bauarbeit, die den Beteiligten „Freuden und Leiden“ brachte. Eine besonders plastische Schilderung erhielten wir von jener fatalen Nacht, die den Stein „ins Rollen“ brachte. Wir möchten sie unsern Mitgliedern nicht vorenthalten und geben sie so gut wie möglich aus dem Gedächtnis wieder:
An jenem Dienstagnachmittag regnete es unaufhörlich. Was blieb uns anderes zu tun als zu jassen! Am Abend krochen wir früh ins Stroh. Eine leichte Magenverstimmung liess mich jedoch nicht recht einschlafen, und ich wälzte mich unruhig hin und her. Nach 11 Uhr machte ich mich schliesslich mit dem Gedanken vertraut, das warme Lager für einige Zeit mit einem Örtchen in der feuchtkalten Frischluft zu vertauschen. Bevor ich aber den Entschluss gefasst hatte, schreckte mich ein merkwürdiger, dumpfer Knall. „Jetzt ist etwas geschehen“, ging es mir durch den Kopf. Rasch stand ich auf, tastete nach der Taschenlampe und stolperte zur Türe. Kalter Nebel lag draussen, ich sah keine fünf Meter weit. Unwillkürlich zog es mich zur nahen Baustelle, wo wir vor kurzem mit der Erstellung der Grundmauern begonnen hatten. Der Lichtstrahl huschte über die Baustelle hinweg und blieb dann wie gebannt an derselben Stelle. Was ich kaum zu denken gewagt hatte, war Tatsache: ein dunkler Schatten wölbte sich weiter als sonst über die Baugrube vor, der Block (in dessen Schutz die alte Hütte stand und die neue weiterhin stehen sollte), war fast um einen Meter abgerutscht. Hastig eilte ich in die Baracke zurück. „Meine Herren, der Stein ist gekommen!“ Mein Anruf löste nur missmutiges Gebrummel aus, meine weiteren Beteuerungen stiessen auf Unglauben. Schliesslich bequemte sich ein Kamerad zu einem Augenschein, und nun erst erwachten die andern ganz und tappten halb angekleidet hinüber. Es war kein Zweifel, das Unglück war geschehen. Die hintere Mauer, die schon fast brusthoch ausgeführt war, lag zerdrückt unter dem mächtigen Block. Wir konnten uns immerhin glücklich schätzen, dass uns der „Rutsch“ nicht bei der Arbeit überrascht hatte. – Regen setzte von neuem wieder ein, wir begannen zu frieren. So krochen wir wieder unter die Decken und diskutierten noch lange über den Vorfall.
Am folgenden Morgen stieg einer bei strömenden Regen zur Luziensteig hinunter, um die Meldung telephonisch weiterzugeben. Schon eine Stunde später waren Bauführer und Hüttenchef zur Stelle und liessen sich durch den „Meldeläufer“ die Situation schildern. Es wurde beschlossen, die Arbeiten vorläufig einzustellen. Gegen Mittag stiegen die Arbeiter mit ihren Siebensachen und den drei Geissen ab. Der Bach im Gleckbachtobel war inzwischen hoch angeschwollen. Das Übersetzen war ein Abenteuer für sich, und es sollen dabei nicht nur die Ziegen nass geworden sein!
(Jakob Frigg)

Der Piz Sol. Nachrichten der Sektion Piz Sol, Nr. 6, Juni 1956
Einweihung der neuen Enderlinhütte am 3. Juni 1956
Zuerst möchte ich des Mannes gedenken, dessen Namen die Hütte trägt: Bergführer Fortunat Enderlin von Maienfeld. Sie werden seinen Namen kaum in einer alpinen Chronik finden. Er lebte noch zur Zeit, da es, wie Christian Klucker in seinen Erinnerungen eines Bergsteigers schreibt, genügte, Seil und Pickel zu kaufen und sich Führer zu nennen. Was mir an diesem Manne gefällt, das war seine Liebe zum heimatlichen Berg, zu seinem Falknis; die Unternehmungslust, mit welcher er das bescheidene Bergsteigerheim baute, und vor allem der Blick und die Beobachtungsgabe, die ihn den einzig sichern Standort wählen liessen, ihn, der sicher nichts wusste von der Metamorphose des Schnees, von Kriechschnee, Gleitschichten und Spannungszonen innerhalb der Schneeauflage.
Wenn ich sein Hüttchen bescheiden genannt habe, so waren das sicher auch die Touristen, die er geführt hat. Der Umstand, dass es im Anfang des 20. Jahrhunderts in unserem Klubgebiet noch Bergführer in Gassaura, Valens, Vättis und Weisstannen gab, beweist klar, dass die damaligen geführten Touristen zur Hauptsache sich aus Kurgästen von Ragaz rekrutierten. Dass auch die gesteckten Ziele bescheiden waren, zeigt uns ein alter Bergführertarif der Sektion Piz Sol, in welchem Besteigungen von Vasanenkopf, Schlösslikopf und Tagweidlikopf aufgeführt sind, Höger, die man heute mühelos mit den Bergbahnen erreicht, deren Bahntaxen aber höher sind, als damals die Kosten für einen patentierten Führer.
Mit dem Tode des Erbauers verwahrloste die Hütte, da niemand mehr für deren Unterhalt sorgte. Als mir 1922 zu Ohren kam, dass die Witwe geneigt wäre, die Hütte an den SAC zu verkaufen, setzte ich mich als unternehmungslustiges, junges Vorstandsmitglied aufs Velo und radelte nach Maienfeld, um mich nach den Verkaufsbedingungen zu erkundigen. Und zagen Herzens stellte ich in den nächsten Vorstandssitzung den Antrag, die Hütte zum geforderten Preis von Fr. 1500.– zu kaufen. Zagen Herzens habe ich gesagt, denn als Präsident waltete kein geringerer als Dr. Robert Helbling, der Mann, der als einer der ersten Führerlosen eine grosse Zahl von Erstbesteigungen in den Alpen, im Kaukasus und in den Anden ausgeführt hatte. Was konnten schon einem solchen Bergsteiger Enderlinhütte und Falknis bedeuten. Aber eine Besorgnis war unbegründet: der Gewaltige war für den Plan begeistert, und die Versammlung stimmte dem Kauf einmütig zu.
Was wollten wir eigentlich am Falknis droben? Nichts anderes als eine bescheidene Unterkunft. In einer Zeit, da die Ansprüche der Bergsteiger immer höher gestiegen, gelangten wir mit unsern Plänen an das C.C. Glarus. Und die erste Reaktion des damaligen Hüttenchefs war: „Endlich einmal ein bescheidenes Projekt!“
(Auszüge aus der Ansprache von Hans Schmid)

Der Piz Sol. Nachrichten der Sektion Piz Sol, Nr. 7, Juli 1956
Bericht des Architekten
Das Bauprogramm sah vor, die neue Hütte etwas grösser als die alte zu bauen. Grundsätzlich sollte die Anzahl der Schlafplätze gleich der Anzahl der Sitzplätze, d.h. 25 : 25 sein.
Die Konstruktion sollte als Blockbau ausgeführt werden. Diese Bauweise ist gegenüber der Riegelkonstruktion stabiler, was im Hinblick auf Schneedruck und Lawinen wichtig ist, sie ist auch unempfindlicher gegen Witterungseinflüsse und nimmt Rücksicht auf die örtliche Bauweise und das Landschaftsbild. Zwecks Isolation vom Bergdruck musste die hintere Front vom Berg getrennt werden. Der Innenausbau sollte einfach, bescheiden und zweckdienlich sein. Auf eine solide Bedachung, bestehend aus Schalung, Isolierschicht mit Flumser Steinwollmatten und einem Lärchenschindelschirm wurde besonders geachtet.
Baugeschichte. Ein erstes Projekt auf Grund des vom Vorstand, bezw. der Enderlinkommission ausgearbeiteten Programmes enthielt noch ein Satteldach. Der revidierte Entwurf vom 27. November 1951 hingegen sah eine Konstruktion mit Pultdach vor und bildete die Vorlage für die Ausführung. Die Vorteile des Pultdaches sind mannigfach: guter Schutz gegen eventuelle Lawinen und gegen Steinschlag, weil günstig an den Berg angelehnt und kein vorspringender First; bessere räumliche Gestaltung und Raumausnützung im Innern, namentlich im Schlafraum des Obergeschosses.
Auf Grund des von allen Instanzen (Sektion, Hüttenkommission, Central-Comité, Abgeordneten-Versammlung, Gemeinde Maienfeld) genehmigten Bauprojektes wurde am 25. Mai 1955 mit dem Abbruch der alten Hütte und damit mit den Bauarbeiten begonnen. Vom Material der alten Hütte konnte eine Baracke als Unterkunft für die Arbeiter und als Magazin für die Lagerung von Werkzeugen, Bindemitteln usw. erstellt werden. Die Erstellung der Materialseilbahn verzögerte sich etwas, doch machten die Arbeiten in den darauffolgenden Wochen gute Fortschritte, und es konnte die Fertigstellung der Hütte bis Herbst 1955 erwartet werden.
In der Nacht vom 26. auf den 27. Juli 1955 rutschte ganz unerwartet der zirka 90 Tonnen schwere Felsblock hinter der Baustelle ab. Damit war die Voraussetzung des Schutzes gegen die Naturgewalten nicht mehr vorhanden. Wir standen damals vor einer vollständig neuen Situation, die ursprüngliche Konzeption wurde über den Haufen geworfen. Es ergab sich die Alternative: Baueinstellung oder Fortsetzung mit erheblichen Mehrkosten. Man gelangte zum schweren Entschluss und Beschluss, an Stelle des schutzbietenden Felsblockes eine grosse Schutzmauer zu errichten. Die vor Baubeginn erfolgte geologische Begutachtung hatte dahin gelautet, dass der Felsblock sicher sitze und dass der geplante Hüttenbau ohne Bedenken erfolgen könne. Die Praxis hat uns gezeigt, dass immer mit dem schlimmsten Fall gerechnet werden muss.
Die Kosten für die zusätzlich notwendig gewordene Stützmauer wurde durch die Bauunternehmung damals mit zirka Fr. 9’000.– berechnet. Durch zusätzliche Bauinstallationen, vermehrte Transporte mit der Seilbahn, grösseren Aufwand für die Wasserbeschaffung, Hinterfüllung usw. sind die Gesamtkosten für die Stützmauer auf über Fr. 20’000.– gestiegen. Damit war auch in finanzieller Hinsicht eine recht unerfreuliche Situation entstanden. Die Gesamtbaukosten der neuen Hütte – die Rechnungen liegen zur Zeit noch nicht vollständig vor – werden sich im Rahmen von zirka Franken 60’000.– bewegen.
Die ohne jeglichen Unfall erstellte neue Enderlinhütte ist mit grossen unerwarteten Schwierigkeiten gebaut worden. Sie möge dem Zweck als Schutzhütte auf lange Zeiten dienen, und es möge ein guter Stern über dem Werk walten.
Bericht des Architekten, Herrn Adolf Urfer, Bad Ragaz über den Bau der Enderlinhütte (nach seinen Stichworten von Jakob Frigg zusammengestellt)

Der Piz Sol. Nachrichten der Sektion Piz Sol, Nr. 7, Juli 1956
Eine Stimme der Nachfahren Enderlins
Am 7. Juli 1956 war die Urenkelin Fortunat Enderlins, Frau Vreni Zindel-Obrecht, mit ihrem Töchterchen in der Enderlinhütte. Wir geben nachstehend ihre Eintragung im Hüttenbuch wieder:
„Fortunat Enderlin baute die erste Hütte im Jahre 1900. Nur kurze Zeit durfte sie als Unterkunft dienen, dann donnerte eine mächtige Lawine zu Tal und riss sie in die Tiefe. Einige Jahre später baute sein Sohn, Hans Peter Enderlin, die zweite Hütte, die im Jahre 1955 abgerissen wurde. Sie war der Lieblingsort meines Grossvaters, und unendliche Schweisstropfen opferte er für die Mitmenschen, denn sämtliches Hütteninventar trug er auf dem Rücken herauf. Jeden Sonntag stieg er zu seinem Hüttlein empor, wo er Erholung fand nach strenger Arbeit. Im Jahre 1914 war Urgrossvater Fortunat Enderlin anlässlich seines 90. Geburtstages zum letztenmal auf seinem geliebten Falknis, nahm Abschied für immer. Im Jahre 1918 mit 94 Jahren ging er zur ewigen Ruhe ein. 1919 folgte ihm sein Sohn, Bergführer Hans Peter Enderlin, mit 68 Jahren in den Tod. Die wütende Grippe forderte den zähen Bergsteiger, und schweren Herzens nahm er Abschied von seiner Hütte, die er Gott befahl und uns hinterliess. Meine Mutter übergab sie der SAC-Sektion Piz Sol zur Betreuung. Leider genügte sie den Anforderungen nicht mehr, und es wurde eine neue, schöne Hütte erbaut. Im Namen meiner Ahnen danke ich den Erbauern, und mit Stolz darf sie den Namen Enderlinhütte weiter tragen. Möge sie der Allmächtige vor Naturgewalten erhalten, damit sie vielen Bergfreunden lange Jahre hindurch als Unterkunft diene.“

Der Piz Sol. Nachrichten der Sektion Piz Sol, Nr. 9, September 1956
Um unsere Klubhütten, besonders die Enderlinhütte
Das prächtige Herbstwetter brachte unseren Hütten nochmals regen Besuch. Erfreulich gut besetzt war über das Wochenende jeweils die Enderlinhütte; eine Reihe von Sektionen und sogar eine Sektion des Frauenalpenklubs lernten unser teures Schmuckkästchen am Falknis kennen, Jugendgruppen und Familien, Einheimische und Freude freuten sich an unserem Heim, die Hüttenwarte hatten jeweils vollauf zu tun.
(Jakob Frigg)

Piz Sol. Klubnachrichten der Sektion Piz Sol, Nr. 4, April 1969
Die neue Wasserversorgung der Enderlinhütte
Ihre Entstehungsgeschichte
Schon lange suchten wir nach Wasser, besser gesagt, das Wasserproblem zu lösen. Bereits beim Bau der neuen Enderlinhütte war die Wasserfrage höchst aktuell. Ihre Lösung scheiterte aber am fehlenden Geld. Niemand behauptete, die Quelle unter der Hütte sei schlecht, im Gegenteil, man muss zu diesem Wasser Sorge tragen. Wasser ist an den Südhängen des Falknis rar. Der Zugang aber ist besonders nachts und für nicht Ortskundige sehr gefährlich. Ausserdem war es an schönen Wochenenden dem Hüttenwart fast nicht möglich, genügend Wasser zu besorgen. Auch wurde die Wasserfassung öfters durch Steinschlag und Lawinen beschädigt.
Am 17. August 1967 beschloss nun im Hotel Rose in Sargans eine ausserordentliche Mitgliederversammlung ohne Gegenstimme einen Kredit von Fr. 15 000.– für eine neue Wasserversorgung der Enderlinhütte.
(Niklaus Saxer)

Piz Sol. Klubnachrichten der Sektion Piz Sol, Nr. 5, Mai 1969
Die neue Wasserversorgung der Enderlinhütte

Die zu fassende Quelle befindet sich im Panierwald, gut 500 m westlich der Enderlinhütte. Ihre Fassung stellt keine Probleme. Schwieriger gestaltet sich die Herleitung des Wassers. Die Wasserleitung muss im äusseren Tobel an ein Drahtseil aufgehängt werden. Sonst lässt sich die Leitung ohne grosse Schwierigkeiten im Boden verlegen. Neben der Hütte ist ein Brunnen vorgesehen. Das Abwasser wird sodann durch ein neues WC und von dort durch eine Abwasserleitung ins Tobel hinunter geleitet. Der Kostenvoranschlag der Bau AG in Maienfeld für die Bauarbeiten beläuft sich auf rund Fr. 9 500.–. Dazu kommen Materialkosten im Betrage von Fr. 3 000.–. Für den Transport mittels Helikopter müssen weitere Fr. 3 000.– eingesetzt werden. So kamen wir auf eine Gesamtsumme von Fr. 15 500.–. Das CC bewilligte nachträglich einen Kredit von max. 40%.
Damit war auch offiziell das Startzeichen zum Beginn der Bauarbeiten gegeben. Die Baukommission beschloss dann, die Arbeit zum grossen Teil mit eigenen Mitteln und Kräften auszuführen. So wurde an offiziellen und nicht offiziellen Arbeitstagen tüchtig gearbeitet. Anlässlich der Herbsthauptversammlung 1967 konnte mitgeteilt werden, dass die Wasserleitung im Zwischenstück bereits verlegt sei. Über das erste Tobel bei der Hütte konnte die Leitung auch im Boden geführt werden. Die Wasserfassung war erstellt. Die weiteren Arbeiten sollten im kommenden Frühjahr weiter geführt werden.
Leider gab es im Frühling 1968 eine Verzögerung der Bauarbeiten, teils wegen dem Helikoptertransport. Am 13. Juli endlich war der Helikopter zur Stelle und das Material konnte hinaufgeflogen werden. Am 2. August wurden die Verankerungen für das Tragseil der Wasserleitung über das Paniertobel angebracht. Am 10. August wurde das Seil mit der Wasserleitung über das Paniertobel hoch gezogen und an die Wasserleitung angeschlossen. Am Nachmittag um 15.36 Uhr und 40 Sekunden, der Hüttenwart schleppte eben die letzte Tanse Wasser aus dem Tobel herauf, war der grosse Augenblick, in dem das erste Mal das frische Quellwasser aus der neuen Leitung in den Brunnentrog floss. Am 21. und 22. August wurde dann durch die Handwerker das neue WC erstellt und am 6. September von uns angeschlossen. Es wurde den ganzen Herbst über noch tüchtig gearbeitet. Mit dem restlichen Sand und Zement wurde am 2./3. November der Brunnenstock erstellt und vor der Hütte eine Stützmauer angefangen. Schade, dass man nicht genügend Sand un Zement hinauf transportiert hatte. Am 9. November war es die JO, die wacker Steine hertrug. Am gleichen Tag wurden einige Mängel behoben. Bei der Wasserfassung wurde eine Entlüftung angebracht. Ein Stück weit wurde die aufgehängte Leitung an den Hang verlegt. Der letzte Arbeitstag vom 23./24. November konnte wegen schlechter Witterung nicht mehr durchgeführt werden. Trotzdem wurde die Leitung anders an die Wasserfassung angeschlossen und auch beim Brunnen einige Änderungen getroffen.
Es sind nun noch einige Umgebungsarbeiten beim Brunnen und WC zu erledigen.
Wie ein Augenschein ergeben hat, hat die neue Wasserversorgung den Winter gut überstanden. Hoffen wir, dass sie sich weiterhin bewähre und vor Sturm und Lawinen, aber auch vor bösen Buben bewahrt bleibe.
(Niklaus Saxer)

Kriegerische Zeiten im Rätikon

Aus dem Rhätikon (von R. Wäber)
… Auch wir, Freund K. und der Schreiber dieser Zeilen, zählen uns zu den „kleineren Leuten“, und da uns die Aufgabe Oberst Wieland’s als Bergfahrer wie als Militärs gleich sehr anzog, wollten wir einen Versuch auf diesem Felde machen und einer fröhlichen Berg- und Passwanderung das Nützliche einer Recognoscirung im westlichen Rhätikon gesellen.
Das gewählte Gebiet weist auf kurzer Strecke eine ganze Reihe solcher kleiner Pässe auf und ist sowohl an landschaftlicher Schönheit wie an historisch interessanten Erinnerungen reich. An der Schwelle unseres Jahrhunderts, als sich die Halbbrigaden der französischen Republik mit den österreichischen Regimentern um den Besitz der Luziensteig stritten, belebten sich die einsamen Gebirgspfade wiederholt mit österreichischen Truppen, die über das unwirthliche Grenzgebirge vom Vorarlberg her nach Graubünden zogen. Wir wollten also dieses Stück unserer Grenze von Grund aus kennen lernen und dabei die Wege suchen, die jene fremden Gäste im Frühling des Jahres 1799 gekommen sind, um andere Fremdlinge auf Schweizerboden zu bekämpfen. (Die historischen Notizen sind folgenden Werken entnommen: Erzherzog Karl, Geschichte des Feldzuges von 1799; W. Meyer, Biographie Hotze’s, u. Marès: Précis historique de la campagne du Général Masséna dans les Grisons. Einige Wegangaben verdanken wir dem bekannten Führer Fortunat Enderlin in der Bündt Maienfeld, der noch Augenzeugen jener Tage gekannt hat.)

Es war am 16. August 1881, als wir selbander die wohlbepackten Tornister auf den Rücken schwangen und zum alten Städtlein Maienfeld hinaus den nahen Bergen zuwanderten. Unsere Absicht war, von der Luziensteig aus auf direktestem Wege, also durch das „Glecktobel” hinauf, nach dem Gamperthonthale im Vorarlberg zu gelangen. Der Himmel schien uns ungnädig; sein Blau hatte einem trübseligen Grau das Feld geräumt und Frau Sonne sieh hinter den Wolkenvorhang zurückgezogen.
Der Nachmittag war schon ziemlich vorgerückt, als wir uns von den Festungswerken dem Eingange des Glecktobels zuwandten. Ein leidlicher Weg führte uns am linken Ufer des Gleckbaches steil empor im Dunkel der Tannen, durch die der graue Himmel grämlich herabschaute. Als sich nach einer Weile scharfen Steigens der Wald lichtete und wir ins Freie traten, fanden wir uns schon ganz im Kessel des Tobels, dessen Abschluss hoch oben der Sattel des Gleckkammes zwischen Gleckhorn und Hoch Furnis bildet. Zu unserer Linken ragten die Thürme des Gyrenspitz und Falknis, rechts stieg der Bergwald stotzig empor und vor den Ausgang des Tobels legte sich breit der Fläscherberg mit seinen Blockhäusern. Wildheuer waren emsig beschäftigt, ihr Heu vor dem drohenden Regen zu bergen; es war hohe Zeit: schon fielen einzelne Tropfen und bald rauschte über Wald und Wiese der Regen herab, vor dem wir unter den dichten Aesten einer Tanne am Waldrand Obdach suchten.
Zweimal schon hat schweizerische Gebirgsartillerie den Uebergang durch das Tobel hinauf nach den Maienfelder und Jeninser Alpen gemacht. Nach vergeblichen Versuchen gelang es zum ersten Male im Jahr 1870, je einen Zug von jeder der beiden Batterien über den Gleckkamm zu bringen, nachdem Tags zuvor Hauptmann Simonett, der Bezirksingenieur von Splügen, die nöthigsten Wegarbeiten geleitet hatte. Im obersten Drittheil des Tobels ist eine längst verlassene Gypsgrube; bis dorthin kamen die Pferde auf dem alten steilen Saumwege leidlich fort, aber von dort bis zur Passhöhe hatte ein neuer Weg zwischen den Felsköpfen hindurch angelegt werden müssen. Der zweite Uebergang geschah vor wenigen Jahren unter dem jetzigen Chef der Gebirgsartillerie. Es ist ein rauhes Stück Arbeit gewesen; beide Male mussten an einigen Stellen die Pferde abgepackt und die Geschütze von der Mannschaft getragen werden.
Der Regen hatte nachgelassen; es huschte sogar ein Sonnenstrahl über die nassen Matten und wir brachen wieder auf. Hoch über dem Bach, am linken Thalhang, zog sich der schmale Weg hin; steiler und schlechter werdend, führte er bald über Wiesland, bald durch Waldstreifen empor; wilder wurde die Landschaft, rauher der Weg, über Schutthalden und Felsen hinanführend, und jetzt pfiff ein kalter Wind das öde Tobel herauf, uns eisigen Regen ins Gesicht peitschend. Da stehen wir endlich auf dem welligen Rasenboden des Gleckkammes, und dort unten zu unserer Rechten liegen die Hütten der Alp „Bad“, die wir, durchnässt und frierend, im letzten Schimmer des Tages erreichen.
Die ganze Nacht durch trommelte der Regen auf das Hüttendach, und am Morgen sah die Landschaft trostlos grau in grau gemalt aus. Am Gleckhorn flatterten einzelne Streifen des Nebels, der dort, wo wir die Alpen von Eck und Stürvis vermutheten, in dichter Masse das Hochthal füllte; von unserem Excursionsgebiet, der Kette des Rhätikon, war keine Spur sichtbar.
Da das Wetter den ganzen Vormittag über gleich schlecht blieb, wurde der Rückzug über Jenins angetreten. 24 Stunden nach unserem Ausmarsch rückten wir wieder im Städtlein Maienfeld ein; der erste Anlauf war abgeschlagen und es regnete immer noch.
Als wir zwei Jahre später desselbigen Weges fuhren, glänzten die Häupter der Kurfirsten in neuem Schnee; am Falknis droben jagten sich die Nebel, und wenn der Berg auf Augenblicke sichtbar wurde, zeigte auch er den neuen, bis weit herab reichenden Schneemantel: aber über Allem lachte die nach langem Unwetter siegende Sonne.
Die Reise galt dem von den Maienfelder Alpen nach dem Saminathal führenden Uebergang, dem 13 Jes-Fürkli oder Samina-Joch. Unser bisheriges Kartenmaterial, Blatt X der Dufourkarte und Blatt Bludenz-Vaduz der österreichischen Generalstabskarte, war durch das eben erschienene Blatt 273 (Jenins) des Siegfried-Atlas vermehrt worden. Statt des Glecktobels schlugen wir den Umweg über Guscha und den Gyr ein.

Da waren wir wieder bei der gesperrten Eingangspforte Graubündens, bei den Werken der Luziensteig, angekommen. Es ist schon viel Kriegsvolk aus aller Herren Ländern die Strasse zwischen Gyrenspitz und Fläscherberg gezogen, und oft hallten die Felswände vom Kampflärm wieder, vom Schwabenkrieg bis auf die Zeiten Masséna’s und Hotze’s. Wie wurde im Frühjahr 1799 um den Pass gestritten! Im Oktober des vorhergegangenen Jahres hatten die Oesterreicher seine Werke besetzt; im März 1799 wurden sie ihnen von Masséna entrissen; am 1. Mai versuchte Hotze, die Steig wieder in seine Gewalt zu bringen; der Angriff misslang, doch 14 Tage später wurde ein erneuter Versuch mit Erfolg gekrönt und der Pass von den Kaiserlichen wieder gewonnen.

Der Thurm, dessen weiße Zinnen 100 m ob der Straße so kokett aus dem Grün des Buchwaldes hervorgucken, und der die rechte Flanke des Werkes schützen und den Weg von Guscha sperren soll, stand damals noch nicht; der Weg, der uns nun im kühlen Waldesschatten emporführt, war offen. Das haben die Oesterreicher büssen müssen, als Masséna am 6. März die Luziensteig angriff. Nach grossen Schwierigkeiten war es ihm gelungen, bei Trübbach eine Bockbrücke über den hochgehenden Rhein zu erstellen, über die seine Infanterie das rechte Ufer gewann, bevor sie nur ganz vollendet war. Um 3 Uhr Nachmittags standen die Franzosen, ohne Sturmgeräth, ohne Artillerie vor den Werken, die mit sechs Compagnien und fünf Geschützen besetzt waren. Der Angriff war gewagt; es galt, die Verbindung des österreichischen Hauptquartiers in Feldkirch mit den in Graubünden stellenden Truppen zu unterbrechen und am rechten Rheinufer festen Fuss zu fassen. Links die starke Stellung der Oesterreicher in dem befestigten Feldkirch, vor sich das unwegsame Gebirge, im Rücken die schlechte Brücke von Trübbach, musste sich Masséna zum raschen Sturm auf die Luziensteig entschließen. Er leitete das Unternehmen selbst, detaschirte zwei Grenadiercompagnien nach dem Guscherweg hinauf und ein Bataillon über den – ebenfalls nicht gesperrten – Fläscherberg nach dem Rücken der Position und stürmte mit einem Bataillon in der Front. Viermal wurde der Angriff zurückgeschlagen. Die Grenadiere waren endlich im tiefen Schnee durch den steilen Wald zwischen Balzers und den Schanzen auf den Guscherweg gelangt und senkten sich nun nach dem Pass herab; die beim Rappentobel ausgestellten österreichischen Posten wurden erschossen, und bei Einbruch der Nacht, als Masséna die letzten vier Reservecompagnien zum letzten Sturme vorgesandt und die rechte Flügelredoute des Werkes genommen hatte, drangen die Grenadiere im Rücken der Schanzen ein; die Luziensteig ward nach heissem Kampf erobert und die Strasse nach Graubünden war für die Oesterreicher verloren.

Vor uns liegt die Häuserreihe von Guscha, wo man nach dem Volksmund den Hühnern Steigeisen anlegt und die Kinder anbindet, dass sie nicht erfallen. Die Luziensteig war für das friedliche Dörflein, dessen Fenster im Abendsonnenschein weithin über’s Rheinthal glänzen, ein gefährlicher Nachbar, und die Kriegsfackel hat auch diesen abgelegenen Winkel nicht verschont. Bei der Wiedereroberung Bündens durch Oesterreich im Jahr 1622 leuchteten die Flammen des Dörfleins ins Land hinaus, ein Zeichen der wilden Horden Ballestra’s, und anno 1799 pfiffen hier die Kugeln der Franzosen und Oesterreicher.
Die Häuser zerfallen; nur noch drei Familien – alle den Namen „Joost“ führend – hausen auf Guscha, und bei Florian Joost, dem wohlbekannten Jäger, bezogen wir das Nachtquartier auf der Guscher Alp, eine halbe Stunde ob dem Dörflein.

Eine kalte, klare Nacht war heraufgezogen; die Strahlen des Mondes versilberten die schneeigen Spitzen des Falknis und im bläulichen Duft glänzten die Lichter von Ragaz durch die Lücke der Luziensteig in unsere Bergeinsanikeit herauf.
Am Morgen genossen wir die prächtige Aussicht auf dem dachsteilen Guscher Grat, und als es Mittag war, lagen wir bei den obersten Heuställen des Guschertobels – hier „Bargün“ genannt – im hohen Grase und warteten auf unsern Wirth Flury, während nah und fern die Sensen der Wildheuer erklangen.
Um zwei Uhr kam Meister Joost vom Heuen den steilen Abhang heraufgestiegen; er wollte uns über „auf dem Gyr“ nach dem Fläscherthäli (Radaufis) führen und wir brachen auf, dem Grate zu, der den Kessel von Guscha vom liechtensteinischen Wildhaustobel trennt und der jenseits der Grenze „Mazoura“ genannt wird; über Geröllhalden gelangt man von hier aus zur Alp Lavena hinunter.
Hier führte in der Nacht des 30. April 1799 Major Quelf ein österreichisches Bataillon von Lavena herüber und vertrieb die Guscha besetzt haltenden Franzosen. Es war dies eine der Kolonnen, die Hotze bei seinem ersten Versuch, die Luziensteig wieder zu gewinnen, über die Berge nach dem Rücken der Werke detaschirt hatte.

Am Abhang des Falknis, hoch über dem Guschertobel, gings nun der Uebergangsstelle ob dem Gyrenspitz zu; der Weg war des neuen weichen Schnee’s wegen etwas misslich und erforderte Vorsicht. Um vier Uhr waren wir dort, circa 120 m oberhalb Punkt 2167 der topographischen Karte „auf dem Gyr“, angekommen; unter uns fallen die Wände der „Thürme“ schroff ab zum Glecktobel, das sich zum Gleckhorn zu unserer Linken emporzieht; nach Süden dringt der Blick über die weinberühmte Herrschaft und die alten fünf Dörfer bis nach der ehrwürdigen Bischofsstadt Chur, nach Osten inss tief eingeschnittene Prättigau, und dazwischen erhebt sich das Gewirr der Spitzen und Hörner des Bündnerlandes.
Nach kurzer Rast führte uns Meister Flury quer durch die tief eingerissenen Schluchten und über die Rippen des Berges nach dem Grat, der sich von der Falknishöhe hinüber nach der Gleckwand schwingt. Hier öffnet sich der Blick in das Hochthal von Radaufis mit seinen drei blauen Seelein und hier verabschiedete sich unser freundliche Wirth und Führer.
Wir stiegen über die Platten des Grates hinab zum obersten der Seelein. In engen Felswänden eingebettet liegt es da, unergründlich tief, und wer seine Tiefe messen will, der erregt den Zorn der Berggeister, dass das stille Gewässer laut brausend aufschäumt. Von einer Kuh, die einst hineingefallen, kam nichts mehr zum Vorschein, als die Glocke, die im Kathrinenbrunnen zu Balzers unten zu Tage sprang. So meldet die Sage.
Bald war das Hochthal, in dem die Heerden von Fläsch weiden, durchwandert und die Alp Sarina erreicht, und eingedenk genossener Gastfreundschaft stiegen wir noch hinan zu den Hütten des „Bades“ am Gleckkamm. Da war nun das wunderbare Landschaftsbild, das uns vor zwei Jahren die grauen Nebel verhüllt hatten: schöne Alpweiden senken sich hinab zum Bergwald, der das Thal zwischen Tschingel und Aebigrat füllt, und darüber baut sich das gewaltige Massiv des Alpsteins auf, überragt von der aus Schnee und Eis aufstrebenden Pyramide der Scesaplana, die in den letzten Strahlen der sinkenden Sonne erglühte.
Früh Morgens gings durch die thaufrischen Wiesen hinab nach den Alpen von Eck und Stürvis. Wo jetzt die stattlichen Hütten von Stürvis liegen, war vor Jahrhunderten ein Dörflein, dessen Bewohner, des rauhen Klima’s und der langen winterlichen Einsamkeit müde, im 16. Jahrhundert nach Maienfeld ausgewandert sind. Die Bathönier und Nigg, die Enderlin und Gamser stammen von den alten Stürvisern, und das Glöcklein, das einst die Hirten des hohen Bergdörfleins zur Messe rief, läutet nun ihren Nachkommen zu Maienfeld in den Rath. Das Gemäuer der Kirche stand noch im vorigen Jahrhundert, jetzt sieht man nur noch wenige Spuren auf dem Kirchhügel. Die Geschichte des Stürviser Liebespaares Elly und Oswald, die noch auf den Alpen wie im Thale lebt, ist durch David Heß’ Erzählung in weiteren Kreisen bekannt geworden. Noch zeigen die Sennen den Stein, an dem die Stürviser des Dörfleins lieblichste Blume, schön Elly, und auf der andern Seite des Felsens ihren Verlobten in Schnee und Eis erstarrt fanden. Sie wusste ihn im nächtlichen Schneesturm unterwegs von Maienfeld, war ihm entgegengegangen und in der schneidenden Kälte seiner harrend entschlummert; todtmüde und erschöpft vom schweren Anstieg mit hochbepacktem Räf war er am nämlichen Felsblock niedergesunken, um nicht mehr aufzustehen, und so, nur durch den Stein getrennt, Jedes ohne des Andern Nähe zu ahnen, sind Beide von des Todes kalter Hand berührt worden.
Ob den Hütten von Stürvis rauscht der Bach, der vom Hochthal von Jes kommt, in schönem Fall über eine Wand herab. Auf gutem Wege steigen wir hinan; dicht bei dem Wasserfall beginnt die Felstreppe von Jes; im Zickzack führen ihre rohen Stufen die Wand hinauf, und gleich bei den untersten derselben finden wir Buchstaben und Zahlen in einfacher Umrahmung in den Fels gemeisselt. Die Maienfelder Werkmeister Danner (heute Tanner) haben die Jahreszahlen ihrer Arbeit am Felsweg und ihr Wappen, die Tanne, im 17. und 18. Jahrhundert hier verewigt.
Das Hochthal von Jes war erreicht. Umrahmt von hohen Felsen zieht es sich hinan zum scharfgezackten Grenzgrat, an dessen tiefster Stelle die feine Scharte des Uebergangs uns den Weg wies. Die Hütten standen leer; der Schneefall der letzten Tage hatte Mensch und Vieh hinabgetrieben. In einem alten Ortslexikon der Schweiz finden wir den Namen der Alp „Jyes“ geschrieben; diese Schreibweise entspricht genau der Art, wie der Name von den Sennen ausgesprochen wird.
Die schönen Alpweiden machten wilden Geröllhalden Platz; bald verschwanden die kleineren Trümmer im weichen Schnee, durch den wir nun in heisser Mittagssonne dem Passe zustampften. Der letzte Anstieg ist sehr steil und mühsam; um zehn Uhr standen wir in der Scharte und sahen ins Saminathal hinab. Beschneite Halden senken sich zum grünen Thalboden der Valüna-Alp hinunter, von der aus sich das weisse Band eines guten Weges, den Windungen des Thalbaches folgend, thalwärts zieht bis zum grossen Hüttenviereck der Frastenzer. Dort verliert sich der Weg im Wald, der links zu dem Grate der Drei Schwestern, rechts zum Schönenberg hinansteigt. Hinter uns erhebt der Vilan sein grünes Haupt über den waldigen Abhang des Aebigrates und glänzen die Gipfel und Firne der Bündner Berge: es war keine grossartige, aber eine ungemein liebliche Aussicht von unserem Passe aus.
Die Uebergangsstelle ist so schmal und tief in den Fels eingeschnitten, dass nur Mann hinter Mann in dem Couloir passiren kann, und die Schwärzer, die dann und wann den Weg zu benützen pflegen, werden gut aufpassen müssen, dass ihre Packen nicht rechts und links an den scharfen Platten des Ganges hängen bleiben.
Des Proviantes letzte Flasche wurde geopfert und dann der Rückzug über Jes angetreten. Nach kurzer Rast in den Stürviser Hütten marschirten wir, den schäumenden Wallabach überschreitend, an dessen rechtem Ufer thalaus. Auf schrecklich verlottertem Wege, bald im nassen Lehm des Bachbordes, bald im unergründlichen Morast des Waldes, in dem mächtige gefallene Baumriesen verfaulen, kamen wir an den Trümmern des Schwefelbades Ganey vorbei und in den Seewiserweg und kehrten dann bei Herrn Major Walser, dem Bergkundigen, im gastlichen Hotel Scesaplana zu Seewis ein.

Da waren wir wieder mitten in der Cultur drin. Durch das offene Fenster der traulichen Stube, da wir mit unserem Wirthe beim Malanser sassen und rhätische Geschichten hörten, lachte der Vollmond; tief unten im Prättigau, wo die Lichter von Schiers glänzen, spiegelt er sich in den Wellen der Landquart; am Bergeshang versilbert er die schlanke Thurmspitze, das hohe Dach der Kirche von Seewis und gleitet hinüber zum nahen Wirthshaus, da sich die Seewiser Jugend im Tanze dreht. Johlen, Schleifen und Stampfen tönt durch die helle Sommernacht; es fiedelt die Geige, es brummt der Bass: Seewiser Kirchweih ist heute.

Wieder ein Jahr später waren wir zum dritten Male im Rhätikon. Unser erstes Ziel auf dieser Fahrt war die Scesaplana; sie hatte es uns angethan, als wir an ihrem Fusse nach Seewis gewandert waren; nach ihr sollten die aus dem Gamperthonthal nach dem Prättigau führenden Grenzpässe an die Reihe kommen.
Wir waren von Bludenz her durch das Branderthal gekommen, hatten in Brand Adam Beck, den Wirth des hübschen, neuen Gasthauses, als Führer engagirt und stiegen im letzten Schimmer des Tages die steilen Schutthalden des „Bösen Trittes“ hinan nach dem Lünersee. Geheimnisvoll wie ein Märchen liegt der schöne Bergsee da im Zwielicht der Dämmerung; an seinem Ufer wandern wir noch einige Minuten fürbass und das kleine Wirthshaus ist erreicht. Heller Lichtschein fällt aus seinen Fenstern auf die Felsblöcke des Ufers; die Stube ist angefüllt mit Bergfahrern aller Arten und aller Costüme, und in der Küche dampft und brodelt es, als ob eine Armee zu bewirthen wäre. Das Haus am Lünersee, wie der vorzüglich angelegte und unterhaltene Weg, der so bequem zu ihm heraufführt, sind Werke des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins, dem der Dank aller Scesaplanafahrer gebührt.
Draussen lag die milde Sommernacht über Berg und See. Stern um Stern war heraufgezogen; über den Felsen im Osten wurde es hell und heller; jetzt zittert der erste Strahl des aufgehenden Mondes herüber, und bald strahlte die ganze Scheibe am klaren Himmel und goss ihr Silber herab auf den leicht gekräuselten Spiegel des See’s.
Im ersten Frühlicht des jungen Tages stiegen wir die steilen, zum weiten Plateau der firnbedeckten Todtenalp hinanreichenden Halden empor. Am Rande des Schnee’s war erster Halt; tief unten spiegelt der Lünersee die hellen Töne des Morgenhimmels wieder, von dem sich die grotesken Felsformen von Schafgafall seltsam abheben. Ueber die weiten Schneeflächen folgten wir dem eingestampften Pfade westlich bergan; schon erglühten die höchsten Partien der Felsen zu unserer Rechten in der Morgensonne, und bald sandte sie ihre Strahlen auch zu uns auf den Firn. Das war ein herrlich Wandern am klaren Sonntagmorgen: das warme Weiss des beleuchteten Schneegrates, dem wir zustreben, in prächtigem Contrast zum tiefdunkeln, satten Blau des westlichen Himmels, die kräftigen Töne der Felsen, die im hellen Sonnenschein eine unendliche Mannigfaltigkeit der Farben zeigten; daneben die kalten Schattenpartien des Firns: all das bildete jene wunderbare Farbenzusammenstellung, die wir in der Region des ewigen Schnee’s finden, wenn die allbelebende Sonne fröhliches Leben und Anmuth in die starre, ernste Scenerie der Hochgebirgslandschaft hineinzaubert.
Um 7 Uhr standen wir beim Signal auf der Spitze der Scesaplana. Kein Wölklein war am Himmel, kein Nebel trübte die Fernsicht: die fernste Spitze der Schweizer- und Tyrolerberge war sichtbar, ein Panorama von gewaltiger Ausdehnung, ein gut Theil des Schweizerlandes, Tyrols und Schwabens umfassend, breitete sich in wundervoller Klarheit vor uns aus.
Nach langer Umschau auf dieser höchsten Warte des Rhätikons stiegen wir steil über Fels und Schnee hinab zu der Stelle am felsigen Absturz, da ein Pfahl den neuen Weg nach der Schamellahütte auf Schweizerboden andeutet. 400 m unter uns, am Fusse der Felsen, war das Dach der Clubhütte sichtbar; unser Führer, dem wir einen weiten Umweg gern ersparen wollten, verliess uns hier, und wir suchten uns, mehr rutschend als gehend, den Weg durch die Felsen hinab.
Um 11 Uhr legten wir unsere Tornister in der gut eingerichteten Clubhütte ab und kochten mit vereinten Kräften eine währschafte Erbssuppe; Teller und Löffel bot die Hütte, die weiteren Zuthaten zum Dîner im Hotel Schamella die Tiefe des Ränzels, und im hohen Grase und warmen Sonnenschein genossen wir hier oben eine köstliche Siesta.
Des heutigen Tages Ziel, die Hütten der Alp Fasons, war in geringer Entfernung in Sicht und nach langer Mittagsrast wanderten wir bergab, unserem Ziele zu, wo uns bald ein hoher, kühler Raum mit blitzenden Kesseln und blanken Milchgeschirren aufnahm.
Gegen Abend spazierten wir ein Stück bergan, um den Weg des folgenden Tages zu mustern. Die Hütten der Alp liegen am rechten Abhang des Stegentobels, das sich weiter unten mit dem Valsertobel vereinigt. Folgt man seiner Rinne bergan, so führt sie zur Schlucht des Schafloches, durch die ein Weg nach der Scesaplana hinaufführt. Dort, wo die Felsen des Alpsteinmassivs links schroff zum Grenzgrat abfallen, ist die Uebergangsstelle der kleinen Furka oder des Salarueljoches nach dem östlichen Seitenthale von Gamperthon. Verfolgen wir den Grat weiter nach links, so schwingt er sich bald zu einem breiten, felsigen Gebirg auf mit bizarr ausgezackten Contouren, den „kurzen Gäng“, an das sich der Gipfel des Tschingels reiht, und zwischen diesen beiden Bergen durch, wo die Grenze sich eine kurze Strecke südwärts wendet, führt die große Furka nach dem Hauptthal von Gamperthon hinüber. Eine weite grasreiche Mulde, der Heuberg, senkt sich vom Tschingel herunter; dort hinauf gelangt man ins Tschingelthäli und durch dieses zu einem dritten Grenzübergang, dem in den Platten oder Kellern (Kellernen) ob Jes.
Nun waren wir über den bevorstehenden Marsch orientirt und kehrten zu den Hütten zurück. „Wohin geht die Reise?” fragt uns einer der Aelpler. „Nach dein Seewiser Fürkli hinauf.“ „So! führt Ihr Contrebande?“ Die Frage, die uns nicht wenig ergötzte, ist hier ganz naheliegend; es wird viel geschmuggelt über diese kleinen Grenzpässe; vierzehn Tage vorher waren zwei Schwärzer aus Brand auf dem Gletscher oben erfroren.

Als die Morgensonne die Weiden und Felsen der jenseits des Valsertobels sich erhebenden Bündner „Picardie“ vergoldete, war Tagwacht auf Fasons, und um 5 ½ Uhr Abmarsch nach der kleinen Furka. In der frischen Morgenluft stiegen wir inmitten weidender Heerden die thauigen Matten hinan. Zahlreicher werden die verstreuten Felsblöcke, spärlicher der Rasen; bald sind wir in den Geröllhalden, die von den Felsen des Alpsteins herabkommen. Eine Gemse mit ihrem Zicklein macht weiter oben den nämlichen Weg; bald äsend, bald in muntern Sprüngen steigt das Paar bergan; nun sind sie auf dem Grate: einen Augenblick zeichnet sich die elegante Silhouette der Thiere am Horizont ab, dann verschwinden sie am jenseitigen Abhang.
In das kleine Augstenbergthälchen geht’s nun hinein, durch dessen Wiesenboden sich die obersten Quellenarme des Valpeidabaches schlängeln, und wir stehen am felsigen Abhang des Grenzgrates; seine ausgezackte Schneide nimmt immer abenteuerlichere Formen an, je näher wir ihr kommen. Noch eine halbe Stunde steilen Anstieges durch Felstrümmer und Geröll, und um 7 Uhr sind wir auf der Passhöhe. Rechts zieht sich eine Schutthalde zu den Felsen des Alpsteins hinauf, links starren die Klippen des Grates wild empor und hängen über seinen Nordrand, und wie wir am jenseitigen Hange ein paar Schritte hinunter gehen, sehen wir, unter einen überhängenden Felszacken geschmiegt, ein paar Mäuerlein, die Jägern und Grenzern Schutz gewähren sollen.
Unter uns liegt die östliche Abzweigung des Gamperthonthales; auf seiner rechten Seite, der Panüelalpe gegenüber, ragen die Felsen der Panüeler Schrofen und senden ihre gewaltigen „Riesen“ nieder nach der Thalsohle, und an ihrem Fusse führt der von St. Rochus herkommende Weg vorüber und windet sich im Zickzack die lange Schutthalde des nördlichen Abhanges herauf zur Passhöhe. Das ist der Uebergang der kleinen Furka oder des Salarueljoches, wie ihn die Vorarlberger nennen.
Wir stiegen wieder durch die Trümmerhalde hinab und wandten uns westwärts ins Alpenthal des Augstenberges. Bis jetzt hatte die Morgenwanderung im Schatten der Scesaplana stattgefunden; nun brannte die Sonne tüchtig auf den Rücken, als wir der grossen Furka zuwanderten. Nach stündigem Marsch über die Wiesen am Fuße der „kurzen Gäng“ erreichten wir die Passhöhe; im Gegensatz zum schmalen, felsigen Einschnitt der kleinen Furka ist die Uebergangsstelle der grossen ein weiter, breiter Sattel von Alpweiden. Ueber eine Felsterrasse stiegen wir hinunter bis zum Rande des steil nach dem Gamperthonthal abfallenden Abhanges, schlugen dort mit Plaid und Bergstock ein Zelt auf gegen die Strahlen der Augustsonne und hielten Rast und Umschau.
Hinter uns ragen die „kurzen Gäng“, die wir hier ganz im Profil sehen, in kühnen Formen in die Luft und rechtfertigen als schlanke Felsspitze mit senkrechten und überhängenden Wänden den Namen „Hornspitz“ der österreichischen Karte. Von ihren Abhängen zieht sich der grüne Grat der grossen Furka hinüber nach dem Tschingel zu unserer Linken. Die Schutthalden, die sich von den Nordwänden des imposanten Felsstockes herabsenken, verflachen sich auf einem breiten, schneebedeckten Plateau von Karren, das sich, überall gangbar, von unserem Standpunkte hinüberzieht nach dem Uebergang der Platten oder „Kellernen“, und dessen felsiger Nordrand schroff zum obersten Theile des Gamperthonthales abfällt. Jenseits des Plateau’s steigt der Grenzgrat, über dessen Linie die scharfe Spitze des Gleckhornes hervorschaut, wieder an und gipfelt in der aus Schneefeldern und Felsen hervorragenden Pyramide des Naafkopfes oder Schneethälispitzes (Punkt 2574,4 ohne Namen der topographischen Karte, in der Dufourkarte fälschlich Grauspitz genannt), und von dieser Spitze senken sich uns gegenüber die von Felssätzen unterbrochenen Weiden der Vermalesalpe herab zur Thalsohle; Wegspuren ziehen sich dort hinauf zur Uebergangsstelle des Passes „in den Kellernen“. Rechts vom Naafkopf führt ein Pfad von der Vermalesalpe über das Bettlergrätli nach der Alp Gritsch im Saminathal.
Ueber die Pfade dieser Partie des Rhätikons, die wir heute zum Theil begangen haben, zum Theil vor uns sehen, sind anno 1799 die  Oesterreicher zur Umgehung der Luziensteig aus dem Gamperthonthal nach Graubünden hinübergestiegen. Wir wollen versuchen, an Hand der jene Epoche behandelnden Werke die Colonnen auf ihrem mühsamen Marsche über das rauhe, verschneite Gebirge zu begleiten.
Am 1. Mai sollten sich drei österreichische Abtheilungen, die links und rechts der Luziensteig die Berge zu überschreiten hatten, im Rücken der Werke vereinigen und den Frontalangriff der vierten Colonne unterstützen.
Die Umgehungscolonne westlich des Passes hatte, 3 ½ Bataillone stark, über den Fläscherberg zu steigen; die erste der östlichen Abtheilungen, ein Bataillon, haben wir beim Grate von Mazoura, der den Kessel von Guscha vom Wildhaustobel trennt, erwähnt, und die andere war schon am 29. April von Nenzing im Vorarlberg aufgebrochen, um durch das Gamperthonthal nach dem Ganeyerbad hinüber und von da nach Jenins hinunter zu steigen. Ihre Schüsse sollten das Signal zum allgemeinen Angriff sein.
So sehen wir 1 ½ Bataillon unter Major Vukassovich, begleitet von den Nenzinger Schützen, das Gamperthonthal heraufziehen. Wenn sie den nächsten Weg eingeschlagen, so haben sie bei St. Rochus das Hauptthal verlassen und sind durch das östliche Seitenthal nach der kleinen Furka hinauf und über die Alp Fasons nach Ganey hinabgestiegen. Der 1. Mai brach an. Das Bataillon, das unter Major Quelf von Lavena nach Guscha hinübergestiegen war, bemächtigte sich zwar am frühen Morgen des Dörfleins, hatte aber keine weiteren Erfolge, da die Franzosen nicht versäumt hatten, den Guscherweg und Wald durch Verhaue zu sperren. Es entspann sich hier eine unnütze Plänkelei, deren Schüsse irrthümlich für die der Colonne Vukassovich’s gehalten wurden; die Truppen vor der Steig griffen an und warfen die französischen Vorposten in die Schanzen zurück, weiter kam es auch hier nicht.
Besseren Erfolg hatten die 3 ½ Bataillone unter Graf St. Julien, die in der Nacht von Mels aus den Fläscherberg erstiegen hatten. Sie vertrieben die Franzosen aus ihrem Verhau, bemächtigten sich des Dorfes Fläsch und rückten, die Franzosen vor sich her jagend, Vormittags 10 Uhr mit neun Compagnien in Maienfeld ein, nachdem auf dem Fläscherberg und in Fläsch Reserven gelassen worden waren.
In Maienfeld erwarteten die ermüdeten Truppen mit Ungeduld das Eintreffen der andern Colonnen, aber weder von Guscha, noch von Jenins her kam die erhoffte Unterstützung. So musste denn Mittags 12 Uhr die isolirte Abtheilung den Rückzug nach dem Fläseherberg antreten; aber da erfolgte auch schon der Angriff der französischen Reserven in Front und Flanke, und die Bewegung, die mit so günstigem Erfolge begonnen hatte, endete mit einer empfindlichen Schlappe.
An diesem Missgeschick war grossentheils die Gamperthoner Colonne Schuld. Vukassovich scheint vom Ganeyerbad nach Seewis hinunter gestiegen zu sein und von hier eine Abtheilung nach der Prättiganerklus detaschirt zu haben, während der Rest sich über den Seewiserberg Jenins zu bewegte. Sei es, dass der tiefe Schnee den Marsch verzögerte, sei es, dass sich die Colonne verirrt hatte: sie kam nicht zur rechten Zeit an ihr Ziel und musste dann den Rückzug auf nämlichem Wege, wie sie gekommen, antreten. Die Abtheilung Quelf’s ging von Guscha auf Umwegen zurück und gelangte endlich durch das Saminathal wieder nach dem Hauptquartier in Feldkirch.
Vierzehn Tage später erfolgte der gemeinsame Angriff auf Graubünden durch Hotze von Vorarlberg und Bellegarde von Tyrol aus, und wieder belebten sich all die aus Montafun und Vorarlberg nach der Schweiz führenden Pässe. Hotze beschloss, die Umgehung der Luziensteig über Fläscherberg und Guscha fallen zu lassen, dagegen diejenige durch das Gamperthonthal mit weit grösseren Truppenmassen auszuführen, und so sehen wir denn am 12. Mai acht Bataillone im Anmarsch nach diesem Thale. Lebensmittel und Munition waren im Voraus von Landleuten nach den Pässen geschafft worden, die die Vorarlberger Schützen schon besetzt hielten, die Wege hatte man so gut als möglich für den Marsch der Truppen ausgebessert.
Drei Bataillone, verstärkt durch zwei freiwillige Schützencompagnien aus Vorarlberg, gingen am 13. Mai unter Generalmajor Jellachich nach den Maienfelder Alpen hinüber. Sie schlugen den Weg über die „Kellernen“ und durchs Engitobel hinab ein und bivouakirten dort in tiefem Schnee.
Die andern fünf Bataillone unter Generalmajor Hiller waren nach Seewis bestimmt. Sie werden also von St. Rochus aus der ersteren Colonne das Hauptthal gelassen und den nächsten Weg über das Seewiser Fürkli oder Salarueljoch nach Fasons eingeschlagen haben und kamen in der Mitternacht des 13./14. Mai in Ganey an. Die Ruinen des Schwefelbades legen von diesen Besuchern Zeugnis ab: wurde doch, wie man erzählt, in jener Nacht alles Holzwerk des Hauses losgerissen und zu Wachtfeuern für die frierenden Truppen verwendet.
Am Morgen des 14. Mai wurde zum Angriff geschritten. Jellachich detaschirte sechs Compagnien unter Führung von Major Eöttvös mit den oberständischen Freiwilligen durch das Glecktobel hinab, während er mit dem Gros, wie wir denken, den Jeninser Alpweg hinabstieg und Jenins und Maienfeld besetzte. Sowie Eöttvös derart seinen Rücken gedeckt wusste, griff er die mit zwei Bataillonen und acht Kanonen besetzten Schanzen von rückwärts an, drang trotz des Feuers der umgewandten Geschütze nach heftigem Kampfe ein und öffnete die Thore, durch die Hotze an der Spitze seiner Ulanen einritt. Die Luziensteig war wiedergewonnen; auf der freigemachten Strasse nach Graubünden rückte Hotze ein und vereinigte sich an der Landquart mit Jellachich und in Zizers mit der Colonne Hillers zum Vormarsch gegen Chur.
Hiller’s Colonne war von Ganey nach Seewis herabgekommen, hatte dort die Franzosen aus ihren Verschanzungen und dann aus ihrer zweiten Stellung bei der Schlossbrücke in der Klus geworfen; über das Schweizerthor, das St. Antönier- und Schlappiner-Joch kamen die andern österreichischen Colonnen ins Prättigau herab, und Dank der Uebereinstimmung all dieser Bewegungen waren alle im Prättigau befindlichen Feinde abgeschnitten und wurden 3000 Franzosen gefangen. – So gestalten sich die Bilder jener denkwürdigen Tage, wenn wir an Hand der Angaben der citirten Werke, sowie mündlicher Ueberlieferungen, dem Gange der Ereignisse im Terrain selbst folgen; ein lehrreiches Kapitel aus der Zeit, da fremde Händel zur Schweizergeschichte wurden, weil sie auf Schweizerboden zum Austrag kamen.
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, als wir unser Zelt abbrachen und der Tschingelterrasse zuschritten. Ein rechter Schattenwinkel, dieses Plateau; die Felsmassen des Tschingels wehren den Sonnenstrahlen das Eindringen und so ist es denn das ganze Jahr hindurch im Schnee, und nur am felsigen Rande ist Leben und in reicher Fülle blühen da Steinbrech und tiefblaue Gentianen, glühen die rothen Sternlein des Mannschilds und nickt die Glockenblume zwischen den Felsen. Aus dem lieblichen Thale von Gamperthon grüsst ein Theil der Häusergruppe von St. Rochus herauf; der „Nenzinger Himmel“ heisst dieses Sommerdörflein mit seiner Kapelle inmitten fetter Alpweiden.
Wir waren am westlichen Ende der Terrasse angekommen, da wo ihr felsiger Nordrand sich in den vom Naafkopf herunterkommenden Abhängen verliert. Ueber die rauhen Felsblöcke der „Platten“ und über kleine Schneefelder gings nun nach dem Sattel am westlichen Fusse des Tschingels. Dort zeigt eine Steinpyramide die Ländergrenze an, und durch das gemsenreiche Tschingelthäli gehts hier hinunter nach dem Heuberg und der Alp Fasons. Dem Grenzgrat westlich folgend, kamen wir bald zu der Uebergangsstelle „in den Kellernen“ (Kellern); eine Reihe von spaltenreichen Felsblöcken am Südrand des Grates tragen diesen Namen. Die Sage vom Wälschen, der sich hier reiche Schätze aus den Steinen geholt, spukt auch hier, wie so mancherorts in den Alpen.
Denn Gold in Menge liegt in unsern Bergen,
Nur weiss es nicht ein Jeder aufzuspüren
So gut wie jene klugen Venetianer.
Sie wühlen aus der Erde und sie schmelzen
Aus Kieselstein, und waschen aus dem Bachsand
Das gelbe Gold und schleppen’s in die Heimat.
(Baumbach)
So gut ging’s freilich den Prättigauern nicht, die – es ist noch keine lange Reihe von Jahren seither – hier oben nach Gold gruben. Nach vergeblichem Graben, Pickeln und Klopfen flog ein Käuzlein, durch den Lärm aus einer Felsspalte aufgeschreckt, an den Goldsuchern vorüber ins Freie; panischer Schrecken ergriff die Schatzgräber, die glaubten den bösen Geist zu sehen und Pickel und Hammer fallen liessen. Am Golde hängt, nach Golde drängt doch Alles – selbst auf hoher Alp.
Ueber steile Schutt- und Grashalden gelangten wir bald nach Jes hinab. Wie anders sah es hier aus, als vor einem Jahre, da der Schnee bis fast zu den Hütten herabreichte! Nun war keine weisse Stelle im ganzen Hochthal zu sehen, als dort oben rechts von der Scharte des Fürkli der „weisse Sand“, eine helle Schutthalde, nahe bei der „rothen Platte“, einer Felspartie von dunkelrother Färbung. Dort ist ein beliebter Standpunkt für Gemsjäger, und dort geht, bei Punkt 2498 der topographischen Karte, noch ein Pfad, der „schwarze Gang“, über die Grenze zur Vermalesalpe, ein Jägerweg, der die gute Eigenschaft hat, dass er ganz in der Nähe der Grenze der drei Länder ist und man von dort aus leicht das Gebiet wechseln kann, wenn es noth thut.
Ueber die im reichsten Blumenschmucke prangenden Wiesen gings nun wieder Stürvis zu, und auf dem bekannten Wege erreichten wir gegen Abend Seewis und das Hotel Scesaplana. Auf seiner Terrasse ruhten wir von unserer Passwanderung aus; ein Gewitter war über den Rhätikon heraufgezogen und im dumpfen Donnerrollen enthüllten die Blitze auf Momente in scharfen Contouren die schwarze Masse des Grenzgebirges.

Wir sind am Ende unserer Passtour angelangt und da drängt es uns, dem stillen, bescheidenen Freunde, der uns auf Schritt und Tritt begleitet und geführt hat, dem Blatt 273 der topographischen Karte unseren Dank abzustatten. Der militärische Nebenzweck unserer Wanderungen, die Recognoscirung der Grenzübergänge, brachte es mit sich, dass die Karten dieses Terrainabschnittes weit genauer studirt wurden, als dies ohne ihn geschehen wäre. Wir haben vom Falknis bis zur Scesaplana das Blatt 273 verifizirt und seine wahrhaft mustergültige Zuverlässigkeit in alle Details hinein constatiren können. Jeden Verbindungsweg von Alp zu Alp, jedes Wässerlein, jeden Felskopf, alle die Grenzübergänge (mit alleiniger Ausnahme des Pfades über die „rothe Platte“ ob Jes) finden wir angegeben. Schade aber ist es, dass Alles, was nicht schweizerisches Land ist, auf der Karte im unschuldigsten Weiss prangt, als ob beim roth und weiss angestrichenen Grenzzaun die Welt überhaupt aufhöre. Könnte man nicht die nächsten jenseitigen Wasserläufe einzeichnen, die Gebirgszüge wenigstens durch ihre Namen andeuten und die Passwege bis zu den ersten Ortschaften oder Alpen fortsetzen – ähnlich wie die Dufourkarte sogar weiter entfernte Striche jenseits der Grenze behandelt?
Die Weg- und Alpen-Angaben der österreichischen Karte im Gewirre ihrer Schraffen haben wir auf ihrem Gebiet ebenfalls vollständig zuverlässig gefunden; das Relief des Gebirges kommt dort allerdings lange nicht so zur Geltung, wie in unserer Dufourkarte; dagegen sind die Wegangaben sowie die Nomenclatur der letzteren in einigen Punkten nicht richtig.

(Quelle: Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. 21. Jahrgang, 1885-1886)

Schuders und seine Bewohner

Auf nach Schuders.

Mit der Rhätischen Bahn fährt man von Landquart durch die wildromantische Klus ins Prättigau. Die Ausläufer der Rhätikon- und der Hochwangkette, die das liebliche Wiesental einschliessen, treten hier so enge zusammen, dass kaum Raum bleibt für Strasse, Eisenbahn und Fluss. Zu beiden Seiten erheben sich schroffe Felswände; mächtige Pallisaden stehen da zum Schutze der Verkehrsmittel. Ernst und düster schauen von schwindelnder Höhe riesige Wettertannen herunter ins Tal und lauschen dem Gurgeln der schäumenden Landquart und dem Pusten des schnaubenden Dampfrosses. Hoch oben am Fusse einer Felswand erblicken wir die Ruinen der alten Feste Fragstein, stumme und doch vielsagende Zeugen alter Zwingherrschaft.
Bald sind wir in Pardisla. Hier weitet sich das Tal. Auf unserer rechten Seite, links der Landquart, öffnet sich das Nebentälchen Valzeina, ein stiller Kurort mit neuer, schön angelegter Strasse und Telephonverbindung. Links, auf hoher Terrasse am Fusse des Vilan, liegt Seewis, ebenfalls Kurort, die Heimat des Dichters Johann Gaudenz von Salis.
Wir kommen nach Grüsch. Alte Junkerhäuser verleihen der gewerbreichen Ortschaft ein stattliches Aussehen. Von einem Hügel herunter grüssen die Überreste der Burg Solavers, der Geburtsstätte des letzten Grafen von Toggenburg.
Durch einen breiten, der Landquart abgewonnenen Wiesenplan gelangen wir nach Schiers. Hier steigen wir aus. Vom Bahnhof aus erblickt man in der Richtung des Schraubachtobels die kühnen Wände der Sulzfluh und der Drusenfluh. In Schiers besteht seit 1837 eine von zirka zweihundert Schülern besuchte Lehranstalt, bestehend aus Realschule, Techn. Abteilung, Seminar und Gymnasium.
In Schiers wird noch ein Imbiss genommen und dann geht’s den Berg hinan. Der Weg ist zurzeit recht holperig und kostet manchen Schweisstropfen. Wenn wir wacker ausschreiten, werden wir jedoch in zwei Stunden das 600 Meter höher gelegene Bergdörfchen Schuders erreichen.

Nun kommen wir in ziemlich horizontaler Richtung nach Busserein, einer zweiten zu Schiers gehörigen Fraktion. Ein Teil dieser Gegend wurde vor zirka 100 Jahren durch einen Erdrutsch arg heimgesucht. Es war in den Jahren 1798 – 1803. Unterhalb Spinas, am sogenannten Spitzlig, brach die Rüfe los und bewegte sich bald schneller, bald langsamer, je nach Jahreszeit und Terrain. Bisweilen vermochte sie in einem Tag nur einen Stecken zu „helten” (umdrücken), bisweilen rückte sie ein „Heumäss” (sieben Fuss) weit. Zu andern Zeiten und an anderem Ort blieb sie manchmal ganz stehen, oder fuhr auch bedeutend rascher, so dass die „Wäslig” (Rasenstücke) von den Knaben als Fahrzeug benutzt werden konnten. Zwei Häuser mussten abgebrochen und anderswo aufgebaut werden; ein Stall wurde fortgerissen und viel Boden verwüstet. Eine Frau, welche einmal die Schuttmasse passieren wollte, blieb im Moraste stecken und konnte nur mit Mühe herausgezogen werden. Die Entstehung dieser Runse soll durch ein Erdbeben erfolgt sein; unserer Ansicht nach aber dürfte sie ganz auf die Einwirkung des Wassers zurückzuführen sein.
Wir schreiten abwärts zum sogenannten Crestabrückli; die Hälfte des Weges liegt hinter uns. Nach kurzer Rast geht’s in vielen Kehren die steile Cresta hinauf. Der oberste Teil derselben heisst „Kellertolla”. Von hier geht der Weg wieder ziemlich horizontal durch die sogenannten Kirchenstauden bis zur Pleisrüfe. Diese Rüfe brach in den Jahren 1867 und 1868 los, riss ein grosses Stück Buchenwald in die Tiefe, gefährdete einige Häuser, welche geräumt und abgebrochen wurden, und beschädigte schöne Wiesen in weitem Umkreis. Bald nachdem wir diese Runse passiert haben, erblicken wir vor uns die ersten Häuser von Schuders und die kleine Bergkapelle. Auf einem einladenden Holzhäuschen flattert eine Fahne und winkt ein Schild mit der Aufschrift „Gasthaus zum Schweizertor”. Wir sind etwas müde und unser Magen knurrt, also denn hinein ins „Schweizertor”.

Im Bergwirtshaus werden wir von dienstbaren Geistern, den zwei Töchtern des Hauses, freundlich empfangen. Noch sind keine Gäste da, die Saison beginnt erst. Wir lassen uns an einem Tische nieder und bestellen eine Portion Bindenfleisch mit einem Halben Veltliner. Nachdem wir uns gestärkt haben, treten wir wieder ins Freie. Welch herrliche, durchsichtige Luft! In greifbarer Nähe erheben sich vor uns die imposanten Kalkwände der Sulzfluh und Drusenfluh, vergoldet von der untergehenden Junisonne. Berg reiht sich an Berg. Merkwürdig klar heben sich die Spitzen und Kämme vom Horizonte ab. Doch die Dämmerung sinkt aufs Schweizerland, und wir begeben uns ins Haus. Das Nachtessen ist bereit und schmeckt vorzüglich, ebenso der prickelnde Veltliner.
Bald erscheinen einige Männer des Dorfes, bärtige Kraftgestalten, zum Abendhengert. Morgen ist Sonntag; da sitzt man heute abend noch ein Stündlein gemütlich beisammen und plaudert. Einer erzählt „vom alten Joos”, ein anderer vom „Ausbruch der Pest”, ein dritter vom „Kampf mit Wildlütli”, andere vom „Hexentanz”, von der „Nachtschaar”, vom „geheimnisvollen Buch” u.s.w.

Der alte Joos.
Der „alte Joos” ist nicht mehr unter uns. Am Neujahrstag 1901 haben wir ihn in Schuders begraben. Viele haben ihn gekannt und hören gerne von ihm erzählen, denn er war ein durch und durch origineller Mann. Und er verdient es, dass seiner gedacht werde, denn er war auch ein braver, guter Mann.
Seine ganze Lebenszeit, volle 88 Jahre, brachte er in seiner Heimatgemeinde, dem Bergdörfchen Schuders, zu. Um zuerst von seinen körperlichen Eigenschaften zu reden, so erfreute er sich einer fast ununterbrochenen Gesundheit und ausdauernden Rüstigkeit. Er war eine Kraftnatur, einem Geschlecht von Riesen entstammt, die fast alle ein hohes Alter erreichten (mehr als ein halbes Dutzend Personen seiner nächsten Verwandtschaft sind über 80 Jahre alt geworden). Von seinem Vater weiss man, dass, wenn er nach damaliger Sitte mit Butter nach Maienfeld ging, um sie gegen andere Lebensmittel umzutauschen, er nie weniger als 100 alte Krinnen, also ungefähr 1 ½ Zentner, mitnahm, und dementsprechend war auch wieder die Last auf dem Heimweg; einmal brachte er 22 Quartanen an Mehl etc. auf seinen Schultern von Maienfeld nach Schuders! Es konnte vorkommen, dass er, eine Lägel (50 Mass) Wein in einem Tuch an der Achsel, eine Herde Schafe nach Schuders trieb, wobei es bekanntlich manchen Seitensprung zu tun gibt. Noch im hohen Greisenalter, als er an einem Stecken gehen musste, sah man ihn einen grossen mit Schweinetrank gefüllten Eimer ohne Tragreif, bloss mit der einen Hand am Rande gefasst, ein gutes Stück weit zum Stalle tragen. Ein solcher Recke war der Vater, dessen Gebeine, als sie vor etwa 10 Jahren wieder zu Tage traten, an ihrer ungewöhnlichen Grösse sofort erkannt wurden. Von den Söhnen war Hans, der stärkste, vor etwa 15 Jahren ebenfalls als ein hoher Achtziger im St. Gallischen gestorben. Aber auch unser Joos hatte ein gut Teil der väterlichen Kraft geerbt. Auch er schritt manchmal mit einer Lägel Wein beladen von Schiers den beschwerlichen zweistündigen Weg hinauf. Einmal liess er sich sogar, die Lägel Wein am Kopf, mitten in der stotzigen Cresta bereden, ein Morra-Spiel mitzumachen, und gewann dabei eine Halbe Wein. Noch als Achtzigjähriger trug er einen Salzsack voll grüner Birnen von Fanas bis nach Schuders, ohne ein einziges Mal abzustellen, und von Müdigkeit wollte er noch bei seiner Ankunft daheim nichts wissen. Und dass man einst, nachdem er bis in den Rhein hinunter flössen geholfen, in Malans das Geld zur Auszahlung der Arbeiter, 4000 Fl. in lauter Halbgulden, in einem Habersack ihm bis Schiers zu tragen gegeben, erzählte er noch in den letzten Tagen als ein Beispiel des Zutrauens, das er genoss. Seine Stimme war von so weitreichender Mächtigkeit, dass er den Leuten auf Salfsch, um sich oder andern einen Weg von drei Viertelstunden zu ersparen, über das tiefe und breite Schrautobel hinüber Botschaften völlig verständlich zurufen konnte.
Dieser Körperkraft entsprach auch eine seltene Widerstandsfähigkeit. Es machte ihm nichts aus, wochenlang nur von kalten Speisen zu leben und in den nassen Kleidern zu liegen, wie er sie aus Regen oder Schnee heimgebracht. Bei grimmigster Kälte sah man Joos Thöny nicht bloss stets in gewöhnlicher Kleidung, sondern sogar mit offenstehender Hemdbrust, wobei ihm freilich sein dichter Naturpelz zu statten kam. Vor einigen Jahren machte er eine ernstliche Rippfellentzündung durch, ohne auch nur einen Tag das Füttern des Viehes auszusetzen – zum Erstaunen des Arztes, dem die Krankheitserscheinungen gemeldet wurden. In gewissen Dingen trug er dann wieder Sorge für seine Gesundheit. Nie nahm er in die Hitze hinein einen kalten Trunk, nie übereilte oder überanstrengte er sich bei einer Arbeit. Auf diese Weise erhielt er sich seine ungeschwächte Gesundheit und Kraft bis ins höchste Alter, so dass er bis vor wenigen Jahren seine Landwirtschaft selbst besorgen konnte. Es sind nämlich jetzt 4 Jahre, dass er am Neujahrstag abends, infolge einer mit der Zeit eingetretenen Augenschwäche, sich im Schrautobel hinter Schiers verirrte, im Begriff, sich für den folgenden Markttag nach Schiers zu begeben. Die ganze kalte Nacht brachte er im Tobel zu. Dort trafen ihn am Morgen die Holzfuhrleute, welche ihn ins Dorf führten; Schuhe und Strümpfe waren steif gefroren. Nachdem er trotzdem seine Marktgeschäfte abgetan, blieb er für ein paar Tage zur Erholung bei Verwandten, weil ihm doch von dem nächtlichen Abenteuer her «nid grad so guet» war. Eine Woche später befand er sich wieder daheim, ohne irgendwelche weitere Folgen zu verspüren. Doch liess er sich jetzt dazu bewegen, namentlich mit Rücksicht auf seine Sehschwäche, in den Ruhestand zu treten.
Nun aber zu seinen geistigen Eigenschaften. Er hatte sozusagen keine Schulbildung genossen. Gedrucktes lesen hatte er zur Not gelernt, aber Geschriebenes lesen oder selber schreiben hat er seiner Lebtage nicht gekonnt. Dennoch hat er mehr als 30 Jahre hindurch als „Gemeindevogt” die allerdings, bei der kleinen Gemeinde, einfache Verwaltung der Stiftungen etc. geführt. (Nebenbei gesagt, versah er auch an die 50 Jahre das Messmeramt). Und er war ein guter, gewissenhafter und pünktlicher Verwalter. Die schriftliche Rechnungsführung besorgten ihm auf seine Angaben hin, auf die man sich unbedingt verlassen konnte, jüngere Anverwandte. Ein Rechner war er übrigens aus dem ff; mehr als einmal löste er Aufgaben, die vom Schulinspektor so nebenbei probeweise gestellt worden und die weder in der Schule noch sonst jemand herausbrachte, flink und richtig, wusste aber nie zu sagen, wie er es gemacht. Was ihm aber in Haus- und Amtsverwaltung besonders wohl kam, war ein ausserordentliches, ja beinahe untrügliches Gedächtnis, das Altes und Neues unverlierbar festhielt und ihm bis zur letzten Stunde seines Lebens treu geblieben ist. Wie er sich bis zuletzt um alles und jedes aufs lebhafteste interessierte, so entging ihm auch nichts mehr. Wenn Joos Thöny in einer Gesellschaft einem Erzähler widersprach, ob nun von alten oder von jüngsten Vorkommnissen die Rede war, so hatte der letztere die Sache jedenfalls verloren, und wenn er nicht gerne nachgab, war Joos jederzeit im stande, ihm aus andern Daten und Tatsachen unwiderleglichen Gegenbeweis zu leisten. Man möchte fast sagen: es hätten die Zivilstandsregister von Schiers und den Nachbargemeinden können verloren gehen, Joos Thöny hätte sie in der Hauptsache wieder herzustellen vermocht. Eine Uhr besass er nie, und hatte sie auch nicht nötig, denn er wusste stets, bei Tag und Nacht, auch beim dunkelsten Wetter, die Stunde. Wenn er sich am Sonntagmorgen zum Zeichenläuten aufmachte, so brauchte er niemand nach der Zeit zu fragen, er erschien dennoch immer pünktlich, kaum eine Viertelstunde auf oder ab. Für ihn dauerte das goldene Zeitalter immer fort. Wie er selbst andern mit allem, was er hatte oder konnte, stets gerne diente, so galt ihm auch als selbstverständlich, dass andere es ihm tun; und wie er sich ungeniert bei andern zu Tische setzte, so lud er auch in seiner einsamen Behausung – er war immer unverheiratet – allezeit jeden Vorübergehenden ein und nahm es übel, wenn man ablehnte oder nicht tüchtig zugriff, weil diesem oder jenem etwa Bedenken punkto Sauberkeit der Junggesellenwirtschaft aufsteigen mochten. Sein grundehrliches, gerades Wesen war aller Ohrenbläserei und Zwischenträgern abhold. Wie sehr er selber auf Neuigkeiten erpicht war, ausforschen liess er sich nicht gerne, und ein Geheimnis, das er bei sich trug, erfuhren nur die, welche, weil sie ihn kannten, auf seine versteckten Andeutungen hin schwiegen und taten, als interessiere es sie gar nicht. Er redete auch, nach Art vieler einsam lebenden und nachdenksamen Leute, gerne bloss andeutend und gab zu denken und zu erraten. Seine schönste Charaktereigenschaft – oder ich sollte vielleicht eher sagen: die wertvollste Gottesgabe, die ihm zu teil geworden – war seine unzerstörbare Zufriedenheit. Nie hat ihn jemand über seine Lage, sein Befinden, über Wetter, Misswachs, Unfälle am Vieh u. dgl. oder über irgend etwas klagen gehört. Selbst die Erblindung, der er in den letzten Jahren anheimfiel, brachte seinen Gleichmut keinen Augenblick ins Wanken – eine Seelenruhe, womit er viele Hoch- und Fein-gebildete, ja manchen theoretischen Philosophen zu Schanden gemacht hätte. Wenn man ihn bedauerte oder trösten wollte, so war seine gewöhnliche Antwort: „O, ich habe die Welt lange genug gesehen und kann mir sie ganz gut vorstellen.” Und wirklich wusste er auch noch in den letzten Tagen sozusagen jeden Stein in der nähern Umgebung von Schuders.

Ausbruch der Pest in Schuders.
Im 17. Jahrhundert starben im Bergdörflein Schuders fast alle Bewohner an einer pestartigen Krankheit, nachdem ein Hirte dieses Übel von der Alp herab mitgebracht hatte. Dieser Hirte erzählte, er habe auf der Alp im Freien geschlafen. Wie er eines Nachts erwacht sei, habe er einen übelriechenden Nebel vor sich aufsteigen sehen, wovon er dann krank geworden sei und kaum noch Kraft gehabt habe, sich ins Dorf hinunter zu schleppen. Man entdeckte alsobald an ihm die Pestbeulen, und wenige Stunden nachher verschied er. Nun fing die Pest an, im Dörflein ihre vielen Opfer zu fordern, und die Mehrzahl der Einwohner mussten ihr unterliegen.

Kampf mit Wild-Lütli.
Als die Schuderser ihre erste Glocke mit ungeheurer Mühe den steilen Weg von Schiers nach ihrem Bergdörflein hinaufschleppten, kamen ihnen, wie sie eben den Schraubach überschreiten wollten mit ihrer teuren Last, eine Anzahl Wild-Lütli entgegen, die ihnen verwehren wollten, mit der Glocke weiter zu ziehen, denn wie alle Wild-Lütli, hassten auch sie jedes Glocken- oder Schellengeläute und harmonische Getöne. Die Wilden setzten sich ernstlich und entschieden in Widerstand, und es kam zu einer blutigen Schlägerei, in welcher aber die Schuderser Meister gingen (Oberhand behielten), weil ihrer viel mehr waren. Den kürzeren ziehend, kehrten die Wild-Lütli nicht mehr nach Schuders zurück, sondern flüchteten heulend den Bergen zu und schlugen in den bekannten Felshöhlen an der Sulzfluh und im entlegenen St. Antönier-Tale ihre einfachen Behausungen auf.

Der Hexentanz auf Schuders.
In Schuders war einmal ein Knabe, den seine Eltern, geizige Leute, nie zur Gesellschaft junger Leute lassen wollten. Er ging dennoch eines Abends heimlich ins Nachbarhaus, wo es lustig herging. Man sass fröhlich bei einem Glase Wein, tanzte und war guter Dinge. Der Junge hatte seine Freude daran und wünschte, auch tanzen zu können. Er verliess bald die Gesellschaft, denn er musste gehen, um das Vieh zu füttern. Während er so allein war, dachte er immer und immer wieder: „Wenn ich nur auch tanzen könnte.” So sann er hin und her, wie er das erlernen würde, ohne dass es „Spesen” machte, und sann nach, bis es Zeit war, heimzukehren. Eben war er im Begriffe, den Stall zu verlassen, so begegnete ihm unter der Türe ein altes Männlein, das auf die Frage, wo es noch so spät hin wolle, sagte, dass es zu einem Tanze gehe, ob er auch mit wolle? „Das wäre mir schon recht, wenn ich nur dürfte und selber tanzen könnte.” „Komm nur mit, ich will es dich lehren”, erwiderte der Fremde, „du sollst der beste Tänzer und Geiger werden weit und breit.” Der Bube nahm den Vorschlag freudig an, folgte dem Fremden, und bald kamen sie zusammen an ein Dorngebüsch. Der Alte trat in dasselbe, der Junge folgte, und alsbald war kein Dorngebüsch mehr zu sehen, nein, sie befanden sich plötzlich in einem prächtigen, hellerleuchteten Saale. Der Jüngling war sehr erfreut und machte nicht lange Umstände mit den Tänzerinnen, von denen er aber auch nicht eine einzige kannte; auch die Musik kam ihm zwar sehr schön, aber doch „g’spässig” vor. Nach einigen Tänzen kam der Musikant zu ihm her, gab ihm eine Geige und bedeutete ihm, nun solle er spielen. Der Jüngling aber hatte seiner Lebtage nie eine Geige in Händen gehabt und sagte, das verstehe er nicht. „Probier’s”, sagte der Musikant, und richtig, er konnte so schön spielen, dass er selber sich herzlich freute ob seiner so bald und so leicht erlernten Kunst, die er nun daheim im Abendhengert (Abendgesellschaft) so glänzend zeigen wollte. „Aber”, sagte der Musikant, „jedes von unserer Gesellschaft hat sich ins Gesellschaftsbuch einzuschreiben und du wirst es auch tun”, machte auch, ehe der Schuderser sich besinnen konnte, ihm mit einem silbernen Messerlein ein Schnittlein in den Finger, dass er blutete, und tunkte mit einer Feder den Blutstropfen auf. „Da schreib’, ‘s geht wieder an”, und so schrieb der Bursche seinen Namen in das Gesellschaftsbuch ein. Nun blieb er bis nach Mitternacht beim Tanze, ging dann aber, nachdem der Musikant ihm die Geige, mit der er gespielt, zum Geschenk mitgegeben, auch heim. Am Morgen wollte er, schon bei Tagesanbruch, auf der schönen Geige spielen und dieselbe aus seinem Ranzen herausziehen, da zog er statt derselben einen Katzenschwanz hervor.

Das Totenvolk in der Kirche zu Schuders.
Ein Bürger von Schuders musste als vierzehnjähriger Knabe seinem als „Messmer” dienenden Vater eine Zeitlang helfen, den „Tag anleuten”, weil derselbe infolge Verletzung einer Hand nicht allein die Glocke ziehen konnte. Als sie nun in der Christnacht in die Kirche traten, gewahrte der Sohn, nachdem der Vater schon vor der Türe durch eine bedeutungsvolle Gebärde auf etwas Seltsames ihn vorbereitet hatte, eine solche Menge Gestalten, als müssten sie durch dichtes Menschengedränge sich durcharbeiten. Die ganze grosse Versammlung der Gestalten trug schwarze Kommunionstracht. Es folgte nun ein seltsames Gemurmel und dann ein traurig wehmütiger Gesang, dass dem Vater und dem Sohne ganz „wind und weh” wurde. Von der ganzen Gesellschaft vermochte der Sohn nur die damals noch lebende Grossmutter zu erkennen, die aber innert Jahresfrist starb. Als Vater und Sohn vom „Tagläuten” aus dem Turme zurückkehrten, beschien der Mond der Kirche leeren Raum.

Ein Besuch beim Mädchen.
Es ist zehn Uhr. Die Bauern gehen jetzt nach Hause, und wir begeben uns zur Ruhe. Kaum sind wir eingeschlummert, so weckt uns jedoch ein leises, anhaltendes Pochen an der Haustüre. Aha! ein Lediger, der zu seiner „Liebsten” geht! Eine zarte Mädchenstimme fragt nach dem Begehr des späten Wanderers. Dieser antwortet mit verstellter Stimme, doch so leise, dass wir nichts verstehen können. Nach kurzem Gespräch geht die Türe sachte auf, und leise tritt der Jüngling ein. «Ein süsser Kuss, man hört es kaum.» – Bald sitzen die beiden Glücklichen beisammen auf weichem Kanapee, die Hände ineinander gelegt und sich erzählend „von Lenz und Liebe und sel’ger, goldner Zeit”.
Wir schlafen wieder ein, um nach einigen Stunden abermals geweckt zu werden. Um das Haus huschen dunkle Gestalten und pochen an Türe und Fensterladen, zuerst sachte, dann immer energischer, bis endlich von innen aufgemacht wird. Es sind die „Graber”, die ledigen Burschen des Dorfes, die eine Art Sittenpolizei ausüben. Sie werden nun vom Mädchen mit Wein und luftgetrocknetem Bindenfleisch bewirtet und ziehen dann ruhig wieder ab.
Bald steigt der junge Tag von den Bergen hernieder, und auch unser Jüngling denkt: „Es ist bestimmt – – – -.”
Noch einen Blick, einen langen! „Auf Wiedersehn!” Und hinaus tritt der Jüngling in den frischen Sonntagsmorgen.
Dass es aber mit Gefahr verknüpft ist, wenn „Auswärtige” in einem Nachbardorfe „z’Hengert” gehen, ist aus der Schilderung von den Abenteuern zweier Burschen von Schiers zu entnehmen, für welche wir, der Kürze halber, auf Walter Senn: «Prättigau, Natur und Volk im Landquarttale» verweisen und aus welcher wir nur die Schlussmoral hier abdrucken:
„Der Leser, der den Volkscharakter und das ganze Wesen des „Hengerts” nicht genau kennt, wird durch solche Begebenheiten leicht zur Ansicht verleitet, die „Knaben” seien doch rohe Menschen und deren Untaten sollten strenge geahndet werden. Allerdings spricht aus solchen Zügen nicht gerade ein grosses Zartgefühl, aber es steckt doch so ein bisschen Poesie darin, dass die Knabenschaft keine fremden Schmetterlinge an den Rosen ihres eigenen Gartens naschen lassen will und allzu grosse Hitze durch ein Kaltwasserbad so trefflich zu moderieren im stande ist. Sobald indes ein Auswärtiger alles Rechtens mit einem Mädchen ein Liebesverhältnis angeknüpft und vielleicht der Burschenschaft für den Verlust, den sie dadurch erleidet, einen Trunk gegeben hat, so krümmt ihm niemand ein Haar mehr, mag er kommen und gehen, zu welcher Stunde er will.”

Geographisches und Geschichtliches.
Schuders gehört politisch zu Schiers, ist also keine selbständige Gemeinde, hat aber eigene Schule und Kirche und zählt etwas über 100 Einwohner. Diese bilden noch ein einfaches, urwüchsiges Bergvölklein, das sich fast ausschliesslich mit Landwirtschaft und Viehzucht beschäftigt.
Ausser Kirche und Schule besitzt Schuders, wie übrigens alle Fraktionen von Schiers, eine eigene Alp, oder besser gesagt: benutzte seit ältester Zeit eine ihr von der Gemeinde überlassene Alp. Im Laufe der Zeit gelangte es auch zu Kapitalien, gründete einen Armen- und Schulfonds, wählte eine eigene Gemeindebehörde und fühlte sich überhaupt als selbständige Gemeinde. Durch Grossratsbeschluss vom Jahre 1901 jedoch wurde es auf Grund des Gesetzes von 1872 als zu Schiers gehörige Fraktion erklärt.

Die Häuser von Schuders liegen zerstreut, können jedoch in drei Hauptgruppen zusammengefasst werden: 1. Cresta mit Sapra und Galuonia, 2. Valmära mit Cavadura, 3. die Umgebung der Kirche. Zu Schuders gehört ferner der eine Stunde entfernte Weiler Salfsch. Hier ist es im Sommer recht einsam, dagegen herrscht im Winter meist reges Leben, da in den nahe gelegenen Waldungen (Sonniwald und Liziwald) fast alljährlich grosse Partien Holz geschlagen werden. Über Salfsch gelangt man in drei Stunden nach St. Antönien.

Schuders gegenüber, durch ein tiefes Tobel getrennt, liegen die „Waschkräuter”, Schierser Maiensässe. Über denselben erhebt sich das rühmlichst bekannte Kreuz, ein aussichtsreicher Rasenberg von 2200 m. Höhe. Den Rücken deckt uns die 2400 m hohe Girenspitze, ein Vorposten der Rhätikonkette. Gegen Osten ragen, wie mit Rasiermessern geschnitten, die schroffen Kalkwände der Sulzfluh und Drusenfluh bis zu einer Höhe von 2829 m, in den blauen Äther empor. Die Vorberge Hurscher, Schafberg und Kühnihorn werden überragt von den Granden der Rätschenfluh und der Madrisa. So liegt Schuders idyllisch an sonnigem Bergeshang, inmitten sattgrüner Wiesen und harzigduftender Wälder, umgeben von einem grossartigen Gebirgspanorama. Eine herrliche Gegend für Sommerfrischler: gesunde, ozonreiche, staubfreie Luft, Ruhe und stille Einsamkeit, herrliche Spaziergänge in Wiese und Wald und Alpen, Gelegenheit zu grossen und kleinen Bergtouren.

Jede Familie hat ihre besonderen Zeichen: Hauszeichen, Holzzeichen und Viehzeichen. Mit dem Holzzeichen wird im Walde geschlagenes Holz gezeichnet. Das Hauszeichen wird auf Gerätschaften und Holzgefässen angebracht, sowie in der Stube über der Türe; es ist gleichsam das Familienwappen. Dem Schmalvieh (Schafen und Ziegen), hie und da auch dem Grossvieh wird ein Zeichen in die Ohren geschnitten. Seitdem die Gemeinatzung (allgemeiner Weidgang im Frühling und Herbst) abgeschafft worden, ist der Kleinviehstand enorm zurückgegangen, während früher sozusagen jede Familie bis zwanzig und mehr Stück hielt. …

Spaziergänge und Touren.
(Ein Weg)
Schuders—Maiensässe 1 Stunde
Schuders—Girenspitze (2400 m) 3 ½ Stunden
Schuders—Steinhüttli—Colrosa 3 Stunden
Schuders—Colrosa—Scesaplana (2969 m) 6 Stunden
Schuders—Colrosa—Lünersee 4 ½ Stunden
Schuders—Lünersee—Scesaplana 7 ½ Stunden
Schuders—Lünersee—Brand 6 Stunden
Schuders—Colrosa—Scesaplanahütte 4 ½ Stunden
Schuders—Scesaplanahütte—Scesaplana7 ½ Stunden
Schuders—Scesaplanahütte—Kleine Furka 6 Stunden
Schuders—Kleine Furka—St. Rochus—Nenzing 10 Stunden
Schuders—Vorderälpli 1 ½ Stunde
Schuders—Vorderälpli—Schweizertor 3 ½ Stunden
Schuders—Schweizertor—Rellstal—Montafun 9 Stunden
Schuders—Schweizertor—Ofenpass—Gauertal—Schruns 9 Stunden
Schuders—Schweizertor—Lünersee 5 Stunden
Schuders—Salfsch 1 Stunde
Schuders—Salfsch—Hurscher (2007 m) 3 Stunden
Schuders—Salfsch—Kühnihorn (2416 m) 4 Stunden
Schuders—Salfsch—Schafberg (2463 m) 4 Stunden
Schuders—St. Antönien über Salfsch 3 ½ Stunden
Schuders—Salfsch—Kreuz (2200 m) 5 Stunden
Schuders—Salfsch—St. Antönien—Sulzfluh (2820 m) 8 ½ Stunden
Schuders—Drusenalp—Sporrafurka 5 Stunden
Schuders—Drusenalp—Sporrafurka—Drusenfluh (2829 m) 9 Stunden

Landwirtschaftliche Arbeiten.
Ackerbau wird auf Schuders sozusagen nicht getrieben. Kartoffeln und etwas Gemüse, wie Kohl und Rüben, sind das einzige, das noch angepflanzt wird. In Valmära stehen noch einige Obstbäume, doch ist der Ertrag gering; dagegen wächst ein vorzügliches Heu.
Im Frühling müssen die Wiesen von Holz und Steinen etc. gereinigt und gedüngt werden, welch letzteres besonders an steilen Halden eine recht mühsame Arbeit ist. Zwei Ochsen werden ins Joch gebunden und an einen zweirädrigen, breiten, aber niedern Wagen gespannt. Auf diesen sogenannten „Redig” wird die Mistlade gebunden und darin der Dünger auf die Wiesen geführt. Ein solches Zweigespann nennt man „Brilmeni”. An ganz steile Halden, wo man auch mit diesem Vehikel nicht hinfahren kann, muss der Dünger in einer „Kräze” hingetragen werden.
Besonders anstrengende Arbeit haben die Bauern zur Zeit der Heuernte. „Frühmorgens, wenn die Hähne kräh’n”, stehen die Erwachsenen auf, nehmen einen Imbiss, „ds’ Entnüechtera” genannt, und begeben sich dann an die Arbeit. Jedes nimmt im Stallhof seine Sense vom Nagel, bindet das Steinfass um und geht hinaus auf die Wiese. Rauschend fährt die scharfe Sense durch das taufrische Gras und mäht es zu Schwaden. Maschinen kennt man hier nicht, könnten auch kaum verwendet werden.
Der Ätti mäht voran, Söhne und Töchter folgen ihm. Die Mutter bereitet unterdessen das Frühstück und bringt es dann ins Heu. Es besteht aus Kaffee mit Erdäpfelrösti oder Ribel. Nach dem Essen wird weiter gemäht; Kinder und Frauen breiten das abgeschnittene Gras zum Dörren aus. Ein Bauer, der eben vorbeigeht, ruft: „Haut’s-es?” und der Angeredete erwidert: „Ä Bitz.” – „Jetz ist rächt Heuwätter, ma hed aber au z’tua, gwüss erger as d’Müsch in dr Chimbetta.” – „Ja mer wen-nisch gära lida.” – „Sälb scho. Len-ni ä Bitz derwil. Bhüeti Gott.” „Es gschied scho. Bhüeti Gott Christa.”
Sobald das am Vortag geschnittene Heu vom Tau trocken und oben dürr ist, wird es mit dem Rechen gewendet. Heiss brennt die Sonne über die Mittagszeit. Die Bauern, die sich begegnen, haben jetzt nicht Zeit zu langen Gesprächen. „Hüt git’s dürrs”, sagt der eine; „Ja, hüt git’s guot’s”, erwidert der andere. Nach dem Mittagessen wird nicht lange Siesta gehalten. Das dürre Heu wird jetzt in Stricken gebunden und auf dem Rücken zum Stalle getragen.
Ist das Wetter beständig, so wird am Abend noch ein Stück gemäht, andernfalls muss man das am Vormittag geschnittene Heu zu Schwaden zusammenrechen oder auf „Heinzen” legen. Heinzen nennt man zirka 1 ½ Meter hohe Pfähle, die in den Boden eingetrieben werden, und die mit drei kreuzweise übereinander eingebohrten „Sprossen” versehen sind, auf welche die Heubüschel zu liegen kommen. Das Heu leidet so auch bei mehrere Tage andauerndem Regen nicht. Am ersten schönen Tage wird es dann zum Dörren ausgebreitet und eingeheimst.
Die Arbeiten, die im Winter zu verrichten sind, erstrecken sich meistens auf Haus und Wald. Bald muss der Bauer an einer jähen Felsenwand Holz fällen, bald holt er aus einem höher gelegenen Heugaden eine Ladung Futter für sein Vieh. Siehst du ihn auf seinem grossen Schlitten in kühnen Sätzen eine Schneehalde herunterfahren, so möchtest du für sein Leben besorgt sein! Er selber ist das nicht. Derartige Fahrten sind ihm zur Gewohnheit geworden; er vertraut auf seine Kraft und das gute Geschick. „In Gotts Nama” beginnt er alle seine Unternehmungen.
Am Morgen und am Abend muss das Vieh gefüttert werden. Ist dies geschehen, sind all die Geschäfte in Stall und Scheune besorgt, „der reine Schaum der Euter ausgedrückt”, wie Haller sagt, so lenkt der Vater seine Schritte wieder der häuslichen Wohnstätte zu. Frohsinn und Heiterkeit empfangen ihn dort. In mächtiger, irdener Schüssel trägt die Mutter die Mahlzeit herbei, und die Hausgenossen sammeln sich um den grossen Tisch. Teller gibt es keine, alles taucht in das gemeinschaftliche Gefäss, und sollte es einmal zu einem Löffelgefechte kommen, wie weiland zwischen den feindlichen Eidgenossen bei Kappel, so sorgt der Vater mit wohlgezieltem Schlage für baldige Eintracht.

Hirsche in Schuders.
Bedeutenden Schaden richtet in den Wiesen nicht selten das zahlreiche Hirschwild an, besonders an stillen, abgelegenen Orten. Im Winter kann man von Salfsch aus in den schneefreien Lawinenstrichen hinter Schuders zuweilen bis dreissig Stück beisammen sehen; in mondhellen Nächten kommen sie sogar bis zu den Häusern bei der Kirche. Um Hundegebell, Pfeifen etc. kümmern sie sich um diese Jahreszeit meistens herzlich wenig. Im Frühling weiden sie dann die Bergwiesen ab und lagern ungeniert im schönsten Gras. In einer Wiese hinter dem Dorfe hatte ein Bauer, um die Tiere fernzuhalten, eine Scheuche aufgestellt, indem er einen Heinzen in den Boden trieb und mit alten Kleidungsstücken behängte. Als er aber nach einigen Tagen wieder hinkam, lag die Scheuche am Boden und ringsherum fanden sich frische Hirschspuren.
Schwer litten diese Tiere im Winter 1906/1907. Es waren eben ganz ausserordentliche Verhältnisse, indem ungewöhnlich viel Schnee fiel und nirgends Schneerutsche entstanden, so dass die armen Tiere keinen apern Boden fanden. Eines Tages begaben sich die Wildhüter mit Heu ins Salginertobel. Bald entdeckten sie eine frische Hirschspur hinunter gegen den Bach, fanden daselbst aber nichts, auch keine Spur vom Bache weg. Nun wurde der Flusslauf bergwärts verfolgt, und richtig, mitten im Wasser lag ein Spiesser, der zwar noch lebte, aber nicht mehr die Kraft besass, das Ufer zu erklimmen. Das arme Tier wurde nun aus seiner misslichen Lage befreit, nach Busserein gebracht und dort einem Bauer in Verpflegung gegeben, wo es die gereichte Nahrung gerne annahm und sich bald erholte.
Am gleichen Abend brachte ein Holzfuhrmann die Nachricht, im Salginertobel habe er einen halbverhungerten Elfender gesehen und ihm vorläufig den Inhalt seines Heusackes serviert. Am folgenden Tage begab sich Wildhüter Davatz abermals in diese Gegend und entdeckte das Tier oberhalb des Weges auf einem kleinen Vorsprung. Mit Mühe erreichte er die Stelle; das ermüdete Wild machte keine Miene, sich zu entfernen. Erst als D. es bei den Hörnern nehmen wollte, setzte es sich mit Aufbietung seiner letzten Kräfte zur Wehr. Nun wurde es mit einer in einem nahen Gebüsch geschnittenen Gabel über den Vorsprung hinuntergestossen, von wo es durch die eben getretene Spur des Wildhüters in den Weg gelangte und dann demselben folgend sich talwärts wandte. Beim sogenannten Crestabrückli wurde das abgemattete Tier eingefangen, an einen Strick gebunden und wie ein Haustier weiter transportiert, als ginge es auf den Markt. Schliesslich versagten aber seine Kräfte, und es musste auf einen Schlitten geladen werden. So hielt der arme „Hürni” abends 5 Uhr seinen Einzug in Schiers.
Hinter diesem Schlitten folgte gleich ein zweiter, beladen mit einer erschöpften Hirschkuh. Ein Holzer war in Fadiel unterhalb Schuders auf dem Wege an seine Arbeit auf einen toten Hirsch gestossen, der rücklings in ein Gebüsch eingeklemmt dalag. Bald darauf bemerkte er in der Nähe drei weitere noch lebende Tiere, von denen sich zwei entfernten, das dritte jedoch liegen blieb. Er schaffte nun dieses halbtote Tier, einen Spiesser, an den Weg hinunter und wollte weiter draussen einen Schlitten holen, um es aufzuladen. Auf dem Wege dahin bemerkte er jedoch im Bache eine junge, ebenfalls noch lebende Hirschkuh, die aber nicht mehr weiter konnte. Schnell wurde ein in der Nähe befindlicher Schlitten requiriert, das arme Tier aufgeladen und ins Dorf geschafft, während der zuerst aufgefundene Spiesser vorläufig seinem Schicksal überlassen wurde. Sobald jedoch der Salginerhürni und die unter Fadiel gefundene Hindin in Gewahrsam gebracht waren, wurde auch der arme Spiesser per Extrapost abgeholt. Abends 9 Uhr traf die letzte Expedition unter Leitung von Wildhüter Davatz mit grossem Gefolge in Schiers ein. Die drei Tiere wurden von Landjäger Hartmann in Pension genommen. Zuerst wurde ihnen ein Trunk frische Milch verabfolgt und dann Heu vorgelegt. In der ersten Zeit erholten sie sich scheinbar ordentlich, bald jedoch standen die zwei kleinern Tiere um, während der Elfender im Frühling mit dem auf Busserein in Verpflegung gestandenen Spiesser in den Wildpark von St. Moritz i. E. verbracht wurde.
Der Holzer Disch, welcher die Tiere in Fadiel gefunden hat, sagte, dass er an jenem Tage im Schraubachgebiet nicht weniger als 33 Stück gesehen habe. Ausserdem hielt sich eine Anzahl in Salgina und 15 bis 20 Stück oberhalb Busserein auf. Am besten erging es der Kolonie in den Kirchenstauden bei Schuders, welcher etwa zwei Dutzend angehörten. Auf einem ganz nebenausliegenden Heuschober fanden sie zirka ein Fuder Heu, das sie „rübis und stübis” verzehrten. Am hellen Tage sah man elf Stück in Reih’ und Glied den Stall verlassen.
Von verschiedenen Seiten wurden Beiträge eingesandt zum Ankauf von Nahrung für die notleidenden Tiere. Der Landwirteverein Turbental sandte gratis sechs Ballen Emd, und die Rhätische Bahn sagte hierfür ohne weiteres taxfreien Transport Landquart-Schiers zu.
Bis im Frühling fand man gegen dreissig tote Tiere, einzelne wurden durch die Schneewasser des Schraubaches zu Tal geschwemmt. Eine auf Schuders gefundene tote Hirschkuh war in beiden Ohren gezeichnet, woraus mit Sicherheit geschlossen werden kann, dass das Tier früher einmal in Gefangenschaft lebte.
Trotz des grossen Abganges im Winter 1906/1907 ist ein Aussterben des Hirschwildes nicht zu befürchten. Im Frühling wurden bei den Maiensässen oberhalb Schuders wieder mehrmals über zwanzig Stück beobachtet; auch gibt es aus dem benachbarten Montafun immer wieder Zuzug. Sodann dürfen nur ältere männliche Tiere geschossen werden: ein Abschiessen dieser Tiere aber ist für den Fortbestand der Hirsche im Rhätikongebiet nur von Vorteil. Übrigens ist der Hirsch schwer zu jagen: denn während des Tages hält er sich im dichtesten Gebüsch versteckt und kommt nicht hervor, auch nicht, wenn Menschen ganz in seine Nähe kommen.

Gebäulichkeiten.
Haus und Stall sind einfache Holzbauten. Das Haus steht gewöhnlich links, also gegen Osten, der Stall rechts, etwas zurücktretend und vom Haus durch einen kleinen Zwischenraum getrennt. Das gewöhnliche Haus ist das gestrickte Anderthalbhaus; seltener sind das einfache und das doppelte Haus. Der Eingang ist bald von Osten, bald von Westen, meistens jedoch von Osten, während die Hausfront nach bilden steht. Einen durch einige Tritte erhöhten Eingang nennt man „Schorli” oder „Läubli”.
Der erste Raum, in welchen man eintritt, heisst Vorhaus (Treppenhaus). Aus demselben gelangt man nach unten über eine Treppe in die Kemmete und in den Keller, nach oben auf die innere Laube. Der Haustüre direkt gegenüber findet sich die Küche, und rechtwinklig zu dieser gelangt man in die Stube. Aus der Stube führt eine Türe in die Nebenstube oder Nebenkammer.
Neben der Stubentüre, auf der Seite gegen die Nebenstube, steht der mächtige Steinofen mit hoher Gupfe, hinter welchem eine kleine Treppe hinaufführt auf die obere Kammer. Auf der einen Seite des Ofens ist das Gutschi, auf der andern Seite die Ofenbank, unter welcher früher meistens die „Hennachebia” angebracht war. Jetzt hat das gackernde Hühnervieh auch hier aus der Stube verschwinden müssen. Auf der andern Seite der Stubentüre steht das Buffet, bestehend aus zwei „Schgäffli” unten und einem Gestell für Tassen und Teller oben. Früher stand daneben meistens noch ein kleines, hohes Buffet mit je einem „Schgäffli” unten und oben und einer Platte mit Waschbecken und darüberhängender Giesskanne in der Mitte.
Zwei kleine Doppelfenster gegen Süden und ein solches gegen Osten, resp. Westen, spenden das nötige Licht. In der Ecke zwischen den Fenstern steht der grosse Esstisch, und an den Wänden herum befinden sich solide Bänke. Wände und Decke sind getäfelt. Über der Türe werden in der Regel Name und Hauszeichen des Besitzers, sowie die Jahreszahl eingeschnitten und über den Fenstern steht nicht selten ein frommer Spruch. Auf einem kleinen Gestell in der Ecke über dem Tisch liegen einige dickleibige, in Schweinsleder gebundene Andachtsbücher; daneben befindet sich der Kalenderhalter mit der „Brattig”. Auch die alte Schwarzwälderuhr fehlt in keiner Stube.
Die Nebenstube dient meistens als Schlafzimmer, ebenso die über Stube und Nebenstube gelegenen zwei Kammern. Dieselben haben in der Regel nur kleine und wenige Fenster. Über der Küche und dem Vorhaus liegen das Fleischgemach und die innere Laube. Einen grossen Teil dieser Laube nimmt der mächtige Kaminschoss weg. Häufig finden wir hier auch die Brothange. Von der inneren Laube gelangt man auf die äussere Laube, die meistens mit Rosmarin- und Nelkenstöcken geziert ist. Der Raum unter dem mit Steinen beschwerten Schindeldach wird „Dilli” genannt. Aussen an der Giebelseite des Hauses finden sich oft mehr oder weniger sinnreiche Sprüche. Z. B:
„Gott bewahre dieses Haus Und die da gehen ein und aus.”
„Lass’ Neider neiden und Hasser hassen; Gott kannst du alles überlassen!”
„Veracht’ nicht mich und die Meinen, Betracht’ erst dich und die Deinen! Findst du dann ohne Mängel dich, Alsdann komm’ und verachte mich!”
„Dies Haus ist mein und doch nicht mein, Und meinem Sohn kann’s auch nicht sein. Und wird’s dem Dritten übergeben, So wird’s dem ebenso ergehen. Den Vierten trägt man auch hinaus; Nun! sagt mir doch, wess’ ist dies Haus.”
„Ich hab’ gebaut nach meinem Sinn; Drum, Neider, geh’ nur immer hin; Und wem die Bauart nicht gefällt, Der mach’ es besser für sein Geld.”
„Was stehst du da und tust mich schelten? Geh’ weiter, Narr! Und lass’ mich gelten.”
„Was ich in Sorg’ und Müh’ gebaut, Kann ich nicht lang’ besitzen. Das Haus, das Gott mir anvertraut, Wird einst ein And’rer nützen. Ein Dritter kommt und nimmt es ein; Und dann werd’ ich vergessen sein.”

Der Stall ist meistens auch ein Anderthalbstall, bestehend aus Kuh- und Zustall. Mitten durch den Kuh- oder Hauptstall läuft ein Gang. Auf der einen Seite desselben sind drei Abteilungen für je zwei Kühe und auf der andern Seite findet sich der Raum für Jungvieh, besonders für Kälber. Zu hinterst im Gang steht die „Rüschla”, in welche vom Heuboden das Heu heruntergeworfen wird. Vorn im Stall neben der Türe befindet sich das Borbett. Der Zustall ist nur einseitig und dient zur Unterbringung von Jung- und Kleinvieh. Vor dem Stall ist der Stallhof, auch Brugg genannt. Über dem Hauptstall liegt der Heuboden, über dem Zustall das Tenn und das Montaschiel und über dem Stallhof die Talina.
An Haus und Stall angebaut, finden sich noch allerlei Nebengebäude, wie Holzhaus, Schweinestall, Streuefanilla, Wasserhütte etc.

Aufrüsten und Transport des Holzes.
In den ausgedehnten umliegenden Waldungen werden fast jedes Jahr grössere Partien Holz geschlagen und durch das tiefe, im Sommer unpassierbare Tobel nach Schiers geführt. Im Herbst wird von einheimischen Arbeitern und Italienern aus dem obern Veltlin mit dem Aufrüsten des Holzes begonnen. Diese Waldarbeiter bleiben die ganze Woche im Walde. Da bauen sie sich aus rohen Holzstämmen eine sogenannte Schröterhütte, die als Küche und Schlafstätte dient. Der Eingang ist meistens so niedrig, dass man nur in gebückter Stellung ein- und ausgehen kann; Fenster und Kamin fehlen. Im Innern finden sich der mächtige Feuerwagen und die mit Reisig, Moos oder Rietgras belegte, recht harte Schlafstelle. Da bereiten sich die Holzer ihre nicht gerade lukullischen Gerichte Tatsch und Polenta und legen abends ihren müden Leib zur Ruhe. Um sich gegen grosse Kälte zu schützen, schlüpfen sie in einen Sack oder unter eine Decke und unterhalten auch etwa die ganze Nacht das Herdfeuer.

Das Aufrüsten des Holzes ist eine schwere Arbeit, die Vorsicht und Geschick erfordert. Als Werkzeuge dienen Waldsäge, Axt und Zapin. Die Holzer müssen es verstehen, eine Tanne so anzuschneiden, dass sie dahin fällt, wo man sie eben haben will. Um dies zu erreichen, muss sie manchmal vor dem Fällen entastet und angebunden werden. Der gefällte Baum wird in etwa 5 ½ Meter lange „Tütschi” verschnitten.
Um das geschlagene Holz ins Tal zu befördern, müssen oft kostspielige Wege angelegt werden. Dieselben werden eingegraben oder auch aus Gipfelholz und Ästen hergestellt und aussen mit „Verleggenen” versehen. Dieses Vorlegen kleiner Blöcker, die durch fest eingetriebene Pfähle gehalten werden, gibt dem Weg eine Art Randmauer, sowie eine hohle Form, wodurch das Ausgleiten der Schlitten verhindert wird. Tiefe Abgründe und gähnende Schluchten müssen oft in kühnen Bogen übersetzt werden. Solche Brücken erreichen bisweilen eine Länge von 400 bis 500 Metern. Mit dem Transport des Holzes kann erst begonnen werden, wenn Schnee und Kälte eintreten und der Weg dadurch die nötige Festigkeit erhält. Zur Unterhaltung des Weges sind besondere Weger da.
Das Führen des Holzes ist eine anstrengende und gefährliche Arbeit. Mann und Ross müssen sich auskennen, sonst geht es schlimm. Etwa um 4 Uhr morgens wird eingespannt, und dann geht’s in langem Zuge nach den 4 bis 5 Stunden entfernten Holzladeplätzen. Schellengeklingel und fröhliche Jauchzer ertönen aus tiefer Schlucht herauf. In der Alp werden die mit einem „Paluog” (Einschnitt) versehenen Blöcker schnell auf die eigens konstruierten Bockschlitten geladen, ein bis drei Stück auf das Pferd, je nach der Grösse der Hölzer und der Beschaffenheit des Weges; dann geht es auf schwindligen Pfaden hinaus ins Tal. Wo der Weg starkes Gefälle aufweist, wird eine Kette um den einen Lauf des Schlittens gelegt und so eine Art Bremsvorrichtung geschaffen. Hie und da kommt es vor, dass ein Schlitten umwirft und auch das Pferd zu Falle kommt. Doch eilt man sich gegenseitig zu Hülfe, und bald ist wieder alles im Gang. Unglücksfälle sind wider Erwarten recht selten. Ausnahmsweise wird an steilen Orten das Holz auch gerieset. Doch leidet es nicht selten bedeutenden Schaden, besonders wenn ihm durch ein „Pardell“ plötzlich eine andere Richtung gewiesen werden muss. Das Brennholz wird meistens geflösst, welche Arbeit aber weder angenehm noch der Gesundheit zuträglich ist.

Lawinen.
Eine grosse Gefahr für Waldarbeiter und Holzfuhrleute bilden oft die zu Tale fahrenden Lawinen. Besonders der Winter von 1893 forderte seine Opfer, indem in der zweiten Hälfte des Monats Januar mächtiger Schneefall eintrat. Wie Glaskörner war der Schnee, hart und spröde; rauschend fiel er nieder und fand nirgends Halt. Überall entstanden Schneerutsche und Lawinen, sogar mitten im Wald. Trotzdem gingen die Waldmänner, wetterharte Kraftgestalten, an ihre gewohnte Arbeit.
Aber schon auf dem Marsche fanden sie den Weg nicht selten durch mächtige Schneemassen verschüttet und hatten Mühe, sich durchzuarbeiten. Hie und da stürzte auch plötzlich eine Lawine nieder und riss Mann und Ross in die Tiefe, und zwar an Stellen, die für durchaus gefahrlos galten. Allemal gelang es jedoch, die Verschütteten herauszuschaufeln und so Dutzende dem drohenden Tode zu entreissen. Am 25. Januar aber fiel ihm doch einer zum Opfer. Es war ein gewisser Hans Jecklin von Busserein. Gegen Abend verschüttete eine Lawine in der sogenannten Hell beim Salfscherbrückli unterhalb Schuders sein Zugtier, einen wertvollen, vierjährigen Ochsen. Mit Gewalt mussten die Begleiter, die neue Gefahr ahnten, den Jecklin fortschleppen. Doch diesen reute das schöne Tier; unbemerkt kehrte er wieder um und fand an der nämlichen Stelle seinen Tod. Von der Lawine gegen einen Felsen gedrückt, die Arme wie nach Luft ringend über das Gesicht erhoben, wurde er aufgefunden.

Der nämliche Tag wurde auch noch andern verhängnisvoll. Ein ausserordentlich kräftiger Mann, der im Schraubachgebiet mit Aufladen von Holz beschäftigt war, wurde mitten im Walde plötzlich von einer Lawine in die Tiefe gerissen. Als die Schneemasse zum Stehen kam, lag der Mann auf seinem Gesichte. Doch hatte er die Geistesgegenwart nicht verloren, und da er merkte, dass der über ihm lastende Schnee nicht gar zu tief sein konnte, versuchte er, die Schneedecke zu durchbrechen, indem er mit dem Rücken nach oben stemmte. Der Versuch gelang. Nun bemerkte er erst, dass er einen Beinbruch erlitten hatte und ein Weiterkommen unmöglich war. Auf seine Hülferufe kamen bald andere, in der Nähe beschäftige Holzarbeiter herbei. Sorgfältig und unter unsäglichen Mühen trugen sie den Verunglückten auf einer aus Tannästen hergestellten Tragbahre den steilen Hang hinauf. Der Schnee lag so tief, dass der grösste Schuderser, der wohl über sechs Fuss misst, oft bis an den Kopf eingesunken sei. So waren die Kräfte unter der schweren Last bald erschöpft, und man beschloss, von Schuders Hülfe zu holen. Nur langsam und mit grösster Anstrengung gelang es dem Boten, sich durchzuarbeiten.
Während die Kolonne langsam dem Bergdörfchen zustrebte, ertönten plötzlich von Salfsch her Hülferufe. Dort waren vier Brüder an ihrer Arbeit gewesen, als unvermutet eine Lawine einen derselben zudeckte. Doch gelang es den Dreien bald, ihren Bruder zu retten.
Das Schrecklichste aber sollte erst noch kommen. Von neuem setzte kräftiger Schneefall ein. Am Sonntag nach diesen Vorfällen hatten die Schuderser eine Abstimmung, ob man von den Maiensässen weg einen Holzweg ins Salginertobel ausschaufeln wolle. Alte, erfahrene Männer warnten eindringlich vor dem Vorhaben, da die Lawinengefahr noch zu gross sei. Die Jungen jedoch, welche die Mehrzahl bildeten, waren für den Plan und freuten sich ihres Sieges. Am Montag den 31. Januar wurde mit dem Pfaden begonnen. Nur ungern taten die Alten mit, und bald zeigte es sich auch, dass das Unternehmen zu gefährlich war. Man beschloss also, die Arbeit zu verschieben; noch wollten drei junge Männer nachsehen, ob die grosse Lawine hinter Sapra schon niedergegangen sei. Dabei brach einer so tief in den Schnee ein, dass er längere Zeit brauchte, sich herauszuarbeiten. Diese Verzögerung rettete ihm das Leben, denn plötzlich hörte er ein Geräusch und sah direkt vor sich die Lawine niederfahren. Er musste zusehen, wie seine Gefährten Hartmann Bärtsch und Simeon Tarnutzer, stehend, die Schaufel in der Hand, über den Schneemassen dem schauerlichen Abgrunde zuschwammen. Als die beiden bereits in gähnender Tiefe verschwunden waren, hob der Wirbelsturm noch einmal höhnend die Hüte der Verunglückten über den Abgrund.
Von Schrecken förmlich gelähmt, erreichte der Überlebende kriechend die Maiensässe, wohin die übrigen Weger sich schon zurückgezogen hatten. Sofort stiegen sie ins Tobel hinunter, die Verschütteten auszugraben. Der Leiter der Expedition war Vater des einen und Schwiegervater des andern Verunglückten! Unter grösster Gefahr wurden die Bergungsarbeiten vorgenommen. Während die einen als Lawinenwächter auf Posten standen, schaufelten die andern den Schnee weg. Nach mehrstündigem, anstrengendem Suchen wurde der eine von seinem eigenen Vater als formlose Masse gefunden. Im Mondschein kehrte der traurige Zug nach Schuders zurück; der Leichnam des Ältern konnte erst am folgenden Tage geborgen werden.
Die Beerdigung der beiden fand am Donnerstag statt, wobei sich zwei Zufälle ereigneten, die unter der Bevölkerung grösstes Aufsehen erregten. Zuerst wurde der Leichnam des Ältern aus dem Trauerhause geholt. Als aber der Sarg niedergestellt wurde, brach die Bahre entzwei. Das Merkwürdige war, dass der Tote, der Kirchenvorsteher war, kurz vorher eine neue Bahre hatte anschaffen lassen, da die alte morsch sei. So wollte es der Zufall, dass noch sein Leichnam gegen die alte Bahre Protest einlegte.
Und nun sollte ein Ereignis eintreten, das noch grössere Erregung hervorrief. Die beiden Verunglückten wurden in ein und dasselbe Grab gelegt, und eben schickte ein kleiner Chor sich an, einen Trauergesang anzustimmen, als vom Dach des Kirchleins ein Schneerutsch niederging, direkt in die offene Gruft. Tief ergriffen rief einer der Anwesenden aus: „Die müssen einfach im Schnee sein.” Wohl noch nie hatte eine Beerdigung die Gemüter so erregt wie diesmal. An der Unglücksstätte am Maiensäss hat man den Verunglückten ein einfaches Denkmal gesetzt.
Über einen Lawinensturz aus früherer Zeit findet sich in einem alten Schuderser Kirchenbuch folgende Aufzeichnung: „Anno 1811, den 3./4. Februar a. St., fällte es in den Berggegenden, während es im Land meistenteils regnete, in kurzer Zeit einen so grossen Schnee, dass wenigstens hier auf Schuders derselbe 6 bis 7 Schuh hoch lag. Am 4. dies, morgens, war der Schnee so locker und leicht, dass er an allen Hügeln losbrach und furchtbar herabfuhr. Ungefähr morgens um 8 Uhr kam ein Stoss Schnee vom Plaswald herunter und setzte den obern Teil des sogenannten Stöcklihauses über die Hälfte ein. Obschon die Beschaffenheit des Schnees an diesem Morgen keine grosse Gefahr befürchten liess, so stiess er dennoch auf beiden Seiten des Hauses liegende Bretter und Holztrümmer einige Schritte weit herunter. Im übrigen verursachte er am Haus keinen Schaden. Das unaufhörliche Schneien und ein am Abend ungefähr um 6 Uhr eintretender Sturmwind riss den Schnee los, ob er schon am Nachmittag tauiger geworden. Unmittelbar um Bruchrain brach er los und stiess mit solcher Gewalt herunter, dass die Schneelawine im Vorbeistreichen schon den Ägertengaden zertrümmerte und dann auf das über 100 Jahre ihr im Mittelpunkte stehende doppelte Stöcklihaus kam, dass sie die ersten zwei Wände der Fleischkammer ganz zerscheiterte und sechs der dicksten Firsten zerbrach. Die obere Mauer litt durch diesen heftigen Stoss sehr stark, besonders das Kamin, welches zuerst einstürzte, dem dann die hintere Mauer folgte. Die zwei Stuben, von welchen die äussere seit 80 Jahren die Pfrundstube war, und die zwei Oberkammern blieben zwar aufrecht; dennoch hatte es die Täfel verzogen und die Öfen verspalten.
In der andern arg beschädigten Hälfte des Hauses befanden sich zur Zeit des Unglückes nur einige Kinder. Doch blieben sie alle unversehrt und wurden vom Pfarrer, der zwischen den zerbrochenen Firsten in den andern Teil des Hauses sich hindurcharbeitete, aus ihrer peinlichen Lage befreit. Die Lawine stürzte, ohne jedoch weiterhin nennenswerten Schaden zu verursachen, hinunter gegen Valmära und bis ins Tobel. Das arg beschädigte Haus wurde abgebrochen und andernorts aufgebaut.”

Sitten und Gebräuche.
Eine Hochzeit in Schuders ist eine Seltenheit und wird von der ganzen Gemeinde oder doch von der gesamten ledigen Gesellschaft mitgefeiert. Am Morgen versammelt man sich im Hause der Brautleute bei Glühwein und Backwerk. Bist du noch unverheiratet, so wird dein Hut von irgend einer Schönen mit einem Rosmarinzweig geschmückt. Hierauf begleitet man das Brautpaar zur Einsegnung in das Kirchlein.
Das Festessen findet im Hause des einen der Ehegatten statt und weist seit Grossvaters Zeiten dasselbe bewährte Menu auf. Zuerst erscheint eine kräftige Gerstensuppe; dann folgen geräucherter Schinken mit Reis und Kastanien und als zweiter Gang Schafragout mit Äpfelschnitzen. Als Nachtisch gibt es Küechli und „goldene Bohnen”. Letztere werden aus Mehlteig hergestellt, in süsser Butter gebacken, mit Bienenhonig getränkt und munden vorzüglich. Nach dem Essen wird ein gemütlicher Tanz veranstaltet, wobei die Burschen den Rock ausziehen, ihre Brissago rauchen und kräftig den Takt stampfen.

Ein ähnliches Festessen, „Gsächeti” genannt, findet statt, wenn ein junger Erdenbürger aus der Taufe gehoben wird. Gsächeti heisst es wahrscheinlich deshalb, weil die Wöchnerin zum erstenmal wieder öffentlich gesehen wird. Als Taufpaten werden nächste Anverwandte oder Befreundete gewählt, mit Vorliebe solche, die sich gegenseitig „wohl leiden mögen”, oder solche, die man „zusammenbringen” möchte.

Trauer für die ganze Gemeinde bedeutet ein Todesfall in Schuders. Doch sind dieselben so selten, dass der Pfarrer mit jenem andern sagen könnte: In meiner Gemeinde stirbt jährlich durchschnittlich niemand. Ist eine Person gestorben, so wird bei der Leiche Wache gehalten bis zur Beerdigung, auch während der Nacht. Aus jedem Haus findet sich an einem oder dem andern Abend mindestens ein Glied als „Wacher” ein. Mit dem Gruss: „Ist N. im Herrn entschlafa, so gäb ihm der lieb Gott a fröhlechi Uferstehig und ünsch alla äs gnedigs End”, tritt man ins Trauerhaus. Und mit den Worten: „Das tüe Gott”, wird der Gruss erwidert.
War die Verstorbene eine unverheiratete Person, so flechten die Mädchen des Dorfes einen Kranz auf den Sarg, und die Leichenträger, aus der Schar der ledigen Burschen gewählt, werden mit einem Rosmarinzweig geschmückt. Ist die Verewigte eine ältere, verheiratete Person, so werden als Leichenträger in erster Linie diejenigen Männer gewählt, die seinerzeit von ihr aus der Taufe gehoben wurden.

Früher wurde der Jahreswechsel von den Schulknaben in der Weise gefeiert, dass sie am Altjahrabend von Haus zu Haus zogen und aus dem Bachofen oder dem Psalmbuch die Lieder sangen „Jesus A und O – -” und „Das alte Jahr geht nun zu Ende”, oder „Man wünschet gute Zeiten – -” und „Nun wolle Gott, dass unser G’sang – -“. Einer der ältern Knaben amtete als Vorsänger, ein anderer als Wunschsager. Dieser Wunsch war meistens recht lang und vom Schulmeister oder vom „Heer” verfasst. Jetzt ist dieser Brauch eingegangen, dagegen ziehen die Schulkinder am Neujahrstag zu ihren Paten und Verwandten, um zu gratulieren und eine kleine Gabe einzuheimsen. Es wird dabei folgender Wunsch gesprochen: „I wünscha Ü as guets, glückhaftigs, gsunds, gsägnets, freuderichs Nüjahr, was Ü nutz und guet ist an Seel und Liib und zletscht die ewig Freud und Seligkeit.”

Am Aschermittwoch, als an der „Bschürala”, berussen sich Ledige und Kinder gegenseitig. Natürlich wollen die Mädchen dies nicht geschehen lassen; im Grunde aber möchte doch keine „Wissbrötli” bleiben und so hat sie etwa Kommissionen und Gänge zu machen, bis sie glücklich einem Knaben in die Hände läuft.

An der Fastnacht sodann veranstalten die Ledigen ein „Nidelessen”, Lugmilch genannt, welche Festlichkeit mit Tanz ihren Abschluss findet. Ein ähnliches Nidelessen findet auch im Frühling kurz vor der Alpfahrt im Maiensäss statt. An dasselbe schliessen sich allerlei Spiele im Freien.

Sprichwörter und Redensarten etc.

1. Bim hübscha Wätter nümm d’s Menteli mit, Bim leida chast d’tua wie d’wit.
2. Wenn d’s Wib tuod bucha und bacha soll’ schi dr Ma zum Hus us macha.
3. Wemma vom Schelm redt, so chund’ er.
4. As churz Lied ist gli gsunga.
5. Uf Hitz und Kei, git’s keis bös Gschrei, Aber uf Nässi und Süri git’s Hunger und Türi.
6. Rinnt d’s Wasser über siba Stei, So is’s suber und rei.
7. Niena ist nüt, as wa mas zemmahebt.
8. Mer wend ins Bett, so chönnd d’Lüt hei.
9. Schnit’s vor Martini über da Rhi, so ist dar halb Winter vorbi.
10. A früa Räga und a spata Bättler wärrand nie d’r ganz Tag.
11. A rollenda Stei wasmet nid.
12. Wenn der Bättlerdräck zum Pfäffer würd, so ist er ressar as andera. …

Auf Umwegen auf die Scesaplana.
Es ist ein herrlicher Morgen. Schweigend geht’s den steilen Pfad vom Gasthaus in Schuders hinauf, Richtung Schweizertor. Noch leuchtet der Mond, noch glänzen die Sterne. Aber allmählich wird ihr Schein blasser; leise steigt der junge Tag von den Bergen hernieder. Die Spitzen der Drusenfluh überhauchen sich fahl, erglühen, flammen auf im brennenden Gold der aufgehenden Sonne. Wir sind im Vorderälpli.
Eine Weile schon hatten wir im Wege frische Hirschspuren entdeckt, und nun konnten wir zwei prächtige Exemplare dieses edeln Hochwildes beobachten. Leicht und elegant schritten sie die Alpweiden niederwärts dem Walde zu.
Bald waren wir im Hinterälpli. Anstatt von hier aus durch Partutts den Weg direkt gegen das Schweizertor zu nehmen, wurde beschlossen, der neuen Schutzhütte in der Heidbühlganda und der Schüsshöhle einen Besuch abzustatten. So stiegen wir denn in steilen Kehren hinan gegen den Obersäss Heidbühl. Oberhalb der Alpgemächer, hinter einem riesigen Stein, am Touristenwege, der von der Garschinafurka zum Schweizertor führt, kauert die kleine Hütte. Hier wurde ein Tee bereitet und in „schwellendem Seegras” ein wenig gerastet.
Dann ging es der bekannten roten Markierung nach hinauf zur Schüsshöhle. Dieselbe liegt zirka eine Stunde oberhalb der Hütte, in der westlichen Wand der Drusenfluh. Ihr Eingang ist schmal und niedrig, weitet sich aber bald. Der Gang ist mit feinem Kies bedeckt und verläuft ziemlich horizontal mit mehreren Biegungen über 100 Meter in das Innere der Felswand. Die Decke ist schön gewölbt und weithin von einer sehr regelmässigen Hohlkehle durchzogen. Hinten steigt der Gang plötzlich steil aufwärts. Den Namen hat die Grotte von einem Schuderser, namens Schüss, der sie auf der Gemsjagd entdeckt haben soll.
An Höhlen ist überhaupt das ganze Rhätikongebiet sehr reich; doch sind lange nicht alle zugänglich. Eine solche unzugängliche Höhle findet sich z.B. in der südlichen Wand der Kirchlispitzen, westlich vom Schweizertor. Von dieser Höhle geht folgende Sage: Ein Jäger beobachtete von Partutts aus, wie eine Anzahl Gemsen im Innern dieser Balme verschwanden, und sogleich machte er sich daran, die Stelle zu erklimmen. Fast unüberwindbare Schwierigkeiten stellten sich ihm entgegen, aber die Aussicht auf reichliche Beute trieb ihn vorwärts. Endlich erreichte er die Höhle. Die Gemsen hatten unterdessen jedoch einen andern Ausgang gefunden, weiter oben, in noch ungangbareres Gebiet, wo an eine Verfolgung nicht mehr zu denken war. Unverrichteter Dinge wollte der Jäger seinen Abstieg antreten; allein dieser gestaltete sich noch schwieriger als der Aufstieg. Man weiss nicht, ob der kühne Kletterer von Schwindel ergriffen wurde, ob seine Kräfte versagten, oder ob er einen Unfall erlitt – umsonst versuchte er den Abstieg, er musste wieder in die Höhle zurück. Noch am neunten Tage sollen verzweifelte Hülferufe gehört worden sein; aber Rettung war unmöglich. Wem es einmal gelingt, die Höhle zu ersteigen, wird dort das Steinschlossgewehr und das Gerippe des unglücklichen Jägers finden.

Zur Schutzhütte zurückgekehrt gingen wir den vom S.A.C. neu angelegten Weg hinüber zum Schweizertor. Ein markdurchdringendes Pfeifen drang an unser Ohr, und da und dort verschwanden possierliche Murmeltiere in ihren unterirdischen Behausungen.
Vom Schweizertor ging’s übers Verajöchli zum Lünersee. Auf dieser Wanderung konnten wir ganz in der Nähe ein Rudel von sechs Gemsen beobachten. Fünf davon stiegen auf „ungebahnten Pfaden” hinauf zu den Kirchlispitzen, während ein alter Bock, in mächtigen Sätzen die Geröllhalden traversierend, sich dem Scesaplanamassiv zuwandte.
Am diesseitigen Ufer des Lünersees lud eine schmucke Montafunerin eben eine Anzahl Touristen aus und nahm uns gerne als „Retourfracht” mit. Natürlich ergriffen nun wir die Ruder und arbeiteten uns mit kräftigen Schlägen zur Douglashütte durch. Hier wurde genächtigt.
Am folgenden Morgen rückten wir in aller Frühe der Scesaplana auf den Leib. Es war heute, wie es im Liede heisst, „ein Sonntag hell und klar, ein selten schöner Tag im Jahr”. Fünf Minuten vor Sonnenaufgang war die Spitze erreicht. Welch ein Anblick! Tester hat recht, wenn er sagt: „Alle Gemäldegalerien der Welt, aller Dithyrambenschwung der Dichter ist nur ein Stammeln gegen diese Pracht, diese Erhabenheit!” Da erwacht echte Sonntagsstimmung, da fühlt man den „Tag des Herrn”.
Gegen Osten hin erglühen die Zacken und Firngletscher der Silvrettagruppe im Morgensonnenglanz; über die Albulakette hinaus erblickt man die gewaltige Bernina, und zwischen der Adulagruppe und der Tödikette hin erspäht das Auge sogar die Zermatterberge. Hochwang, Graue Hörner und Kurfirsten werden beinahe übersehen. Über die Appenzellerberge schweift der Blick hinaus auf den Bodensee und die deutschen Lande, und mit den Algäuer-, Lechtaler- und Ötztaleralpen findet das grossartige Panorama endlich seinen Abschluss.
Da das Wetter gar zu verlockend war und uns genügend Zeit zur Verfügung stand, stiegen wir nicht den gewöhnlichen Weg zur Scesaplanahütte des S.A.C. hinab, sondern lenkten unsere Schritte gegen die neue Strassburgerhütte. Dieselbe befindet sich eine halbe Stunde unterhalb des Scesaplanagipfels, am Rande des Brander Ferner. Von der Strassburgerhütte ging’s den Leiberweg hinab in die Zalimalp und dann den Spusagang hinüber gegen den Nenzinger Himmel. Herrlich lagen zu unsern Füssen das sogenannte Hirschbad und das Alpendörfchen St. Rochus. Wir stiegen jedoch nicht so weit hinunter, sondern wandten uns der Kleinen Furka zu. Die ersten lebenden Wesen, die wir wieder auf Schweizergebiet erblickten, waren zwei prachtvolle Grattiere, die in mächtigen Sätzen den sogenannten „Kurzen Gäng” zusprangen. Von der Furka aus wurde abends 6 Uhr die Scesaplanahütte auf Tanuor erreicht. Hier wurden wir als wohlbekannte Gäste von Papa Jost freundlich aufgenommen, und da wir für Montag nichts Bedeutendes vorhatten, entwickelte sich bald ein reges Hüttenleben bis gegen Mitternacht. Morgens um 8 Uhr verliessen wir die herrlich gelegene Hütte und wanderten hinüber nach Colrosa. Anstatt über den vom S.A.C. neu angelegten Weg zum Steinhüttli hinüberzupilgern, wurde beschlossen, dem Girenspitz noch einen Besuch abzustatten. Als Vorposten gewährt dieser Gipfel einen herrlichen Blick auf die Rhätikonkette. Zum letztenmal wurde hier eine Ansprache an den Rucksack gehalten; dann stiegen wir wieder hinunter nach Schuders, wo wir nachmittags 3 Uhr anlangten.

In der Alp-Sennhütte.
Wenn wir von Schuders eine schwache Stunde aufwärts steigen, so kommen wir in das Gebiet der Alpweiden. Eine Alp reiht sich an die andere den ganzen Rhätikon entlang. Und nun wollen wir einmal Einkehr halten in einer Sennhütte und die Hirten und Sennen bei ihrer Arbeit beobachten.
Früh morgens um 3 Uhr müssen die Hirten hinaus aus ihrem „Seegras”, die Kühe zu sammeln. Sind alle die 100 und mehr Stück im grossen Schermen beisammen, so wird mit Melken begonnen. Küher, Senn, Zusenn und Batzger haben sich in das Geschäft des Melkens zu teilen. Jeder hatte am Alpfahrttag durchs Los seine Kühe zugeteilt erhalten. Selbstverständlich ist es keine Kleinigkeit, 20 bis 25 Kühe richtig zu melken. Für den Bauer aber ist es von grösster Wichtigkeit, dass seine Kühe einem tüchtigen Melker zufallen; denn davon hängt zu einem grossen Teil der Gesundheitszustand der Kühe, sowie deren Milchertrag ab. Sämtliche Kühe eines Bauern werden zusammen gemolken, dann die Milch vom Schreiber gewogen oder gemessen und in die gemeinsamen grossen Holzgebsen geschüttet.
Nach dem Melken wird das Frühstück eingenommen, bestehend aus Milch und Brot oder einem Rahmmus. Hierauf treiben Küher und Kühbub ihre Herde hinaus auf die Tageweide, während Senn und Zusenn, Batzger und Schreiber mit Sennen beginnen.
Sorgfältig entrahmt der Senn die duftende Milch; den Rahm schüttet er ins Butterfass, die bläuliche Milch in den Käsekessel. Nun wird das Butterfass, welches inwendig in durchgehende Kammern abgeteilt ist, in Rotation versetzt. In zirka einer Stunde teilt sich der Rahm in Butter und Ankmilch (Schlegmilch). Vorsichtig lässt der Zusenn die süsse Ankmilch ablaufen, nimmt die würzige Butter heraus, knetet sie in frischem Wasser tüchtig aus und formt sie zu Ballen.
Unterdessen hat man der leicht erwärmten Milch im grossen Kessel etwas Lab beigefügt, infolgedessen sie sich in einen leberdicken Quark verwandelt. Diesen Quark zerteilt der Senn mit dem „Käserührer” zu kleinen Flocken, die sich auf dem Grunde des Kessels sammeln. Sorgfältig werden die Flöckchen dann zu einem Klumpen „zusammengetrieben” und mit einem Tuche herausgehoben. Nun bringt der Batzger den „Schgapp” herbei, eine viereckige Form, in welche die blendendweisse „Pulla” hineingelegt, fein „zermiglet”, gesalzen und gepresst wird.
Die zurückbleibende gelbliche Sirte wird noch bis zum Siedepunkt erwärmt und dann mit „Sauer” vermischt. Sofort scheidet sich oben der Ziger aus, der in eine hohe, runde Form gebracht und auf die „Brügi” gestellt wird. Die zurückbleibende gelbgrüne Schotte wird noch als Schweinefutter verwendet. Der Ziger ist nach einigen Tagen geniessbar, während der Käse unter sorgfältiger Behandlung erst ausreifen muss.
Nach Verrichtung dieser Geschäfte wird das Mittagessen bereitet, bestehend aus Milchreis, Tatsch oder Sufi. Letztere erhält man durch Einfällen von eben gewonnenem Ziger in frischen Rahm.
Die Verteilung der Milchprodukte an die Bauern erfolgt im Herbst nach Entladung der Alp auf Grund der vom Schreiber geführten Milchkontrolle.

Wie vor hundert Jahren die Milchprodukte verteilt wurden, lesen wir im „Neuen Sammler” von 1805:
„Acht Tage nach der Alpfahrt wird gemessen, d.h. von den Kühen eines jeden Besitzers wird zu gleicher Zeit eine Kuh gemolken – diese heissen die Einer; dann folgen die Zweier, Dreier etc. Aber der Eigentümer darf dies Melken nicht selbst vornehmen, sondern muss es durch einen andern geschehen lassen, der nicht näher als im dritten Grade verwandt sein darf. Dies heisst z’Einer oder z’Wechsel melken. Am Abend darauf wird wieder in gleicher Ordnung gemolken, nur mit dem Unterschied, dass jeder Eigentümer dies Geschäft an seinen eigenen Kühen verrichtet.
Von diesen beiden Malen wird die Milch einer jeden Kuh besonders gewogen und dem Eigentümer angeschrieben.
Zwei Krinnen à 48 Loth werden für eine Mass und zwei Mass für einen Binner gerechnet. (Es gibt halbe, ganze, zwei- und vierfache Binner; 1 Binner hat 24 Löffel; 12 Löffel sind also 1 Mass.) Nach dem, was jeder an diesem Tage misst, wird sein Anteil an den Molken und an den Alpkosten während des ganzen Sommers bestimmt. Doch mit dem folgenden Unterschied: Es geschieht oft, dass Kühe im Sommer an Milch abnehmen; alsdann misst man alle Wochen am gleichen Tage ihre Milch, und gibt sie dann keinen überlaufenden Messlöffel voll, so heisst es, die Kuh habe gezehrt (abgenommen). Vermindert sich ihre Milch schon im August, so ist es die hohe Zehrung, und der Eigentümer erhält zwar seine Molken nach dem Mass des ersten Messtages, allein er muss für jede Woche seit der Zehrung 24 Blutzger bezahlen und 12 Blutzger, wenn das Zehren erst im September anfing.
Beim Messen wird der Preis der Milch von jedem Senntum bestimmt. Wer 6 Löffel eigene Milch hat, darf 6 Löffel von andern kaufen, um 1/2 Binner zu haben, aber nicht mehr, damit es keine Verwirrung gebe. Hingegen muss das Senntum dem, der weniger hat als 6 Löffel, sie um den taxierten Preis abkaufen, wenn er keinen andern Käufer fände. Zur Nahrung der Hirten u. s. w. wird nach dem Messen von jedem gemessenen Binner etwas abgezogen, 1/4 oder 1/6.
Für jedes Senntum der Kühalpen sind zwei Alpmeister (Brotgschauer) gewählt, welche in der Aufsicht abwechseln; bei den anderen Gemeinden ist sie den Gemeinds-Cavigen anvertraut, die bei wichtigen Fällen die Gemeinde befragen.

Unsere Sennen führen ihre Buchhaltung auf eine kunstlose und doch deutliche Weise. Jeder Alpgenosse hat seine Alpscheite (ein Stückchen Holz), auf welche man die gemessenen Binner mit eingeschnittenen Kerben, die verkaufte Milch mit einem Tupf, die gekaufte mit einem Kritz bemerkt. Die andere Seite dient dem Sennen, die dem Eigentümer à conto gegebene Molken, deren keiner nach dem Verhältnis mehr erhält als der andere, anzuzeichnen und späterhin mit römischer Zahl, was jede Scheite an Alplohn schuldig ist. Der Senn bewahrt die Scheiten, an einer Schnur gereiht, und übergibt sie am Ende der Alpzeit den Alpmeistern. Im März wird dann Rechnung gehalten; jeder Teilhaber zahlt dem Sennen seinen Teil am Lohn, und der Senn quittiert ihm, indem er ihm seine Alpscheite zurückgibt. Das Salz zum Mieten (Lecken) wird aus verkaufter Butter bezahlt.
Das Teilen am Ende der Alpzeit geschieht nach einem gehaltenen Mehren. Zuerst geht der Alpmeister in die Alp und hilft dem Sennen ordnen, damit jeder Eigentümer in Menge und Güte der Molken gehalten werde genau wie der andere. Dann folgen alle Teilhaber nach in die Alp. So viel Binner gemessen wurden, so viel Lose von Schindelstücken werden gemacht, mit dem Hauszeichen des Eigentümers versehen, in einen Sack getan und geschüttelt. Nachdem nun der Senn zwei Käse, zusammen von 15 – 18 Krinnen, vor die Kellertüre gestellt und der Zusenn einen Ziger darauf gelegt hat, langt ein Bub eines der Lose heraus und so fort, bis alles geteilt ist. Je nach dem Jahrgang trifft es 8 – 12 Krinnen Schmalz auf jeden Binner, 2 Käse à 7 –  8 Krinnen und einen Ziger von 6 – 8 Krinnen. Jeder Senn bestrebt sich, mehr auf den Binner zu geben als andere, denn wer am wenigsten gibt, wird von andern verspottet.”

Es ist 3 Uhr nachmittags. Die Kühe nähern sich langsam dem Stafel, um wieder gemolken zu werden. Nach dem Melken werden sie abermals hinausgetrieben, diesmal aber auf die naheliegenden Abendweiden.

Am Abend nach getaner Arbeit setzen sich die Älpler in der Hütte um ein loderndes Herdfeuer und erzählen sich allerlei Geschichten, z.B.:

Der Haldenjoli.
Vom Haldenjoli erzählt der Senn: Es war im September, kurz vor der Alpentladung. Ruhig schliefen wir auf unserem Heulager, als plötzlich um Mitternacht ein mächtiger Windstoss die Hütte erzittern machte. Jäh fuhren wir auf. Oberhalb der Hütte erhob sich aus Sturm- und Windesrauschen das vielstimmige Geläute der Viehherde und das markdurchdringende Rufen einer Männerstimme. Wir schauten hinaus. Kein lebendes Wesen war zu sehen, nur grosse Wolkenschatten zogen über die mondhelle Weide. Aber von neuem erklang von der Halde herüber die grässliche Stimme des nächtlichen Kühers, gellend, ohrzerreissend, wie der Wehruf eines Verzweifelnden. Immer weiter entfernte sich der unheimliche Hirte mit seiner Herde. Noch einmal ertönte es vom Walde herauf „Hoi, hoi, hoo!” Dann verstummte allmählich das Schellengeläute. Undeutlich und schwach wurde auch der Geisterruf des Kühers und verstummte schliesslich ebenfalls in weiter Ferne. In den Felsen aber fing der Sturmwind an zu heulen, und am Morgen lag Schnee bis weit unter die Alpengemächer hinab.

Die Alpmutter.
Ein Jäger ging im Spätherbst an einer Hütte der Alp Drusen vorbei und hörte in derselben ein Geräusch und Getümmel, als ob es Hochsommer und die Sennen vollauf beschäftigt wären. Die Neugierde lockte den Weidmann, er ging hin, guckte durch eine Kluft in die Alphütte hinein und gewahrte in derselben die leibhaftige Alpmutter. Es war ein altes, buckliges Weiblein, das, am Herde stehend, eifrig mit Kochen beschäftigt war. Rings um den Herd und um die bucklige Köchin herum tanzte eine Schar kleiner Tiere: das eine ein Salzbüchslein, das andere eine Kochkelle, das dritte einen Seihwisch, alle etwelches Kochgerät in den Vorderpfoten haltend, ausgenommen eines, das leer tanzte und nichts in den Pfoten trug. Zu diesem kleinen Taugenichts wandte sich plötzlich das Weibchen und knurrte: „Du, Hanschasperli, choz mer Schmalz!” und siehe da, Hanschasperli erbrach Schmalz in Hülle und Fülle.

Die Puppe in der Drusen-Alp.
Unter dem Stafel der Alp Drusen steht ein grosser Stein, und von Stafel und Stein geht eine schauerliche Sage:
In dieser Alp Drusen waren einmal ein paar mutwillige Knechte und ein ruchloser Senn. Die hatten wenig zu arbeiten, und einer von ihnen fiel im Übermute auf den frevelhaften Gedanken, von „Blätzen” eine Puppe zu machen, lebensgross und menschenähnlich. Dieser Puppe legten sie eine „Juppe” mit kurzem „Gstältli” an, ein „Tschööpli” mit „Zülli” und „Häftli”, ein Paar Schuhe mit „Ringgen” und ein „Flor-Bödeli” mit „Chrüseli”.
Die so angekleidete Puppe wurde von den Alpknechten herumgetragen, auf eine Bank gesetzt, ihr Mus und Rahm eingestrichen, dann Fragen lästerlicher Art an sie gestellt u.a. m. bis der Senn noch auf den gottlosen Gedanken kam, die Puppe zu taufen.
Mit „Plumpen” (grösste Sorte Glocken, die den Kühen umgehängt werden) wurde zu dieser Taufe geläutet. Auf einen Scheiterstock wurde eine „Gebse” gestellt: Das waren Taufstein und Taufbecken. Die Knechte waren die „Götteti” und der Senn selber der „Pfarrer”, der die sündhafte Taufhandlung vollzog.
Eben waren sie daran, an der Puppe die Taufe zu vollziehen, als ein armes, altes Weib in die Hütte trat und um eine Gabe bat. „Wir haben schon eine Alte, die wir futtern müssen”, war die Antwort des herzlosen Sennen. „Die soll essen.” „Gut, ich gehe”, rief das Weib, „und die da soll essen und fressen.” „Ja, essen und fressen soll sie”, rief der Senn höhnisch dem Weibe entgegen und strich mit diesen Worten der Puppe einen Löffel voll Rahm ins Maul.
Da ergriff sie ein grauenhaftes Wunder: Im Augenblicke, als der Ruchlose in den drei höchsten Namen die Puppe mit Wasser begoss, schlug diese die Augen auf und fing an zu reden. „Ja, essen und fressen, essen und fressen will ich”, rief sie. Und schrecklich starrte sie den Senn und die Knechte mit grässlich leuchtenden Augen an. Dann herrschte sie weiter: „Machet, dass ihr so schnell als möglich mit Vieh und Habe fortkommt, der Senn aber muss hier bleiben. Und lasset euch nicht gelüsten, zurückzuschauen, bis ihr über das dritte Tobel gekommen seid.” Der entsetzlichen Puppe Willen wurde erfüllt –  der Senn blieb zurück.
Als sie aber vom dritten Tobel aus nach dem Stafel zurückschauten, breitete die Puppe eben die Haut des Sennen, welche sie dem Frevler bei lebendigem Leibe abgezogen hatte, auf dem grossen Steine beim Stafel aus.

(Quelle: Jahrbuch des S. A. C. 1907 von Math. Thöny, Sektion Prättigau)

Über Waldverhältnisse und Holztransport im Prätigau

… Die Rindengewinnung hat zwar bedeutend abgenommen. Die Rinde kann nur gut entfernt werden, wenn das Holz sich im Saft befindet; zu dieser Zeit geschlagen, ist es jedoch weniger schön und dauerhaft. Es kommt deshalb wenig Holz zum Entrinden für die Gerber, und diese klagen bereits, dass es immer schwieriger werde, den Rindenbedarf im Inland zu decken.

… Weil viel Holz ungeschnitten aus dem Lande weggeführt wird, geht an den Sägspänen viel gutes und billiges Streuematerial verloren. Es ist wirklich schon in dieser Hinsicht zu bedauern, dass nicht mehr Holz im Produktionslande selbst geschnitten wird. Es sind zwar einige gut eingerichtete Sägen im Betriebe; immerhin geht noch ein grosser Teil auf auswärtige Sägemühlen.

… Das Streuesammeln und Mähen bringt dem Wald begreiflicherweise Nachteil. Allein vielerorts ist z. B. das „Streuenen” und „Lauben” ein Bedürfnis für den Betrieb der Landwirtschaft, indem hierfür kein oder nur ungenügendes Streuematerial zur Verfügung steht. Man sucht zwar auch hier bessere Ordnung einzuführen.

… Viel Nachteiliges für eine rationelle Waldkultur bringt ferner der Weidgang, und zwar besonders derjenige der Ziegen. Man kann diesen natürlich nicht unterdrücken; aber man sollte darauf halten, dass, wo junger Wald sich befindet, die Ziegen nicht hinkommen, bis die Pflanzen ihren naschhaften Zähnen entwachsen sind.

… Der Wald zählt nicht nur unsere Haustiere zu seinen Feinden, sondern er findet solche in jeder Familie der Tierwelt. Das sonst harmlose Reh ist z. B., wenn es zahlreich auftritt, ein grosser Schädling des Waldes; es hat nämlich die gleichen schlimmen Eigenschaften wie seine Verwandte, die Ziege, und ist daher ebenfalls nicht die Freundin des Forstmannes. Sogar Hirsche bringen jungen Waldbäumen Schaden, indem sie mit ihrem Geweih die Rinde an denselben wegschälen. Der Feinde im Tierreich wären noch viele anzuführen — wir erinnern nur noch an den Borkenkäfer, die gefürchtete Nonne, die sich zwar glücklicherweise bei uns noch nie einfand, und an die Miniermotte, welche unsere Lärchenwälder manchmal ganz entstellt — und auch in der Pflanzenwelt giebt es solche (Pilze), allein wir können uns mit ihnen nicht befassen. Wir wollen uns dagegen noch kurz mit dem Hauptfeind des Waldes, der aber zugleich auch sein Hauptfreund ist, dem Menschen, beschäftigen.

Das planlose, willkürliche Abholzen der Wälder hat, seitdem die Forstgesetze eingeführt sind, zwar aufgehört; immerhin wird noch viel Holz zwecklos geschlagen, das dann auf nicht geeignete Weise seine Verwendung findet, z. B. wird es, anstatt zu Bauholz benutzt, zu Brennholz verschnitten, oder man lässt es gar zu Grunde gehen. Es ist auch richtig, dass man bei uns viel Holz in den Wäldern verfaulen lässt. Dies trifft aber gewöhnlich nur in den entferntern Waldungen zu, und ist dann in Betracht zu ziehen, dass die Transportkosten öfters grösser sind als der Wert des Holzes. Man kann aber in diesem Falle doch nicht verlangen, dass die Leute noch Geld zusetzen. Das Abasten der Waldbäume behufs Streuegewinnung kommt noch hin und wieder vor, doch nicht mehr so oft wie ehedem; auch das Schwämmen (Wegschälen der Rinde), damit die Bäume absterben und Weide wachsen könne, hat merklich abgenommen, und vom Schälen der Stämme zur Harzgewinnung hört man sozusagen gar nichts mehr. Das Abbrennen ganzer Waldstrecken, um Pottasche zu erhalten, was ehedem der Fall war, hat aufgehört. Dagegen brauchen die vielen Schindeldächer eine Unmasse von Holz, und zwar wird dazu die glätteste und beste Ware verwendet. Die Schindeldächer sind ein notwendiges Übel, das man zwar verringern, aber nie ganz fortbringen kann. Mit dem Holzfrevel ist es ziemlich besser geworden; freilich wird im geheimen noch mancher Baum ungezeichnet bei Seite geschafft. Es ist wirklich schwierig, allen Leuten das Bewusstsein beizubringen, dass das Holzfreveln nicht sein sollte. Dass diese Untugend noch so blüht, kommt wohl hauptsächlich von folgendem her. Früher wurde der Wald bei uns sozusagen gar nicht gewertet. Von einer Holztaxe war keine Rede; jeder ging nach Belieben in den Wald und nahm Holz, so viel er wollte. Es betrachtete sich ein jeder als unumschränkten Eigentümer des Waldes, und diese Anschauung wirkt immer noch nach. Wir können sagen, dass derartige „Rechtsansichten” bei vielen in Fleisch und Blut übergegangen sind, was übrigens auch bei der Jägerei, wo der Frevel ebenfalls noch „blüht”, zu beobachten ist. Wie bemerkt, wird es mit dem Holzfrevel immer besser, und es wird dazu kommen, dass er zur Seltenheit wird. Viel wird zur Besserung auch die gemeinschaftliche Aufrüstung des Losholzes, die nun allgemein eingeführt werden soll, beitragen.

Früher musste, wie angeführt, für das aus dem Gemeindewalde bezogene Holz keine Taxe entrichtet werden. Später wurde eine kleine Auflage erhoben, doch in keinem Verhältnis zum Holzwerte. Erst in letzter Zeit brachten vermehrte Auslagen im Gemeindehaushalte – bei uns namentlich die sogenannten Bahnschulden (Subventionen für die Linie Landquart-Davos) – es mit sich, dass die Holztaxen erhöht wurden. Damit verbindet sich indessen auch eine bessere Bewirtschaftung des Waldes und geordnetere Zustände bei der Gemeindeverwaltung. Und wenn die Bahnsubventionen hierin eine Besserung bewirken, so ist das Geld schon darum nicht weggeworfen.

Wir sind von unserem Thema abgekommen; kehren wir zum Walde zurück. Wir möchten noch solchen Clubgenossen, die unsere Verhältnisse nicht kennen, mitteilen, auf welche Weise bei uns das Holz aus den abgelegenen Waldungen bezogen wird. Um dasselbe zur Verwertung zu bringen, muss es „geführt, gerieset oder geflösst” werden. Früher, bevor wir Strassen in die Thäler hatten, war das Flössen fast das einzige Mittel, den Holzreichtum nutzbar zu machen, während jetzt das Führen in den Vordergrund tritt, was auch gut ist, indem man so das Holz viel besser verwerten kann. Anstatt kurzer Stücke, die nur zu Brenn- und Schindelholz verwendbar sind, erhält man sogenannte Blöcker von sechs und mehr Meter Länge; das Holz bleibt zudem unbeschädigt, und man riskiert nicht, ganze Partieen durch Hochwasser zu verlieren, wie es beim Flössen öfters vorkommt. Die Mehrkosten zahlen sich bei dieser Bezugsweise vielfach.

Bevor das Holz geschlagen werden kann, muss der Eigentümer desselben hierzu die kleinrätliche – in Zukunft die regierungsrätliche – Bewilligung nachsuchen. Zu diesem Zwecke muss der Kreisförster die Stämme anzeichnen und abschätzen; er hat ferner der Regierung ein bezügliches Gutachten einzureichen, auf welches hin diese die Bewilligung versagt oder erteilt und gewöhnlich noch verschiedene Bedingungen daran knüpft, wie z. B. Anlegung eines Forstdepositums behufs Waldkulturen, Erstellung von Waldwegen etc.

Das Holz wird hierauf, namentlich wenn Gemeinden gehörend, gewöhnlich auf eine Versteigerung gebracht, bei welcher allerlei Machinationen vorzukommen pflegen. Es ist die sogenannte Gant jedenfalls noch ein wunder Punkt, der einer Sanierung bedürftig wäre. Meistens wird das Holz im Spätherbst geschlagen – es ist für die Dauerhaftigkeit nicht ratsam, dasselbe im Sommer zu fällen – hierauf wird es entrindet und in Stücke von cirka 5 ½ m verschnitten. Diese werden zu kleinen Haufen zusammengebracht und mit einem „Paluog” (Einschnitt im Holz zum Befestigen auf dem Schlitten) versehen. Inzwischen wird der Winterweg erstellt. Es sind dies cirka 1 m breite Wege, zum Teil in den Boden eingegraben, hin und wieder auch mit Holz (Gipfel und Äste) erstellt. Die Hauptsache für einen solchen Weg ist dann Schnee und Kälte; ohne diese wäre er unpraktikabel. Solche Wege werden mitunter vom Thale bis in die Alpen angelegt und erreichen dann eine Länge von mehreren Stunden; sie kosten jedoch in diesem Falle auch einige Tausend Franken. Sie führen über jähe Abgründe und Schluchten und übersetzen solche öfters auf kühn angelegten Brücken. Im Schiersertobel (Salgina) wurden z. B. in diesem Winter 1892/93 Brücken von 400 bis 500 m Länge erstellt, die mehrere Hundert „Tramen” erforderten. Ein Fremdling der Berge kann kaum begreifen, dass es möglich ist, auf so primitiver Weganlage wahre Holzkolosse, wie man nicht selten sieht, zu führen.

Bevor wir jedoch das Führen des Holzes beschreiben, wollen wir noch kurz betrachten, wie dasselbe zugerichtet (aufgerüstet) wird. Das Holzfällen wird von inländischen Arbeitern und auch von Italienern aus dem obern Veltlin (Sondalo sendet allein gegen hundert Waldarbeiter aus) besorgt. Die Deutsch-Tiroler sind jetzt nicht mehr so zahlreich anzutreffen, wie früher. Die Leute müssen eine gewisse Übung besitzen, und auch hier kommt derjenige, welcher sein Handwerk kennt und die sogenannten Kniffe weiss, besser weg. Die Hauptwerkzeuge des Holzarbeiters sind: eine breite Axt, der Zapin und die Waldsäge. Als Wohnung bauen sich die Holzer gewöhnlich eine Hütte (Schröterhütte). Diese besteht aus aufeinander gefügten rohen Holzstämmen und ist mit Schindeln gedeckt; sie hat eine Thüre, durch welche man nur gebückt ein- und ausgehen kann; an der Hütte befinden sich weder Fenster noch Kamin, und der Rauch kann nur durch die Öffnungen zwischen den aufeinander gelegten Balken einen Ausweg finden. In der Hütte ist ein Lager mit spärlichem Riedgras und ein langer Feuerherd (Feuerwagen) bestehend aus einem Holzgerüst, das mit Steinplatten ausgefüttert ist; um denselben herum sind abgeplattete Holzstämme zum Sitzen angebracht. Von Luxus ist da natürlich nichts zu sehen. Das Lager ist hart und enthält gewöhnlich kleine, aber schlimme Insassen. Wenn gekocht wird (fast jeder kocht für sich selbst), entsteht eine Hitze, welche die Backen brennen macht, und ein Rauch, der die Augen „übergehen” lässt. Es ist in der Hütte während dieser Zeit für einen „Uneingeweihten” kaum zum Aushalten, und doch sind die Holzer zufrieden und vergnügt. Freilich braucht es für eine solche Lebensweise wetterfeste, gesunde und abgehärtete Naturen. Es wird dreimal gekocht und gegessen: am Morgen früh vor sechs Uhr, um 12 Uhr und abends nach eingebrochener Dunkelheit; von einer Vesper- oder Brotzeit wissen unsere Waldarbeiter nichts. Die Kost besteht gewöhnlich aus Mehl, Polenta und Kochfett; in neuerer Zeit wird auch Kaffee und Chokoladepulver gesotten. Branntwein wird auch mehr oder weniger konsumiert. Während der Nacht stecken sich die meisten in einen Sack oder unter eine Decke; einer schläft dicht neben dem andern. Ist es sehr kalt, so wird das Feuer stetsfort unterhalten; das Holz braucht man ja nicht zu sparen. So leben diese Leute wohl ähnlich unsern Vorfahren, den Höhlenbewohnern, sind dabei aber ebenso vergnügt und glücklich wie solche, die in seidenen Betten schlafen und denen aller Luxus zur Verfügung steht.

Wir wollen die Holzarbeiter nicht nur bei der Ruhe, sondern auch bei der Arbeit betrachten. Hier sägen einige die Stämme um; dort zerschneiden andere die gefällten Stämme in „Blöcker” oder entrinden dieselben, und eine weitere Abteilung bringt die Blöcker auf Haufen. Der zu fällende Stamm wird möglichst tief unten quer durchsägt. Ist die Säge ein Stück weit hineingedrungen, so wird auf der entgegengesetzten Seite eingehauen und werden Keile in den Schnitt getrieben. Auf diese Weise kann man den Baum so ziemlich fällen, wohin man wünscht. Das Fällen der Stämme ist eine gefährliche und anstrengende Arbeit, und man kann nur die besten Arbeiter dazu verwenden. Zum „Putzen” der Stämme sind die breiten Äxte besonders geeignet, und es verstehen die Italiener diese Arbeit im ganzen besser als die Deutschen. Zum Sägen und Riesen sind indessen die inländischen Holzer und die Tiroler tauglicher.

Ist das Holz fertig „gerüstet” und der Winter mit seiner Kälte da, so beginnt das Führen des Holzes. Am Rande des früher flüchtig hergestellten Weges werden vorerst die sogenannten „Verleggenen” (von Vorlegen) gelegt. Es sind dies kleinere Blöcker, die, verbunden mit festgetretenem Schnee, den Weg bilden helfen. Sie thun den gleichen Dienst wie an einer Strasse die Randmauern oder Barrikaden, nämlich, sie gestalten das Fahren auf dem Wege sicherer, machen aber zugleich einen Teil desselben aus. Der Weg bekommt dadurch eine hohle Form, was notwendig ist, damit die Schlitten mit den geladenen Blöckern nicht ausgleiten. Zur Unterhaltung und Verbesserung des Weges sind besondere Leute (Weger) da und kommen ganz andere Grundsätze zur Geltung, als bei gewöhnlichen Wegen und Strassen. Im Prätigau wird das Holz, wenn immer möglich, geführt; gerieset wird nur, wo das Führen nicht anwendbar ist. Es wird dadurch, wie früher bemerkt, fast nichts geschädigt; einzig, bei schlechtem Schlittweg, kann das Block hinten, wo es auf dem Boden aufliegt, etwas abgeschliffen werden. Mehr Schaden kann das Holz durchs „Ankunteln” erleiden. Es werden hierbei zwei Blöcker durch eine kurze Kette, an deren beiden Enden je ein keilförmiges Eisen angemacht ist, aneinander festgehalten. Durch das Eintreiben dieser Keile wird nun das Holz öfters gesprengt; doch kommt das Ankunteln nicht überall vor.

Morgens in aller Frühe, gewöhnlich um 4 – 5 Uhr, aber öfters auch früher, spannt der Holzfuhrmann sein Pferd in den Bockschlitten ein. (Es sind dies eigens fürs Holzführen konstruierte Schlitten, nur etwa ein Meter lang. Sie bestehen aus zwei Sohlen (Läufe), einem Querbalken (Pfulf), der mit zwei Spangen mit der sogenannten Bruoch (gebogenes Holz) – vorn zwischen den ebenfalls gebogenen Hörnern (Läufen) – verbunden ist. Der Schlitten besteht ausschliesslich aus Holz, meistens Buchenholz.) Jeder der Fuhrleute will der Erste sein; denn nicht nur gehört dies zur Holzfuhrmanns-Ehre, sondern er hat dadurch einen grossen Vorteil für den ganzen Tag. Während die weiter hinten befindlichen Fuhrleute durch jedes Hindernis („Umtrölen”, Steckenbleiben etc.) in Mitleidenschaft gezogen werden, können die vordern rasch vorwärts gehen und haben somit früher Feierabend. Mitunter wird dabei das Frühaufstehen übertrieben; die Nacht wird zum Arbeitstag gemacht und Mann und Pferd haben keine rechte Ruhe. Das Holzführen ist eine schwierige, gefährliche Arbeit, namentlich bei schlechter Weganlage oder grossem schwerem Holze. Es braucht dazu fähige Fuhrleute mit gewohnten, flinken Pferden; Unglücksfälle kommen indessen wider Erwarten selten vor. Trotzdem das Holzfuhren anstrengende Arbeit verlangt, ist es doch die Lieblingsbeschäftigung des Fuhrmanns; freilich wird er für diesen Dienst auch am besten bezahlt, meistens Fr. 9.- per Tag für Mann und Pferd.

Welche Bedeutung das Holzführen für das Prätigau hat, geht schon daraus hervor, dass z. B. einzig im Jahr 1891 12,000 Blöcker aus den Alpen ins Land geführt wurden.

Das Flössen wird im Prätigau wenig praktiziert und nur bei Brennholz. Früher wurden auch Blöcker durch die Landquart geflösst; seitdem dieselbe jedoch mit kostspieligen Wuhren eingedämmt ist, darf nicht mehr geflösst werden. Wir unterlassen es, das Flössen genauer zu beschreiben, und treten auch auf das Riesen nicht näher ein, da wir hierüber wenig Unbekanntes anzubringen wüssten; dagegen fügen wir zum Schlusse noch einige Schilderungen anderer Beobachter unserer eigenartigen Holztransporte bei.

Herr Imhof hat im Itinerarium für 1890/91, S. 111 ff., auf welche wir hier verweisen, eine sehr interessante Schilderung der im Winter 1889/90 vorgenommenen Holzausbeutung im Schraubachtobel geliefert.

Ein anderer Bewunderer dieser Holztransporte schrieb darüber in einem hiesigen Blatte: „Aus dem Schierser Tobel wird gegenwärtig (Januar 1890) wieder eine grosse Partie Blöckerholz transportiert. Diese Holzfuhren sind dem Prätigau eigen; nirgends sonst finden sie in solchem Masse statt. Es bedarf hierzu besonderer Einrichtungen (Schlitten u. s. w.); aber auch Mann und Pferd müssen bei dieser Beschäftigung sich auskennen, sonst geht es schlimm. Nachts 3 Uhr schon wird eingespannt, und bei der Morgendämmerung langen die Fuhrleute auf den ca. fünf Stunden entfernten Holzladungsplätzen in der Alp an. Es wird rasch aufgeladen, ein bis drei Stück auf das Pferd, je nach der Grösse der Hölzer, und nun geht’s in schnellem Tempo in langer Reihe über Abgründe und Schluchten hinaus ins Thal. Hie und da giebt es auch einen „Trol”; der Schlitten wirft um und mitunter das Pferd ebenfalls, doch hilft man sich gegenseitig, und gewöhnlich ist alles bald wieder im Geleise. Bis jetzt ist kein grösserer Unfall passiert, wiewohl kritische Situationen schon vorgekommen sind. Der lange Holzweg wurde speciell für diese Holzfuhren erstellt; geht der Schnee weg, ist auch der Weg dahin, und man spürt kaum mehr, wo er hindurchgeführt hat.”

Ferner: „Aus dem Schierser Tobel kamen diesen Winter (1891/92) nicht nur Blöcken von 85 cm Durchmesser, sondern sogar von 120 cm; solche von 100 cm und mehr zählte man nach Dutzenden. Im ganzen werden über 5000 Stück nur aus diesem Tobel herausgeführt. Gegenwärtig sind über hundert Pferde allein auf diesem Holzwege. Im ganzen Prätigau beschäftigen sich aber über zweihundert Pferde mit der Holzfuhre; denn auch an verschiedenen andern Orten, wie z. B. in Seewis, Valzeinathal, Fideris, Saas etc., wird Holz geführt. Auch dieses Jahr werden über 10,000 Blöcker auf den Markt kommen. Wir brauchen indessen nicht sehr darum besorgt zu sein, man reute im Prätigau die Waldungen aus; denn die Vorräte sind noch gross und der Nachwuchs bedeutender als je. Das Prätigau ist nicht nur ein Thal der Wiesen, sondern auch ein Thal der Wälder par excellence.”

Wir führen schliesslich noch eine Schilderung Roseggers im „Hoch vom Dachstein” über das „Riesen” an, indem bei uns ähnliche Verhältnisse sind, wenn auch das Riesen bei uns nur ausnahmsweise zur Anwendung kommt.
„Hoch von einem Bergschlag nieder ging eine neue Holzriesen, in deren Rinne glatte, wuchtige Blöcke herabglitten. Sausend und dröhnend kam das niederwärts auf steiler Riesen, die in grossen Bogen sich wand, über Hänge und Schluchten gebruckt war und so sorgfältig und wohlberechnet gemuldet, dass kein Block ausspringen konnte. So kam das herab bis zu Thale, wo die Riesen sachte sich ebnete und die schwersten Blöcke fast sanft aufs Erdreich warf, dass die Blöcke dann von etlichen Männern beiseite geschafft werden konnten. Oben sah man erst die ganze Kühnheit des Baues der Holzleitung. Streckenweise strich sie in schönen Kurven an dem steilen Abhang dahin, dann setzte sie, auf schlanken Stämmen wie auf Strohhalmen gestützt, über Waldwipfel und Abgründe, in deren Tiefen Wasser rauschten.”
von U. Obrecht (Sektion Scesaplana)

(Quelle: Jahrbuch 1892)

Geregelter Grenzverkehr

Grenzverkehr im Prättigau und in der Herrschaft
Seit dem 4. April 1919 ist für den Grenzdienst vom Piz Buin bis zum Falknis ein «Grenzdetachement Prättigau» aufgestellt, zum Zwecke der Grenzkontrolle, Bekämpfung des Schmuggels und Durchführung der Viehseuchenpolizei. Kommandant ist Herr Hauptmann Zimmermann mit Standort in Klosters-Platz. Die allgemeine Bekanntmachung des genannten Kommandos an die Bevölkerung des Prättigaus und der Herrschaft enthält auch für den Touristenverkehr einschneidende Vorschriften, die im Auszuge hier folgen:
«Das nachstehende Grenzgebiet wird als Sperrzone erklärt. Es umfasst das Gebiet zwischen der schweizerisch-österreichischen Landesgrenze einerseits und der folgenden Linien anderseits: Verstanklahorn – Verstanklaköpfe – rechtes Ufer Verstanklabach – Alp Sardasca – Leidhorn 2138 – Inner Säss 2030 – Hang nördlich des Weges Inner Säss – Schlappin – Schwarzbach – Madrishorn – Plattenfluh 2661 – Thalegg – Gempifluh – Weberlis Höhle – Schallberg – 2016 – 2068 – Partnun See – Sulzhütte – Garschinafurka – Drusen 2246 – Heidbühl – Kirchli – Goldrosenhütte – Hochbühl – 2050 – 1994 – Scesaplanahütte – Alp Fasons 1989 – 1974 – 2198 südlich Heuberg – 2235 – Kreuzplatten 2211 – Untersee – Gleckhorn – Gleckwand – auf dem Gyr – Falknishöhe.
Auf der Strecke Piz Buin – Falknis ist das Ueberschreiten der Landesgrenze verboten. Es besteht keine Passierstelle. Ebenso ist das Betreten dieser Sperrzone verboten, ausgenommen für Personen, die im Besitze eines Ausweises sind, der vom Kommando des Grenzdetachements Prättigau in Klosters-Platz, bezw. von dem diesem Kommando unterstellten Heerespolizeiposten ausgestellt ist. … Die Abgabe und Abnahme von optischen Signalen (Licht- und Feuerzeichen, Raketen, Winken mit Tüchern und dergl.) über die Grenze ist strengstens verboten. Ebenso ist verboten, durch Rufen, Pfeifen, Hornsignalen usw. Zeichen über die Grenze zu geben. Das Tragen von Waffen innerhalb der Sperrzone ist verboten.» –
Ueber den Touristenverkehr im Besondern ist der unterzeichneten Sektion vom betreffenden Kommando auf eine Anfrage hin noch Folgendes mitgeteilt worden: Ausserhalb der Sperrzone ist der Verkehr frei. Es bedarf zum Beispiel für die Begehung des Weges bis Scesaplanaclubhütte keiner speziellen Bewilligung. Dem Touristenverkehr soll möglichst entgegengekommen werden. In die Scesaplanahütte wird auf den Hochsommer hin ein Offiziersposten kommandiert, dem alle nötigen Kompetenzen erteilt werden, um den Touristenverkehr ohne unnötige Plakereien regeln zu können. Zur Erlangung der Bewilligung zum Betreten der Sperrzone sollen sich die Touristen bei ihrer Abreise unbedingt mit der Mitgliedskarte des S. A. C., dem Dienstbüchlein oder dem Heimatschein (Schriftenempfangsschein) versehen. (Sektion Pfannenstiel S. A. C.)
(Quelle: Alpina 1919)

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Verkehr zwischen Vorarlberg und der Schweiz
Die Zone Vorarlberg ist dahin erweitert worden, dass an Stelle der Strassburgerhütte die Gemeinde Brand als Zonengrenzpunkt tritt, zwischen Douglas- und Tilisunahütte noch die Lindauerhütte als weiterer Fixierungspunkt eingeschoben und im Silvrettagebiet die Zonengrenze bis zum Madlenhaus zurückgelegt wird.
Demnach ist für Mitglieder des S. A. C. inskünftig die durch nachstehende Fixierungspunkte bestimmte freie Zone massgebend: St. Rochus im Gamperdona – Brand – Douglashütte – Lindauerhütte – Tilisunahütte – Gargellen – Tübingerhütte – Madlenerhaus.
Im Gegenrecht ist den deutschösterreichischen Alpenclubmitgliedern schweizerseits, der durch folgende Zonenpunkte begrenzte Raum freigegeben worden: Falknis (2566 m) – Gleckhorn (2451 m) – Stürvis (1590 m) – Girenspitz (2397 m) – Drusenalp (1808 m) – Schafberg (2463 m) – Partnun – St. Antönien – Rätschenhorn (2707 m) – Madrishorn (2930 m) – St. Jakobshorn (2343 m) – Schlapin – Silvrettahütte – Vereinahütte – Piz Linard – Piz Fliana.
Zum Betreten der beidseitig festgelegten Zone ist wie bis anhin eine mit Photographie und amtlich beglaubigter Unterschrift versehene Mitgliederkarte des schweizerischen, resp, deutschösterreichischen Alpen-Clubs erforderlich.
Ferner ist die letztes Jahr festgesetzte Aufenthaltsdauer von 12 Stunden auf 24 Stunden ausgedehnt worden.
Es wird noch ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass die Rückkehr nach vollführtem Grenzübertritt in die freie Zone wieder auf die gleiche Seite wie der Aufstieg zu erfolgen, d. h. über die innerhalb derselben liegende politische Grenze sich zu vollziehen hat.
Ein Ueberschreiten der Zonenlinie muss nach den in der Verordnung betr. die Kontrolle der Ausländer vom 17. November 1919 enthaltenen Strafbestimmungen geahndet werden.
Im übrigen wird mitgeteilt, dass ausser den deutschösterreichischen Alpen-Club-Mitgliedern und S. A. C.-Mitgliedern keine andern Vereine Anspruch auf die vorerwähnten Vergünstigungen haben.
Aarau, den 15. Juni 1921.
(Quelle: Alpina 1921)

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Verkehr zwischen Liechtenstein und der Schweiz
In Anlehnung an das vorarlbergisch-schweizerische Abkommen betreffend die Regelung des Touristenverkehrs im Rhätikon- und Silvrettagebiet, das bereits in der Alpina No. 6 vom 15. Juni 1921, Seite 117, publiziert worden ist, wurde neulich zwischen dem eidg. Justiz- und Polizeidepartement und der fürstlich-liechtensteinischen Gesandtschaft nachfolgende Abmachung getroffen:
Den schweizerischen und deutsch-österreichischen Alpenclubmitgliedern wird zwecks Durchführung von Touren die generelle Bewilligung zum Grenzübertritt über die liechtensteinisch-bündnerische Grenze in die für dieselben in Betracht fallende, nachstehend verzeichnete freie Zone erteilt:
Schweizerischerseits (Karte 1:100,000): Falknis (2566 m) – Gleckhorn (2451 m) – Stürvis (1590 m) – Girenspitz (2397 m) – Drusenalp (1808 m) – Schafberg (2463 m) – Partnun – St. Antönien Rätschenhorn (2707 m) – Madrishorn (2830 m) – St. Jakobshorn (2543 m) – Schlapin – Silvrettahütte – Vereinahütte – Piz Linard – Piz Fliana.
Diese Zone ist somit identisch mit derjenigen, welche bereits früher mit Vorarlberg vereinbart wurde.
Liechtensteinerischerseits: Lavena – Schafkopf – Höhenkamm gegen Gersellakopf – Gersellakopf – Geyenkopf – Gallinakopf – Matlerkopf.
Für diese Grenzabschnitte wird die Befreiung vom Passzwang den in der Schweiz oder im Fürstentum Liechtenstein wohnhaften Personen unter folgenden Bedingungen, die auch in der Uebereinkunft zwischen der Schweiz und Vorarlberg festgelegt wurden, gewährt:
1. Zum Betreten der beidseitig festgelegten Zone ist eine mit Photographie und amtlich beglaubigter Unterschrift versehene Mitgliederkarte des deutsch-österreichischen, respektive schweizerischen Alpenclubs erforderlich.
2. Der Aufenthalt auf fremdem Staatsgebiet innerhalb der freigegebenen Zone darf in der Regel nicht über 24 Stunden dauern.
3. Nichtmitgliedern wird das Passieren der Grenze in gleicher Weise gestattet wie den Mitgliedern des deutsch-schweizerischen Alpenclubs, sofern sie sich in Begleitung eines Mitgliedes von einem dieser beiden Vereine befinden, die den gestellten Anforderungen in vollem Umfange entsprechen. Sie müssen ferner durch einen behördlichen Ausweis sich legitimieren können. Diese Vergünstigung soll nur einwandfreien Personen zugutekommen.
(Aarau, den 15. September 1921)
(Quelle: Alpina 1921)

Gaflei – schön, wunderschön ist’s da droben

… Wie die noch wenigen Julitage die Menschen erfreuten, beweist der Zudrang der sehr beweglichen Touristen, die von überallher zu Fuss und Wagen nach Vaduz und in die Alpen ziehen, um sich gütlich zu thun und Abends mit Alpenrosen bekränzt den Heimweg einschlagen. Sehr zu beklagen ist es aber, dass zu solchen Ergötzungen zumeist der Sonntag, der Tag des Herrn, vom frühesten Morgen an – ohne Gottesdienst – missbraucht wird. –
Unsere Alpen würden sicher noch mehr und anhaltend besucht werden, wenn an geeigneten Stellen bequeme Kurorte eingerichtet wären, zumal der Zugang so gut ist, wie selten im Gebirge, indem schöne Fahrstrassen in die Alpen führen, dass man zweispännig dahin fahren kann. Nur die hohe Alp Gaflei bildet seit einigen Jahren einen sehr beliebten Kurort mit herrlicher Aussicht in das obere Rheinthal und über die jenseitigen Schweizerberge. Es ist zwar noch sehr beschränkt, dass nicht allen Wünschen entsprochen werden kann; da wäre es denn doch angezeigt, das Haus zu erweitern und zwar für 25 bis 30 Kurgäste; die Kosten würden jetzt nicht so hoch zu stehen kommen, nachdem man bis dorthin über das Schloss Vaduz, Rothenboden und Maseschen bequem fahren kann. Ein Anbau würde sicher rentiren. Sehr zu wünschen wären auch markige Wegweiser an solchen Stellen, wo die Wege sich kreuzen, um die fremden Touristen oder Bergsteiger vor Verirrung zu bewahren. Der Weg von Vaduz nach Gaflei wird auf 3 Stunden berechnet.
Unsere schöne landschaftliche Lage, unsere herrlichen Alpen mit ihren reizenden Anhaltspunkten und leichten Zugängen sind bisher in den bekannten und beliebten Reisebüchern nur stiefmütterlich, sehr oberflächlich und theilweise gar nicht aufgeführt worden. Das beweist, dass die schreibseligen Verfasser dieselben noch gar nicht kennen!
(Quelle: Volksblatt 21. Juli 1882)

Wo ist Gaflei? – Derzeit mögen es einige Dutzend Schwaben und Schwäbinnen sein, die auf diese Frage prompt zu antworten vermögen. Vor noch gar nicht langer Zeit soll eine hohe Behörde irgend eines Landes, als in dem Urlaubsgesuch eines Beamten die Residenz des Staates, in welchem Gaflei liegt, als Zielpunkt namhaft gemacht wurde, sehr ernstlich zurückgefragt haben: «Wo und in welchem Land?» – so dass sich also kein Unterthan zu schämen braucht, wenn er noch viel weniger weiss, wo in welchem Lande Gaflei liegt. Also: Gaflei liegt in dem Land, wo es keine, aber auch keine politischen Parteien gibt, wo man von «Unentwegten» nichts hört, «voll und ganz» nichts vernimmt, und kein Socialdemokrat auf Umsturz sinnt, noch weniger Frauenrechtlerinnen ihre Stimme erheben; im Land, wo – wenigstens im allergrössten Theil – kein Radler haust, wo man den vortrefflichen Wein merkwürdigerweise «Kretzer» heisst und die andere gleich gute Marke mit dem Komperativ eines Biernamens «Bocker» benennt, im Land, wo die vielfach ersehnte politische Wahlpflicht herrscht, wo es mehr Männer gibt als Frauen, im Land ohne Militär und Militärpflicht, – «halt, das kann nur Liechtenstein sein», ruft der Leser, plötzlich erleuchtet durch dies letzte ganz besondere Kennzeichen, und das Fürstentum Liechtenstein ists denn in der That, in dem hoch oben über dem behördlicherseits, wie angezeigt, noch nicht genügend bekannten Haupt- und Residenzort Vaduz das geheimnisvolle Gaflei zu suchen ist.
Sind es nicht seltsame Namen, Gaflei, Vaduz? Nun, mit Ausnahme des Landesnamens Liechtenstein, der dem Staat erst 1699 künstlich gegeben wurde, treten uns allerdings im ganze Lande so ziemlich lauter solche fremdklingende Ortsnamen entgegen (Gamprin, Ruggell, Schaan, Garsella, Bargella, Gafal etc.) Aber kerndeutsch ist das 10,000 Seelen zählende Liechtensteiner Völkchen und Gestalt und Namen, Rede und Lebensart verraten uns den Liechtensteiner auf den ersten Blick als allernächsten Stammverwandten oder Stammesbruder, als Allamannen. Romanisch sind von der früheren Besiedlung her nur die Ortsbezeichnungen geblieben und an Regentagen mag es in der Sommerfrische alten und jungen Lateinern Vergnügen machen, diese lateinischen Reste zu entziffern (Vaduz = vallis dulcis, Gamprin = campus Rheni, Balzers = palazoles, palatiolum, Schaan = scana, Schiffslände etc.) Nur an Gaflei scheiterte die Gelehrsamkeit des ganzen Gafleier Schwabenklubs, wie wohl so ziemlich sämtliche Fakultäten der beiden Hochschulen Württembergs, dazu noch Kunstschule und Militärdepartement, droben vertreten waren und sich darüber die Köpfe zerbrachen. Also keltisch-deutschen Geschlechts ist auch der Fürst des Landes, und so mögen, ehe wir zur Gaflei aufsteigen, einige gedrängte Mitteilungen über diesen uns so nahe liegenden und doch in der Regel fast nicht gekannten Kleinstaat mit seiner kerndeutschen Bevölkerung und seinem einzigartigen politischen Stillleben gestattet sein. …
Das 178,4 km2 umfassende zwischen Graubünden, St. Gallen und Vorarlberg am rechten Rheinufer liegende Ländchen mit seinen 16 Ortschaften wird seit 1858 regiert von «Sr. Durchlaucht Johann II Maria Franz Placidus, souveräner Fürst und Regierer des Hauses von und zu Liechtenstein, …» Der allgemein verehrte (unvermählte) Landesvater macht seinen Unterthanen nur den einen Kummer, dass er sich so selten innerhalb der blauroten Grenzpfähle blicken lässt; er residiert meist in Wien und Schloss Eisgrub. Ueberall rühmt man seine Freigiebigkeit und Mildthätigkeit. … Nur von zwei «Landesnöten» ist das Ländchen geplagt: vom Rhein, dessen Bett sich (fast nach Art des gelben Flusses) durch das Geschiebe vom Gebirge her immer höher aufbaut, so dass er nur durch kostspielige Dämme zu händigen ist (daher das Sprüchlein: «Der Vater Rhein, das alte Schwein!»), und die Rüfen, die riesigen Steinlawinen von den Felsbergen herab, die z. B. zwischen Vaduz und Schaan die schönsten Baumgüter und Kulturgrundstücke unrettbar unter einem Steinmeer vergraben haben. Der einzige Helfer, der Wald, ist denn auch seit 1865 gesetzlich geschützt, so dass schädliche Abholzungen wie früher nicht mehr stattfinden können. Was den Vater Rhein betrifft, so genügt es, darauf hinzuweisen, dass die fast 28 Kilometer langen Schutzbauten am Rhein in 4 Jahrzehnten 1 ½ Millionen fl. verschlungen haben. Und durch die Rüfen, abgesehen von ihrem sonstigen Schaden, gingen im letzten Jahre auf den Alpen 20 Schafe zu Grunde, die in einem Rüfengang mit fortgerissen wurden. Aber diesen Nöten gegenüber grüssen uns um so tröstlicher die herrlichen Bergmatten durch die uns der Weg nach Gaflei emporführt. … Im kühlen Wald steigen wir auf angenehmer Fahrstrasse (die Strassen in Liechtenstein, zusammen 130 Kilometer, sind alle gut) hinauf zum Schloss Hohen-Vaduz, auch Hohen-Liechtenstein genannt. … Ueber saftige Wiesen zieht sich der Weg zum Weiler Rothenboden mit seinem Kurhaus Samina (1000 Meter hoch), das seinen Namen vom Saminathal überm Gebirge drüben entlehnt hat. Malerisch liegen in ihren Baumgärten die einzeln verstreuten Bauernhäuser, darunter auch das des fürstlichen Försters Nägele, der unter den 400 Gemsen und den 100 Hirschen des fürstlichen Jagdreviers (ca. 5500 Hektaren) wohl Bescheid weiss. Ueber Rothenboden hängt massig herein der bewaldete Bergkopf von Masescha, und nach einer ganzen Anzahl von Schlangenwindungen führt uns das Strässchen an der idyllischen Sommerfrische Waldi und dem dicht daneben gelegenen «Menschenwäldle» vorbei zur Pension Masescha, zu der das Einfamilienhaus Waldi ein Anhängsel bildet. Auch hier pflegt man schwäbische Familien zu treffen, denen 1250 Meter über Meereshöhe genügen. In der Obhut der drei Damen (Töchter des fürstlichen Forstinspektors), die Haus Masescha verwalten und den beiden unteren Wirtsstuben den altbäuerlichen Charakter mit Geschmack gerettet haben, ist jedermann aufs beste aufgehoben, der volle Ruhe in Berg und Wald sucht. Dicht dabei stehen zwei uralte Gebäude, das Bergkirchlein und das altersbraune Gasthaus, in dessen Eckbalken das Wirtszeichen des Kreuzes roh eingehauen ist, wie das wohl vor einem halben Jahrtausend der Brauch gewesen. Drüben beim Stein von Masescha lockt das berühmte Echo, das ganze Sätze, vielstimmige Hochrufe etc. in wahrhaft verblüffender und zur Heiterkeit zwingenden Weise wiedergibt. Noch einmal höher hinauf; die letzten Obstbäume, das höchste Kartoffeläckerchen lassen wir bei Masescha zurück. Rechts und links üppige, dachgähe Matten mit einer Menge von Blockhäusern. Schon lugen graue kahle Felshäupter droben über den dunklen Wald herein und nochmals um 300 Meter höher hat uns die Strasse in angenehmer Steigung emporgebracht. Das Geläute des Weideviehs tönt melodisch um uns und dort auf ebener Hochmatte liegt sauber und stattlich das ersehnte Gaflei, die ausgedehnten Gebäulichkeiten, auf 3 Seiten von unmittelbar herantretendem Fichten- und Lerchenwald gedeckt, hoch überragt von den himmelhohen Abstürzen des Gipsberges. In 3 Stunden sind wir von Vaduz ohne Anstrengung heraufgekommen; auf dem Fussweg über das in Trümmern liegende, sagenumrauschte Wildschloss Schalun und die Alpe Provatscheng gelingt es schon in 2 ½ Stunden.
Und jetzt, wie soll ich das Lob Gafleis singen, so wie sich’s all den Herrlichkeiten gegenüber gebührt? Am liebsten möchte ich die Schwabenkolonie des letzten Sommers aufrufen, Dame für Dame, Mann für Mann, Kind für Kind; jede Fakultät für sich; den mit dem Sonnenschirm herumsteigenden Spaziergänger sowohl als den trefflich wattierten Wadenstrümpfler und Felsenkraxler; die verehrten Toilettenentwicklerinnen nicht minder, wie die im einfachen Lodenkleid; die Solo- und Quartettsänger und -sängerinnen wie den regelmässigen Vierspännerdapp – ohne ins Berglatein zu verfallen, würde das einstimmige Zeugnis aller lauten: schön, wunderschön ist’s da droben! Die balsamische kräftige Luft (1500 Meter hoch), wie manche Wangen hat sie gebräunt! Und wie entzückt schweifte das Auge immer wieder über die weite, erhabene Gebirgswelt, die sich über dem weiss blinkenden Rhein da drunten aufbaut! Dort links der Naafkopf mit seinen kleinen Schneeflecken, der höchste Berg Liechtensteins (2568 Meter), dann die Mittagsspitze, die Pyramide des Falknis, die vornehm schöne Calanda, die wild zerrissenen grauen Hörner mit dem Gletscher der Ringelspitze, der Piz Sol, der leuchtende mächtige Sardonagletscher, dann gerade noch über den Gesichtskreis emporragend die Riesen von Glarus, im Vordergrund über dem Rheinthal drüben, zum Greifen nah, der massige Gebirgsstock des Alvier, daneben die Schau tief hinein ins Toggenburg, aus dem die weisse Kirche von Wildhaus grüsst. Dann Säntis und Altmann (mit dem Glas sind die Fenster des Säntisgasthofes zu zählen); Schafberg, Furgelfirst, hoher Kasten; unten im tiefen Rheinthal eine Menge Städtchen und Dörfer, darin inbegriffen das ganze Flachland von Liechtenstein, sein Unterland vom Schellenberg an und sein Oberland, das am Luziensteig endet, dessen Katharinenbrunnen (zwischen Balzers und Luziensteig) auf einer Steinplatte nördlich das liechtenstein’sche, südlich das bündnerische Wappen trägt mit der Umschrift: «Alt fry Rhezien». Vor Balzers schaut als Ameisenhügel zu Füssen all der Bergriesen Schloss Gutenberg von seinem mit Reben bewachsenen Kegel herauf, über Buchs das stolze, geschichtsreiche Schloss Werdenberg; weiter oben im Thal die kühne Ruine Wartenstein und über den Fläscherberg hinein die weitläufigen Gebäude von Pfäfers.
Doch so erhebend das gewaltige Bild stets auf uns wirft, ob nun Berg und Thal von Sonnenschein erfüllt ist oder von wogendem Nebelmeer, oder ob drunten schwarze Wetterwolken sich zusammenballen und der Sturm heraufbraust, oder ob die Bergeshäupter am Abend wunderbar glänzen – die eigentliche Spezialität Gafleis ist der Fürstensteig, der, gefahrlos und bequem zu begehen, in eine völlig dolomitische Felsenwildnis hineinführt und auf der Kuhgratspitze, einem Damenberge, und weiterhin auf den Drei Schwestern zu umfassenden Rundsichten leitet, bei denen dann auch das Hochgebirge wieder zur Geltung kommt, Panülerschrofen, Scesaplana etc., während tief drunten der breite Spiegel des Bodensees aufblitzt. Bekanntlich ist dieser, seinesgleichen suchende Gebirgsweg dem Zusammenwirken des Fürsten von Liechtenstein, des D. und Oestr. Alpenvereins und vor allem des Besitzers von Gaflei, des in Württemberg wie in Venezuela gleich wohlbekannten Ingenieurs Schädler in Vaduz, zu verdanken und im Juli letzten Jahres festlich eingeweiht worden. … Friedensthäler sinds denn auch, die sich bei der Gratwanderung von der Alpspitze bis gegen Sükka in ihrer Felsen- und Waldspracht aufthun: das weithin gestreckte einsame Thal der Samina, das verborgene Seitenthal Valorsch, oben die Gabelung in Malbun- und Valünathal – mit einem Blick überschaut man vom Grat aus das Hochgebirge Liechtensteins, zu dem diese Thäler gehören. Vorn auf dem Grat mag, wen es gelüstet, im sogen. Mohrenloch, einer kleinen Höhle, Mondmilch holen, die dort in ganzen Klumpen zur Verfügung steht, und bei dem unfernen sturmgebleichten Kreuz sich im Volk umlaufende schaurige Mären von abgehauenen Händen, verzauberten Frauenschuhen u. dergl. erzählen lassen. Statt den Pfad von der Alpe Bargella bis Sükka vorzugehen, können wir auch zum aussichtsreichen «Pilatus» absteigen, auf dem den ganzen Sommer die schwarz-rote Fahne wehte (von Rechtswegen: «Bi di Latten» – durch slovakisches Missverständnis in Pilatus umgetauft). Vom Pilatus führt ein leichter Weg an einer Kolonie von fast immer sichtbaren Murmeltieren vorüber in einem Stündchen nach Gaflei. Höchst genussreich sind die Ausflüge in die vorhin genannten Thäler, die alle von tadellosen Wegen durchzogen sind. Welcher Stolz, wenn die Jugend mit reichlichem Edelweiss geschmückt von einer solchen Thal- und Bergfahrt heimkommt, und zwiefach vollends, wenn man, wie das einem zwölfjährigen Schwaben glückte, mit dem fürstlichen Jäger dort hinten einen kräftigen Gemsbock «schiessen geholfen» hat! Den Nichtwaidmännern zu lieb liess sich eines Tages eine Gemse, ein «Laubbock», unmittelbar hinter den Gebäuden von Gaflei sehen und zwar ohne Eintrittspreis, ein Augentrost wenigstens für flachländische Jägersleute, die hierher kamen mit dem bestimmten Vorsatz, Gemsen zu schiessen, jedoch die Krummgehörnten nicht von ihren gefährlichen Felsen herunterzaubern konnten! – Nun liegt Gaflei wieder einsam und verlassen. Aber im Gedächtnis aller Besucher, der aus der Schweiz wie der aus dem Oesterreichischen, der Badener und der zahlreichen Schwaben, leben die schönen Abende fort, die zu so manchem Freundschaftsbund führten, und die unvergesslichen Bilder, die grossartig und lieblich die reine Gottesnatur dort zeichnet. – Wo ist Gaflei? die Leser wissen es jetzt und die k. k. Post, findig wie die unsrige weiss es längst, wenn sie Briefe zu befördern hat, wie den mir vorliegenden: An Wohlgeboren Herrn F. W. in Fürstentum Liechtenstein. Aber was ist Gaflei? Sonnenschein und Bergesluft, Waldesdunkel und Mattengrün, kühne Bergriesen und bizarres Felsengezack, Alpenrosen und Edelweiss, Herdenglocken und Vogelgesang, hoch droben Büchsenknall auf Hirsch und Gemse und drunten im Thal munteres, mächtig emporschwellendes hundertfältiges Glockenläuten, fröhliche Bergeslieder und frischer Jodlerruf, südlich das Feuer im dunkeln Wein, aber deutsch, urdeutsch Wirt, Jäger und Hirt – das ist Gaflei und das wird es bleiben: Wie hiess doch eins der Schnadahüpferl unseres sangesfrohen Landsmanns da oben?
«Auf der Gaflei droben
Muss man allzeit loben,
Luft und Licht und Tisch und Bier und Wein.
Bald wird’s freilich schneien,
Doch zum nächsten «Neuen»
Und zum neuen Jahre kehr’ ich wiederum ein.»
(Quelle: Volksblatt 17.3.1899 + 24.3.1899 + 31.3.1899)

Der Anblick des Rhätikon – Reiseberichte aus dem 18. Jahrhundert

Gränzen an die Pündtnerischen Lande I. Der Kayser / insonderheit mit denen Tyrolischen Landen / deren Gebirge von dem Rhein zwischen Fläsch und Guttenberg sich erstrecken bis in das Venetianische. Die erste angränzende Provinz ist der Estneren / und darinn die Herrschaft Vaduz / mit Gutenberg / Vaduz / Treysa; hernach das Montafuner-Thal / in dessen obersten Theil auf denen Pündtnerischen Gränzen entspringet die Ill: Aus diesem Thal ist ein Pass ins Prettigöw über den Berg Rhaetico.
Rhaetico, Raeticon, Rhetigowerberg / Prättigöwerberg wird unter die höchsten Berge gezehlet von Mela L. III. etliche halten ihne vor den Braulium in der Graffschaft Cleven: andere suchen ihne gar in dem Ertzbischthum Cöln: besser aber verstehen unsere Geschicht- und Landbeschreibere gemeinlich jene hohen Berg / welch sind zwischen dem Prättigöw / und Montafunerthal / und kommet auch selbs von diesem Rhetico der Name Pretticovv, Prettigöw / durch vorsetzung des Buchstabens p, gleich von Fundamentum entstanden das Teutsche Wort Pfumment / Pfimmer / von Favario, Pfäfers. …
Zu oberst auf diesem Berg Selva Rhaeta, Selvreta. q. Sylva Rhaetiae genant entspringt die Lanquart / Langarus, welche durch das Prettigöw ab- und unter Chur in den Rhein fliesst. Ueber die Jöcher dieses Bergs gehen … etliche Strassen, die doch mehrentheils von winterlichem Schnee verschlossen werden. Zu innerst leitet die eine auf Cultüren zu / und daselbst dannen für Isikel / dem Rosanabach nach / durch Patznun / Stantzerthal / und aus demselbigen in das Yhnthal. Eine andere geht in Fermunt (ist ein Thal den Steinsbergeren zugehörig) und aus demselbigen über ein Schneegletscher in ein ander Thal / Tojum genant / das sein Ausgang jenseit Gebirgs in das Unter-Engadein gen Gwarden hat. Der Yll nach besser herfür komt man aus Montafun über den Schlapiner-Sattel zu dem Kloster im Prettigöw: und weiter aussen im Montafun ist noch ein Strass über das Joch gegen Mittag in ein Zuthal des Prettigöws / so St. Antonien genennet wird / und sein Ausgang zwischen Küblis und Lutzein hat. An anderen Ohrten mehr können die Montafuner und Prettigöwer zusamen kommen. Die Yll soll auch aus diesem Berg Rhetico entspringen.
(Quelle: Helvetiae stoicheiographia. Orographia et Oreographia. Oder Beschreibung der Elementen/Grenzen und Bergen des Schweizerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands. Erster Theil. Johann Jakob Scheuchzer. Zürich 1716)

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Marschlins nebst der umliegenden Gegend. … Das Schloss Marschlins ligt am nordöstlichen Ende des zum Gotteshausbunde gehörigen Hochgerichts der vier Dörfer, in einem Querthale, das östlich durch den Walseinaberg, westlich durch den Calanda, Untervazer, und Mastrilserberg eingeschlossen ist, weiter westwärts aber und nordwärts sich in dem Hauptthale verliert, das von Osten aus dem Brätigau hervorkommt, und westwärts nach dem Wallenstadtersee hin fortstreicht. Im Süden wird dieses Querthal durch die Chureralpen, und im Norden durch die mitternächtliche Gebirgswand des schonerwänten Hauptthals umschlossen, die einen Theil des Rhäticon, den Falkniss, von Osten herüberzieht, hierauf den Luciensteig, mit dem davon abgerissenen Fläscherberge, den Schollberg, Wartauerberg, und weiter westwärts die am Wallenstadtersee hinlaufende zakige Gebirgsmauer der Toggenburger Gebirge, die hier die sieben Churfürsten genennt werden, aufthürmt. … Unter mehreren Gegenden in Bünden, wo theils römische, theils aus den Ritterzeiten herstammende Schlösser in ungewönlicher Anzal angehäuft sind, zeichnet sich diese vornehmlich aus. Von Ragaz bis Chur zält man ihrer neunzehn. Der grösste Theil davon ligt in Trümmern, da hingegen Marschlins erneuert und erweitert worden ist. … Eine Viertelstunde über Marschlins ligt das gedachte Dorf Igis, das in der Gegend Eiis ausgesprochen wird, und eine Viertelstunde weiter südwärts Zizers. Diese beiden Dörfer bauen viel Wein. …
Die Gebirge dieser Gegend selbst als Ueberläufer aus dem höheren Gebirge zu betrachten, findet man von allen Seiten Anlas. Schon der Walseinaberg, der, bei näherer Erkundigung, als ein abgerissener Ast vom Rhäticon erscheint, und an der Stelle der Ablösung seinen inneren Bau im Durchschnitte vor Augen legt, wird, ohne Zurückleitung zu den ungeheuren Umstürzungen, die einst in der Mittelkette der Alpen vorgegangen seyn müssen, ein unerklärliches Gemische, da er hingegen, aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, zur Beurtheilung einer beträchtlichen Anzal ihm änlicher Gebirge in Bünden den Schlüssel geben kann.
Der Weg ins Brätigau fürt durch ienen merkwürdigen Riss, dessen nähere Beschreibung ich daher mit der Erzälung der Reise ins Brätigau verbinde. …
(Quelle: Alpenreise vom Jahre 1781, Gottlieb Storr, 1786)

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Reise ins Brätigau. Wir kamen über eine am Fuss des Walseina aus Trümmern von ihm aufgehäufte Halde, die die Ganda genennt wird, an einigen mit dem gleichen Namen belegten Häusern vorbei, und weiter ostwärts durch den Forst, einen mit etwas Holz und Gebüschen bewachsenen Theil dieser Schuttstreke, zu einer noch mehr verschütteten Stelle, die der Stein genennt wird. Hier öfnet sich der merkwürdige Riss, der den Walseinaberg von dem Theile des Rhäticon absondert, der, nach einem auf ihm liegenden Dorfe, der Seewisserberg heisst; die Landquart, die mit grossem Getöse durchströmt, nimmt den Grund dieser Berglüke gänzlich ein, und der Weg geht zuerst mühsam an der Felsenwand des Walseina hin, und wird dann durch die Schlossbrüke, die von ihm in einem Bogen zum Seewisserberg überspringt, an diesen hingeleitet. Das Zusammenpassen beider Stükke dieses Bergbruchs fällt auf den ersten Anblik in die Augen, und bestätigt sich mehr und mehr, im Gegeneinanderhalten der Gesteinart und aller Einzelheiten des äusseren und inneren Baues. … Diese Brüke bezeichnet die Gränze des Brätigaus, und hat den Namen der Schlossbrüke von einem nahe am Seewisserberge gelegenen Schlosse Frakstein, das samt seiner Capelle in Ruinen da ligt. Der Name des Schlosses soll so viel, als Petra fracta, andeuten, und spielt demnach wahrscheinlich auf den Gebirgsbruch an, der die Kluft öfnete, die sich die Grafen von Landquart zu einem Wohnsiz ausersahen. Noch disseits der Schlossbrüke an der Seite des Walseina und weiterhin in verschiedenen Gegenden des Brätigaus trafen wir Kalköfen an, in welchen der beschriebene Kalkstein gebrannt wird; der Unterschied dieses Kalks vom gewöhnlichen Kalke ist in der Gegend nicht unbemerkt geblieben: Man nennt ihn, der Farbe wegen, die er im Brennen annimmt, roten Kalk, … auch Wetterkalk genennt, …
Der erste Ort im Brätigau ist das sogenannte Pratisle (in der Volkssprache Pardisle), dessen Name von pratum abgeleitet wird, ein kleiner Weiler, der aus einem Wirtshause und etlichen zerstreuten Häusern am Fus des Seewisserbergs steht. In der Höhe ligt auf einer Vorstufe dieses Bergs das Dorf Seewis, von welchem er den Namen hat. Noch höher, eine Stunde hinter Seewis, ligt das Ganeyerbad, das ich nicht selbst gesehen habe. Es wird aus vier nahe beisammen entspringenden, dem Gehalt nach sehr unänlichen, Quellen zusammengeleitet und künstlich erwärmet. Hr. Dr. Amstein hat, die sämtliche Quellen zu untersuchen, angefangen, und wird vielleicht künftig eine Beschreibung dieses Bades bekannt machen. Einige iener Quellen kommen aus stalgrauen, Schwerspat und Schwererde enthaltenden, mit Eisenkieswürfelgen reichlich durchstreuten, Hornsteinschifer, hervor. Unter mehreren Stufen, Hökern und Klippen des Seewisserbergs zeichnet sich ein hervorstehender Fels durch die Ruinen des Schlosses Solavers aus, dessen Name auf die der Mittagssonne zugekehrte Lage anspielen soll.
Am Fuss des Bergs zieht sich ein aus Trümmern von ihm aufgehäufter Hügel gegen den Fanoserberg hin, den ein tief ausgerissenes Tobel absondert, in welchem der Ganeyerbach herniderbraust, der in dieser Gegend schon grosse Verwüstungen angerichtet hat. Ein Ausbruch dieser Art von 1762 ist noch in frischem Andenken, der von einem vormaligen Dörfgen Schmiede nichts, als eine Hufschmiede, nicht fern von der Strasse, übriggelassen hat, die noch den Namen des zerstörten Dörfgens erhält. Auch die Felder sind so sehr verwüstet, und mit herbeigefürten Geschieben, die noch von Zeit zu Zeit durch neue Ergiessungen des Bachs und der Landquart vermehrt werden, überladen, dass die ganze Gegend die Risse genennt wird.
Jenseits des Ganeyerbachs (nach der Volkssprache Ganeyrenbach), nächst unter dem Tobel, aus welchem er in einigen ansehnlichen Fällen herabkommt, ligt das Dorf Grüsch am Fus des Fanoserbergs.
Dieser Berg, an dessen Abhang das Dorf Fanos (nach der gemeinen Aussprache Fanas), auf einer Vorstufe ligt, kommt  mit dem nächstliegenden Theile des Seewisserbergs, so viel sich im Vorüberreisen erkennen lies, in der Gebirgsart überein; … . Das Gebirge ist auch hier grossentheils mürbe und los, insbesondere am Böschis, einem Vorberge des Fanoserbergs, an dessen zerrissenen und steil abgeschnittenem Absturze über der Landquart der Weg nach Schiersch hinfürt. Die Gegend von Schiersch fällt, besonders wegen einigen symmetrisch gestellten grasreichen Hügeln, sehr anmutig in die Augen. Neben vielen Wiesen und Waiden sieht man hier auch Gärten, Kartoffelfelder, Wallnüsse und andres Obst. …  Von Schiersch aus zieht sich die Strasse eine Streke lang zwischen zerstreuten Häusern und Bauernhöfen am Gebirge hin; man nennt die Gegend im London.
Von da kommt man in ein Thal hinab, in welchem ienseits der Landquart, über die eine Brüke fürt, das Dorf Jenaz ligt. Das Bad bei diesem Dorfe ist wenig mehr in Uebung, da die Gegend mit wirksameren Bädern genug versehen ist. Nicht weit von Jenaz ligt am Fus des Gebirgs das Dorf Fideris, und über diesem in einem wilden Tobel, aus welchem der Fiderisserbach herabkommt, das Bad gleichen Namens, wo wir nach halbstündigen Ansteigen eintrafen.
Das Fiderisserwasser quillt kalt hervor, und enthält, nebst etwas Eisen und Schwefelleber, vornemlich Bittersalz, und einen so reichlichen Gehalt an Luftsäure, dass der angenehme und erfrischende Geschmak von dieser darinnn vorschlägt. Anderwärts würde ein solches Wasser vornehmlich als Trinkquelle benuzt werden, aber der ausgedehnte Gebrauch, den man in diesen Gegenden von Badecuren macht, hat die Gesundwasser gröstentheils in Bäder verwandelt, deren Gebrauchsart gleichwol, vornemlich bei den Ausbadecuren, das Trinken des Wassers mitbegreift. Das Wasser wird aus zwei sorgfältig eingefassten und bedekten Quellen, deren eine etwas stärker, als die andere, ist, in den Kessel geleitet, und, nach der Erwärmung, in zwei Badstuben, iede zu 24 Kästen, vertheilt. Die Gebäude sind neu, und Hr Bundschreiber Engel, der der Badwirtschaft vorsteht, macht sichs zur Angelegenheit, die Curgäste nach Vermögen zu besorgen. …
Vom Fiderisserbade gingen wir dem Antonienthale zu, erst zurük ins Jenazerthal hinab, und über die Landquart, dann nach dem Dorfe Luzein, das am Abhang der nördlichen Gebirgstreke ligt, die, nebst mehreren Thälern, auch das Antonienthal begreift. …
Oben auf dem Luzeinerberge wird die Aussicht durch einige malerische Landschaftsstükke unterhaltend: Rükwärts zeigt sich ein grosses, im Halbkraise steil und tief ausgehöltes, wildes Tobel, Schaniel genannt, mit einem schäumend niderstürzenden Waldbache gleichen Namens; vorwärts das Klosterthal, eine waidenreiche, ganz von Gebirgen umschlossene, anmutige Ebne; zur Seite eine länglichsvierekige Kuppe auf dem Ruzeberge, die, ihrer Gestalt wegen, der Ristenstein genennt wird. Der Luzeinerwald fürt, nach Zurüklegung des Bergs, in den Guferwald, … Auch hier bleibt das Gebirge, dem Stoffe nach, sich noch gleich: … Aber der sichtbare Umsturz der Schichten und die gewaltsame Zerrüttung des ganzen Baues zeichnet diese Gebirgstreke ganz besonders aus: Wie Pfeiler, stehen Reihen solcher Schiferbänke, theils senkrecht, theils in wenig geneigten Richtungen, zum Theil so gar übergekrümmt und umgebeugt beisammen. Durch mancherlei zufällige Verbindungen geben sie oft die sonderbarste Ansichten: Wir verweilen lange vor einer solchen Säulenreihe, unter der die Dalvaz in einem tiefausgegrabenen Bette vorüberfliesst; ueber ihr steigen Tannengruppen von der glüklichsten Zusammensezung empor, zwischen welchen eine kleine Jägerhütte eingepasst ist; an den Seiten spielen Wasserfälle zwischen den Stufen der zerrissenen Felsenwand; dem von hinten einfallenden Lichte sezt der dichte Wald sein abstechendes Dunkel entgegen.
Nach vier Stunden kamen wir nach St. Antonien (der Landesaussprache nach St. Anthöny); diesen Namen hat das ganze über drei Stunden lange Thal, und in engerer Bedeutung die Gegend um die Pfarrkirche, die nicht sowol ein eigentliches Dorf, als vielmehr den vornehmsten Sammlungspunkt einer, weiterhin mehr und mehr zerstreuten und durch den grössten Theil des Thals verbreiteten, nicht unbeträchtlichen, Anzal von Häusern ausmacht. Mit Mühe fanden wir eine Herberge, weil die meisten Einwohner im Sommer, zumal zur Zeit der Heuernde, auf ihren Besizungen im Gebirge zerstreut sind. Ihr Winteraufenthalt im Thale ist mit mancherlei Beschwerlichkeiten und Gefaren verknüpft, obgleich die Kälte vergleichungsweise da sehr gelind seyn soll; sie werden aber oft wochenlange, theils durch die Tiefe des Schnees, theils durch die Gefahr der Schneefälle, in ihre Wonungen eingeschlossen. …
Mit anbrechendem Tage machten wir Anstalt, die Gavier (Gavia mons in den schriftlichen Nachrichten, der Landesaussprache nach Caffierberg) und Madrisenberge zu besteigen. Auf dem Wege dahin fanden wir um die Sommerwonungen an den nächsten Vorbergen, und an denen, durch welche sich weiterhin das Gavierthal hinaufzieht, häufig Blagdengärten. …
Das Gaviergebirge beginnt eine, durch Lage, Bau, und ihre ganze Beschaffenheit, merkwürdige, von allen Seiten abgeschnittene, Kalkstreke, die eine von Südwesten ausgehende, im Bogen zusammengestellte, Reihe von Kalkfelsen nach Nordwesten überfürt, wo die Sulzflue, einer ihrer ansehnlichsten Gipfel den Zug schliest, und nordwestlich an den Rhäticon, nordöstlich an die Montafuner Gebirge angränzt, von welchen aus die Gebirgskette widerum ununterbrochen fortgeht.
Schon das sogenannte Gavierthal, oder vielmehr der langsamer ansteigende Theil des Gebirgs, ist mit Trümmern der steilen und zerrissenen Felsenreihen, die ihn umschliessen, in Menge beladen. Man zeigt unter dem Namen des grossen Steins ein durch seine Grösse besonders ausgezeichnetes Felsenstük dieser Art, das bis zu den Mayensäsen herabgekommen, und mit Gebüschen bewachsen ist, zwischen welchen zwei ansehnliche Speierlinge hervorragen. Der felsige Rüken des Gebirgs hat den Namen der Gavier Platten, ein grosser Theil davon stellt wirklich Plattformenartige abgeglättete Flächen vor; mit diesen wechseln aber öfters krause, ausgehölte und in die seltsamste Gestalten geschnizte, oder vielmehr zerstükte Stellen ab. Häufig stehen da senkrechte oder doch sehr abschüssige Klüfte offen, die zum Theil von beträchtlicher Mächtigkeit sind, und in unergründete Tiefen nidersezen. Eine der mächtigsten dieser Klüfte, deren nie erhellter Schlund sich klafterweit öfnet, wird der Ungeheuerschoken genennt. Die Ränder dieser Klüfte sind zum Theil aufs sonderbarste gewunden, gezakt, zerrissen, und oft mit Tropfsteinen, zuweilen auch Tuffsteinen besezt.
Ehe wir noch die Scheitel dieses Gebirgs erreichten, kamen wir schon zu beträchtlichen Schneelagen, wo wir zuweilen bis an die Hüften einsanken. Auf den Gavierplatten halten sich im Sommer häufig Schneehüner auf, die oft mit grossem Geräusche vor uns aufflogen. Nachdem wir uns auf einem unverhofft entdekten grünen Pläzgen etwas erfrischt hatten, sezten wir unsren immer mühsameren Weg über die Schneelagen und die äusserst abgerollte, zersprengte und zerrissene Klippen des übrigen Theils der Gavierplatten nach dem Madrisengebirge fort. An vertieften Stellen hatten die Schneelagen häufig Gruben und Rinnenähnliche Furchen, deren Schnee sich durch eine rosenrote Farbe auszeichnete, die etwas blässer erschien, aber doch nicht gänzlich verschwand, wenn man ihn von der Stelle nahm, und am durchfallenden Lichte betrachtete. …
Auf dem Rükwege überfiel uns ein Gewitter, das sich durch einige Wolken ankündete, die wir schon auf Madrisen von unten heraufsteigen sahen; sie erreichten uns im Hernidersteigen von Gavia, umhüllten, und bethauten uns etwas; bald darauf sahen wir blizen, und hörten Donner von Tobel zu Tobel widerhallen. Ein heftiger Schlagregen trieb uns iezt in eine Hütte des Gavierthals, die uns schon am Morgen geöfnet worden war, und wo uns, nebst Milch, die sogenannte gesunde Suffi (Molken samt dem darin liegenden Zieger), Butter (nach der hiesigen Mundart süs Schmalz), Brod, und Käse aufgetischt wurde. In der vergeblichen Hofnung, dass der Regen nachlassen würde, beharrten wir auf dem Vorsaze, noch Partnun zu erreichen, um am folgenden Tage die dortigen Grotten zu besuchen.
In diesem Dorfe, das nur den Sommer durch von St. Antonien aus bewont wird, kamen wir, ununterbrochen beregnet, Nachts um zehn Uhr an, da schon alles ruhte; wir mussten uns glüklich preisen, nach theils unbeantworteten, theils verweigerten Bitten um Aufnahme, endlich ein Haus zu finden, wo man uns, auf dringendes Ablehnen von allerlei Bedenklichkeiten, einlies.
Der Regen lies den folgenden Tag noch nicht nach, und unsre Wirtsleute verkündeten uns, allen Anzeigen ihrer Witterungskunde nach, nichts anders, als Leidwetter, d. i. wenn ie dieses nachdrükliche Bündnerische Wort einer Deutung bedarf, anhaltendes Regenwetter. Wir entschlossen uns demnach, auf weitere Unternehmungen in der Gegend, und selbst auf die Besichtigung der benachbarten Tropfsteinhölen, zu welchen der Zugang nun allzuschlüpfrig und unsicher geworden war, Verzicht zu thun, und die Pferde, die wir von Fideris aus nach Marschlins zurükgeschikt hatten, widerum zu berufen. Die Zeit unserer Gefangenschaft wendeten wir zu Erkundigungen über die ökonomische Einrichtungen unsrer Wirtsleute an. Die Familie bestand nur aus vier Köpfen, einem alten Vater, der meistens ruhte, seiner Frau, die die Küche, und was sonst im Hause zu thun war, bestellte, und dem Sohn, der mit seiner Frau das Vieh besorgte. Sowol hier, als in Antonien und Gavierthale überhaupt, hatten wir von der mehrmals angemerkten vorzüglichen Grösse und sichtbaren Stärke so mancher Gebirgsbewoner sehr bestätigende Beispiele vor uns. Aelplerische Gutmütigkeit und Dienstwilligkeit entwikelte sich bei unsern Wirtsleuten immer mehr, wie sich ihre erste Scheue verlor; sie äusserten nur darüber bei iedem Anlasse ihre Unruhe, dass wir mit ihrer Bedienung übel zufrieden seyn würden, doch wurden sie bald gesprächig, und brachten mancherlei verständige Fragen, mit unter auch launische Einfälle vor. Mit anbrechendem Tage besorgten die iunge Eheleute das Vieh, das man hier nur den Tag über auf den nahe liegenden Waiden lässt, und nicht nur die Nacht durch gewönlich im Stalle behält, sondern, zumal bei nasser Witterung, auch des Morgens füttert, und erst nach dem Melken durch den Gemeindhirten zur Waide füren lässt. Gegen sieben Uhr nahm die Familie gemeinschaftlich ihr Frühstük, das aus Milch, Brod, Zieger und Käse bestand. Gegen 8 Uhr gingen die iunge Leute zum Melken, und übergaben die Milch der Mutter, die das Sennen besorgte. Nach neun Uhr sezten sie sich widerum zu Tische, um zu Mittag, oder vielmehr, auch dem gemeinüblichen älplerischen Ausdruke nach, zu Morgen zu essen. Suppe, Molken und Zieger, Sauerkraut, Schweinfleisch, Würste, und Brod waren die Gerichte dieses Mals. Um zwei Uhr nahmen sie widerum Milch, Brod, und Käse, und um sieben Uhr Gerste mit Milch gekocht, Milch, Zieger und Brod. Nach dem Morgenessen sezte die Mutter, mit Hülfe ihrer Schwigertochter, die Milcharbeiten fort, und besorgte etwas Essen für uns. Der Sohn sezte sich an die Schnizbank, Heinzen zu machen.
Die Antonier haben keine Gemeinsennten; jede Familie sennt, wo möglich, für sich; nur wenige, deren Viehstand allzugering ist, treten mit andren, die im gleichen Falle sind, in kleine Gesellschaften zusammen, um den täglichen Milchertrag für die Bereitung eines kleinen Käses zusammenzubringen; die Alphütten sind daher in diesen Gegenden zalreicher, als in solchen, wo die Sennarbeiten im grossen getrieben werden.
Da der Butterhandel in Bünden frei ist, bereitet alles Butter, und daher meist blos magre Käse. Zur Butterbereitung bedienen sie sich, statt der anderwärts üblichen Butterfässer, mit besserem Erfolge der Tröllkübel, die nach Art einer Handmühle, eingerichtet sind, und die Absonderung der Butter schneller, vollkommener, und reinlicher bewerkstelligen. Die Antonier thun sich auf die allerdings erheblichen Vorzüge des süssen Sennes, gegen ihre Montafuner Nachbarn und andren sauer sennenden Aelplern, viel zu gute. … In einigen Milchländern, wie eben im Antonienthale, wo das Brod nicht so selten ist, dass die Zieger, seinen Stelle zu ersezen, unentbehrlich würden, bereitet man diese überhaupt selten, und hingegen für den täglichen Selbstgebrauch meist nur iene gesunde Suffi; die übrigen Schotten samt dem gröberen ziegerartigen Niderschlage werden dann unter das Futter der Schweine gemischt.
Der Himmel hatte sich am folgenden Morgen noch nicht aufgeklärt, doch machte uns das etwas Mut, dass es auf den Bergen, dem älplerischen Ausdruke nach, angeschnien hatte. Wir entschlossen uns daher, zur Beschleunigung der Rükreise, unsren Pferden entgegen zu gehen, die, den Nachrichten unsres Boten zufolge, nicht mehr fern seyn konnten, und wirklich schon bei der Kirche von St. Antonien zu uns kamen. …
Man sieht in diesen Gegenden hin und wider Schnekengärten, kleine abgesonderte Graspläze, die mit Weinbergschneken (Helix pomatia Linn.) besezt sind, welche da gehegt, und, durch schmale, etwas tiefe, Wassergräben, oder auch nur durch Streifen von hingestreutem Holzmeel, verhindert werden, ihre Waidpläze zu verlassen und sich weiter zu verbreiten.
Der Eintritt in die zuvor beschriebene Berglüke zwischen dem Walseiner und Seewisserberge, die auch die Clause genennt wird, fällt von dieser Seite besonders feierlich in die Augen: Beide abgerissene Berge sind an der nun zugekehrten Ostseite mit Wäldern bekleidet; ihr Rüken bildet einen deutlich fortlaufenden, blos an der Stelle des Risses unterbrochenen, etwas geschweiften, Kamm; an den Seitenwänden der Lüke blikken, zwischen Ruinen des Gebirgs, die Ruinen des Schlosses Frakstein hervor; die bedekte Brüke umspannt den ganzen Zwischenraum, dessen Grund die brausend durchströmende Landquart einnimmt; zurükgedrängt schmiegt sich der schmale Weg an die Felsen hinan; vorwärts erscheint der malerisch ausgeschnizte Fläscherberg an der Gränze des reizenden Durchbliks, und rükwärts erweitert sich die Landschaft, und bereichert sich mit Scenen des bewonten, angebauten, und aus der Verwüstung neuaufblühenden Landes.
(Quelle: Alpenreise vom Jahre 1781, Gottlieb Storr, 1786)

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So wie man aus dem Lichtensteinischen kommt schliesst sich das Thal, und die Bündtner-Gebirge fangen mit der St. Luziensteig an. Der Weg geht stark aufwerts zwischen hohen, theils waldigten, theils kahlen, Mauernähnlichen Felsen, die sich immer näher zusammenziehen, und den durch verschiedene blutige Auftritte berühmten St. Luzien-Pass bilden, der durch eine Schanz und Mauer von einem Berge zum andern gezogen, und mit einer Zugbrücke gesichert ist; wobey ein Wacht- und Zollhaus, und weiter hin eine Kirche, nebst einem Wirthshause steht. Die Strasse ist gut; aber die Gegend buschigt, einsam und etwas unheimlich, bis man hinab auf Meyenfeld, einem kleinen schlechten Städtchen, kömmt. Hier öffnet sich ein schönes Thal und eine herrliche Aussicht. Zur Rechten strömt der Rhein, stark und kräftig, durch Gebüsche und Auen, und seine eigenen Verheerungen hin; an seinem jenseitigen Ufer stehen Ragaz und Vaz, und über ihnen, auf der waldigten Höhe, das Kloster Pfeffers. Zur Linken erheben sich, Wiesen, Felder und Reben, und hinter ihnen reihen sich, dem Gebirge nach, Dörfer, einzelne Hütten und Schlösser. Da zeigt sich nahe bey Malanz der Eingang ins Bretigau, eine Bergöfnung so schmal, von unten bis oben, als wäre sie durchgehauen worden; weiterhin erscheint, im dunkeln Schatten eines Tannenwaldes, Marschlins, berühmt durch sein Philantropin, und dessen klägliches Ende. – So zieht sich das Thal fort, bis nach Zizers, und von da nach Chur, immer zwischen hohen Bergreihen, die bald mit Gras und Holz bewachsen, bald kahl und wild, von Rufinen und Bergströmen durchkreuzt – sind; unten geht indessen der Weg einsam den Krümmungen des Rheins nach, durch Wiesen, Felder und Allmende; selten kömmt man durch ein Dorf, diese stehen schöner zur Seiten, am Fusse ihrer Berge, zur Hälfte von Bäumen und Reben bedekt, als wenn sie da, ferne von der Landstrasse, ihre ländlichen Sitten sichern wollten. Nahe bei Chur wird das Thal enger, die hohen Bergrüken verwandeln sich in einzelne, abgesönderte, kahle Felsenspitzen, die, wenn ich so sagen darf, wie Artischokenblätter hintereinander empor stehen, und der Gegend ein finsteres Ansehen geben. …
(Quelle: Archiv kleiner zerstreuter Reisebeschreibungen durch merkwürdige Gegenden der Schweiz, St. Gallen 1796 – 1802. Fragmente einer Reise durch Bündten. Im May 1790.)

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… So wie man die Ecke an der hohen Wand herumwendet, öffnet sich das weite Sarganser Thal von hohen bewaldeten Gebirgen umgeben, über welche südlich der graue Calanda sein stolzes Haupt empor strebt. Das alte Schloss Sargans westlich an der Ecke des Schollbergs beherrscht von seinem Marmorberge ein 6 Stunden langes Thal; rechts schauet es nach dem Wallensee, links nach Wartau, und gerade vor sich nach Graubündten, dessen ausserordentliche Gebirgsmassen den erhabensten Anblick gewähren. Ich wandte mich von dem Felsenfuss herab ins weichsümpfige Thal, und nahm meinen Weg mitten durch die Ebene nach Ragaz. Das Thal selbst ist einsam und öde, indem das Auge auf dieser zwei Stunden langen Fläche weder Wohnungen, Hütten, noch Viehheerden erblickt, nur wenige Dorfschaften liegen rechts am Fusse der Gebirge, durch die Perspektive verkleinert und versteckt. Der Wiesengrund, welcher diese weite Ebene deckt, zeugt von Nachlässigkeit und Trägheit; den vielfachen Ueberschwemmungen und dem Verderben des Bodens sieht man wenig Einhalt gethan. Der Anblick des Rhätikon ostwärts jenseits des Rheins zerstreut jede Langeweile, welche sonst der Weg durch diese Thalfläche erregen könnte. Man kann dieses kühne, furchtbare Gebirge, dessen zerrissnen schwarzen Körper und nackte ungeheure Wände nicht genug anstaunen. Den Fuss dieser schauerlichen Felsen-Natur überziehen Büsche und Wälder bis in die Ebene herab, welche das fruchtbare Rheinufer bildet, wo die bündtnerischen Oerter Fläsch, Maienfeld, Jenins, Malans zwischen Obstbäumen und Weinbergen hervorglänzen. … Nach Südwesten fällt der Blick durchs Taminathal auf rauhe und hohe Gebirge, nach Osten über das Sarganser Thal, über die fruchtbaren Gegenden von Maienfeld, Jenins und Malans auf die nackten Felsenwände des Rhätikon, welcher sich von hier in seiner ganzen kühnen Wildheit darstellet. Der höchste pyramidenförmige Gipfel dieser Felsengruppe, Ceucia plauna, Caesaplana, 1700 Klafter über dem Meer erhaben, trägt einen Stunden langen Gletscher, und schaut über alle benachbarten Gipfel auf Deutschlands Gefilde bis nach Ulm. Nicht weit davon am Ende eines Felsenkamms erhebt sich ein anderer Zingel (so nennen hier die Bergbewohner jedes hohe Felsenhorn), welcher den Grenzposten des Bündtner Landes macht, und etwas tiefer steht der Falknis, von dem die nackten Felsen bis an den Rhein bei Luziensteig abstufen. Ein alter Alpenbewohner, der meine Neugierde mit Vergnügen befriedigte, deutete mir rechts von der Caesaplana auf dem hohen Grat das Schweizer- und das Druchsesthor an, zwei Gebirgspässe aus Bündten ins Montafunthal, und ganz tief unterhalb den Felsenriss Kluss, durch welche die wilde Landquart aus dem Brettigau heraus stürzt.
Mit besonderm innigen Vergnügen blickte ich zu meinen Füssen auf den jugendlichen Rhein herab, wie er hier, ganz im Charakter der Natur, die ihn erzeugte, wild, roh, ungestüm und trübe sein Geburtsland verlässt. Welche Hindernisse setzten sich seinem Laufe sogleich von allen Seiten entgegen, und welche Kämpfe musste er bestehen? Ueberall unübersteigliche Felsenmauern, aber seiner Riesenkraft war kein Widerstand zu gross. Mitten durch ungeheure Gebirge brach er sich nordwärts seine Bahn, und gelangte endlich nach unsäglicher Kraftübung in die freie Weite des Bodensees. …
(Quelle: „Schilderung des Gebirgsvolkes“, 1802, Johann Gottfried Ebel)

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Die lieblichen Nebenthäler des Rheines, die Landschaften Prättigau, Davos und Montafun, welche durch Bergzüge von einander getrennt sind, werden durch Passübergänge über die Sättel derselben mit einander in Korrespondenz gebracht. … In die zerklüftete Alpenmauer des Rhätikon sind die Engpässe des Schweizerthores und Drusenthores, wie auch der Plasseggerpass und das steile Schlappinajoch gesprengt, zu denen wilde, eine starre Einöde durchkreuzende Hirten- und Jägerpfade aus den grünen Bergthälern Prättigau’s empor- und östlich von der hochthronenden Scesaplana nach dem Thal von Montafun im Norden hinabsteigen. …
(Quelle: Das Schweizerland. Eine Sommerfahrt durch Gebirg und Thal. Woldemar Kaden, 1875-1877)

Alte Bäder im Rätikon

Das Fläscher-Bad. Balneum Faliscanum.
Dessen Beschreibung wil ich geben / wie ich sie einverleibet meinen Schweiz. Natur-Gesch. T. II p. 199.
Es liget in einem schönen fruchtbaren / an dreyen Seithen gegen dem Sarganser- und Schweizerland / gegen dem Rheinthal und Teutschland / und gegen dem Pündtnerland / offnen Gelände / eine Vierthelstund von dem Dörfflein Fläsch / Faliscum, Flasconis, Flascis, welches vermuthlich seinen Urnamen herholet von den Faliscis, welche von Strabo und Plinius gesetzet worden in Hetruria zwischen dem Berg Crimino, und dem Tyberfluss / um die Statt Falisca, so jetzt Civita Castellata, ursprünglich aber herstammen von Argos in Griechenland. Diese Faliscer / oder Fläscher mögen wol mit den Tuscaneren / so auch aus Hetruria kommen / unter dem Hauptmann Raeto über das Gebirg gezogen / und allhier bey Fläsch sich niedergelassen haben / gleich die Tuscaner bey Tusis im Domleschg / welcher Flecken auch daher seinen Namen bekommen / worüber in mehrerem zulesen Guler Raet. p. 4. Von diesem Dorff Fläsch sind A. 1091. viel Güter vergabet worden an das Benedictiner-Kloster Zweyfaltum im Schwabenland von Lütold Graffen von Alchheim ob Reutlingen. Gul. p. 121 b. Es hat auch diss Dorff viel ausgestanden in den Pündtnerisch-Oesterreichischen Kriegen A. 1621 und 1622. … Sonst ligt Fläsch im zehenden Gericht des Zehen Grichten Pundts unter der Meyenfelder Herrschaft / und das Bad mit dem Badhauss an einem sehr luftigen / erhöchten Orth / ohngefehr einen Büchsenschuss weit von dem Rhein / so dass man aus dem Losament übersehen kan eine weite Landschafft / obsich gegen Meyenfeld / Ragatz / Pfefers / niedsich gegen Sargans / und auf einmal zu einem Vorschein hat Felder / Wiesen / Wälder / Wasser / Berg / in Summa alles / was zu einer vollkommenen Landschafft gehöret; nächst darbey wachsst der edle Fläscher-Wein / welcher mit Recht kan angesehen werden pro primitiis vini Rhenani, als der erste und beste Rhein-Wein / welcher meines Bedunkens an Haltung / und gesunder Wirkung die Italiänischen / und an Stärke und Lieblichkeit andere / so wol Schweitzerische / als Teutsche Rhein-Wein übersteiget / und den Bad- oder Trinkgästen zu grossem Heil und Trost dienen kan / um so vielmehr / weilen der beste von allem Fläscher-Wein in des edlen Herren Bad-Besitzers eigenen Güteren wachsst / und Er sich mit Recht rühmen kann eines kostlichen Wasser- und Wein-Schatzes. Nebst diesem edlen Weintrank mangelt es nicht an guten / annehmlichen Esswahren / wie sie in wolfeylem Preiss haben / und zubereiten können nach Gefallen: Es kan auch ein Liebhaber der Jagd in dieser Gegne ihme selbs einen Braten auftreiben von fliegendem oder lauffendem Wildprät; so findt man auch den edelsten Fisch / und gutes Brot zur Genüge. Das Losament und Badhauss sind mit allen erforderlichen Nohtwendigkeiten versehen. Diesere Situations, Ess-Trink- und Lust-Vortheile / möchte mancher ansehen als unnöhtig / welche aber gar viel / ja offt das meiste beytragen zu glückseligem Austrag der Cur / wesswegen sie mit Fleiss habe der Beschreibung vorsetzen wollen.
Es quillet das Fläscher Badwasser allernächst ob der Badhütte aus einem Felsen / auf welchem der beste Wein wachset / an dreyen unterschiedlichen Orthen herfür / von wannen es alsobald in zwey grosse Kessel geleitet wird / hiemit denen Badenden an der Hand ist / und nicht durch weiters führen geschwächet / oder mit Regenwasser vermischet wird.
Alsobald / wo das Wasser hervor quillet / henket sich an den Felsen an eine Materi / so dem Tofo, oder Tugstein gleich / ohne Geruch / sonder vielmehr / wann je ein Geschmack ihme beyzulegen / milt und süsslecht ist.
Wann dasselbe siedet / so wird es Milch-weiss / wegen vielen irrdisch- und saltzichten Theilen / welche sich hernach zu Boden setzen und an dem Kessel anhenken in Gestalt eines Tartari, Tofi, Bad- oder Wassersteins / welcher von Anschüttung des Vitriol oder anderen scharff-sauren Geists in einen Jast gerahtet / aufgehet / und einen aromatischen / ganz lieblichen Dampf / oder Rauch von sich gibt. Sothane Fermentation ist anderen Badsteinen / die gemeinlich alle irrdisch Alcalischer Natur sind / gemein / es hat aber der Fläscher-Wasser-Stein noch etwas anders in recessu, und namentlich ein süss-saurlecht-zusamenziehendes braunes Saltz / wie ich dann dessen 7. Drachmen, oder Quintlein erhalten aus 30. Pfund des Steins. Dieses Aluminos-Saltz selbs kan auch mit dem Mund gespürt werden in dem Badstein als der Anfangs zwar ungeschmackt / jedennoch aber eine zusamenziehende Süssigkeit hat / auch selbs lasset es sich sehen in dem Wasser / welches / wann es lang gesotten / braunlecht wird / und oben auf bekomt eine schwimmende / ölichte Feuchtigkeit / welche zum Theil in dem Saltz gespüret wird / und eines verhandenen Schweffels Anzeig ist. Hieraus ist zuersehen / dass wir in unserem vorhabenden Fläscher-Wasser haben:
1. Das reine / helllautere / an und für sich selbs in viel Weg gesunde Berg-Wasser.
2. Eine irrdische Materi / welche einer gesiegleten Erde / oder dem Spath kan in Ansehung ihres Ursprungs / und Wirkung verglichen werden.
3. Ein Aluminoses Saltz.
4. Einen subtilen Schweffel; wo der von anderen ihme zugeschriebene subtile Salpeter-Geist / und Stahel seye / kan ich nicht wissen / als der die blosse braune Farb vor eine undienliche Anzeig des Stahels halte.
Aus jetz gefundenen 4. Haubtquellen leite ich her des Fläscher-Wassers Eigenschafften und Wirkungen. Und 1. zwaren aus den Wasser-Theilen selbs eine anderen Berg-Bäderen / und Wasseren gemeine subtil durchtringende / das Geblüt / und Geister bewegende / die Gall innerlich demmende / den Jast derselben / und des Geblüts hinderende / und die kleinsten Aederlein durchlauffende Krafft.
2. Von denen weissen irrdischen Theilen eine auftröcknende / die Säure verschluckende / alte fliessende Schäden / und Geschwär heilende / und den Leib stärkende Eigenschafft.
3. Von denen Aluminisischen Saltz-Theilen eine Schleim auflösende / abtreibende / die Verstopfungen wegnemmende / und zugleich auch die zarten Leibs-Zäserlein kützlende / und zu Abtreibung des ihme beschwerlichen Feinds aufmunterende Wirkung / von welcher auch nicht wenig herrühret die zusamenziehende Stärke des Wassers / welche demselben vor vielen anderen den Vorzug gibet.
4. Sind die schweffelichten Theil anzusehen als balsamisch / besänfftigend / und Schmerzen linderend.
Hieraus können verständige / sonderlich in der Natur-Wissenschafft geübte Doctores, denen / und nicht den Vieh- und Stümpel-Arzten / vorgeschriebene Anatomie des Wassers / übergibe / ersehen / in was vor Zuständen dieses Heilwasser zugebrauchen / und namentlich / wie es einzurahten seye so wol innerlich / als äusserlich / denen Gall- und Miltz-süchtigen / welche von Zeit zu Zeit eine Menge gallichten Schleims in ihrem Magen / und Gedärmen samlen / und dessnahen so vielen Aufblähungen des unteren Leibs / als auch Verstopfung / und Verdickungen des Geblüts / Verdunklung der Geisteren / Unmuth / und Melancholie unterworffen sind / welchen nebst denen Ordinari-Wirkungen des Wassers wol dienet der gesunde Fläscher-Lufft / der edle Fläscher-Wein / der schöne Prospect, die angenähmen Spatziergänge / gute Gesellschafft / und andre dergleichen Gemüht-erfreuende Ding / die man nicht leicht anderstwo in compendio beysamen findt / wie hier die so genante Hypochondriaci, deren Gesellschafft in unseren Landen je mehr und mehr sich vergrösseret / werden bey dem doppleten innerlichen / und äusserlichen Gebrauch / oder auch bey diesem allein erfahren / sonderlich wann sie herkommen mit einem vorher gereinigten Leib / wie der gallichte Schleim aufgelösst / die Wind / oder Bläst zertheilt / die Verstopfungen in ihren kleinsten Aederlein weggehoben / das Geblüt verdünneret / die Geister aufgeweckt / und des ganzen Leibs Zäserlein gestärket werden. …
(Quelle: Hydrographia helvetica. Beschreibung der Seen/Flüssen/Brünnen/warmen und kalten Bäderen / und anderen Mineral-Wassern des Schweizerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands zweyter Theil. Johann Jakob Scheuchzer. Zürich 1717)

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Das Gany-Bad.
Hernach folgende Beschreibung ist gezogen aus Herrn Georg Salutz / der dieses Bad 52. Jahr practiciert. Es ligt ob dem ersten Dorff im Prättigow / Seewiss genant / an einem luftigen wilden Orth.
Zween Brünnen quellen aus einem lebendigen Felsen / ein Klaffter von einander. Die ein Quell komt ab Gold / gibt auf dem Stein eine helle bolarische Tinctur / nicht rau roth / wie das Kupfer gibt / dergleichen Brünnen ad radicem montis fliessen. Der ander Brunn riechet lieblich von frischem temperierten Schweffel. Dieses Wasser ist auch reich an Vitriol und Resina Terrae, Erden-Wachss oder Oel genant / dann welcher nur 1 Stund darinn badet / befindet sich 14 Tag / als wann sein Haut mit sanfftem Oel gesalbet seye. Nächst bey des Brunnens Ursprung finden sich schöne Flores, oder Marchesitli, die halten Gold. Man hat bey meinem Gedenken daselbst ein Bergwerk aufrichten wöllen / ist aber durch eines Mannes Tod ersessen. Es ist auch nächst ob dem Ursprung ein Gämsengeläck / von grauer gesaltzener Materi / dahin gar offt scharen Gämsen kommen / auch viel da geschossen werden. Diese Adjuncta zeigen an / dass diese Refier gewiss reich seye an Mineralischen Schätzen / darab dieses Wasser fliessen thut. Das Wasser wird in Teuchlen herunter geführt ein Büchsenschuss weit / da gute Gelegenheit ist mit Behausung / Kessel / Holtz / etc. Nächst darbey den obgemeldten zweyen Brunnen-Quellen / ist neulich ein schöner Brunn erfunden worden / welcher schöne und gute Tugend hat / ein Aderen von Saltzwasser / und ein Aderen von Saurwasser / welches trefflich purgiert / und annähmlich zutrinken / auch schon allbereit probiert alten Leuthen / welche ein lange Zeit Purgatz bey ihnen gehabt / es stracks weggetrieben / ist auch von fürnehmen Doctoren in diesen Stucken gut eracht worden.
Dieses Bads Natur ist sehr hitzig, wie die Metall und Erfahrung mitbringt / desswegen seine Operation mächtig ist in erkalten Naturen / bey welchen das calidum radicale geschwächt ist / es seye gleich Weib- oder Mannspersonen / erwärmet es kräfftig / und stärkt die Natur.
Männer / so frigid & impotent waren / non natura, sed ex accidenti, haben in diesem Bad ihr Mannrecht erholet. Die Sciaticani oder Kaltgesücht heilet es. Für die Colicam Passionem oder Därmgrimmen ist es bewährt. Ist auch gut Kommlichkeiten des sauren Wassers zubekommen / dasselbig zugeniessen wer Lust hat.
Die Frauen / so erkaltete verschleimte Muter haben / deswegen sie nicht Kinder bekommen / diss Bad erwärmet und reiniget die Matricem, accommodiert sie zur Fruchtbarkeit durch Gottes Segen. Viel Exempel bezeugen es: Herr Landvogt Dietegen von Salis sel. hat 14. Jahr mit seinem Gemahel gehauset / und keine Kinder gehabt / als sie dieses Bad besucht / beschehrt ihnen Gott 6 Söhn. Landammann Turr von Zitzers hat 16. Jahr mit seiner Frauen gehauset / und keine Kinder gehabt / da sie dieses Bad gebraucht / haben sie angehnds Kinder bekommen. Dessgleichen Statthalters Tschanoyen Frau. Amman Martin Michels Frau von Seewyss war 53. Jahr alt / hat 7. Jahr ihre Sach nicht gehabt / besuchte diss Bad vonwegen ihrer Gliederen / wird gleich darauf schwanger / bekomt eine Tochter / Maria genant. Dergleichen wusste ich viel Beyspiel / ist nicht vonnöhten anzuziehen.
Viel Weiber weiss / so wegen strenger Geburt die Lacerten verstreckt / das Wasser nicht halten mögen / die sind durch Mittel diss Bads zurecht kommen.
Personen so lahm / strupiat / und man auf Pferden in das Bad geführt / sind hupfend und springend heim gegangen mit grosser Verwunderung.
Fieber / Gelbsucht / Wassersucht und Rohtruhr heilet es mit grosser Gnad.
Böse Schenkel und Leibflüss curiert es für andere Bäder. Herr Landshaubtmann Hans Enderle hat desswegen Baden / Pfefers / Fidris / Wallis / etc. besucht / hat aber Gany den Preiss gegeben.
Kleine Leistenbrüch an Weib- und Manns-Personen heilet es.
Desgleichen den reissenden Stein / Mangel der Blateren und Harns / Dysuria genant / desswegen viel Menschen Gott im Himmel danken.
Doch muss es in Gottesforcht und rechter Ordnung gebraucht werden / nicht unzeitig hinweg lauffen / sonder wie es sich gebürt / ausbaden / sonst macht man es nur ärger / wann die böss Materi zuwegen zogen / und nicht ausgeführt wird: gleiche Meynung hat es mit anderen Bäderen auch. So man fleissig badet / verrichtet man die Badenfahrt in 16. oder 18. Tagen / oder 3. Wochen am längsten. Am 5ten Morgen / wann alles erweycht / ist dienstlich ein wenig purgieren.
(Quelle: Hydrographia helvetica. Beschreibung der Seen/Flüssen/Brünnen/warmen und kalten Bäderen / und anderen Mineral-Wassern des Schweizerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands zweyter Theil. Johann Jakob Scheuchzer. Zürich 1717)

Verschiedenes: Die vermissten Quellen des im Jahre 1798 durch die Österreicher zerstörten Bades Ganei bei Seewis sind laut Fr. Rh. durch eine Expedition, die sich die Aufsuchung des einst so berühmten Badwassers zum Ziele gesetzt hatte, aufgefunden worden. Man entdeckte oberhalb dem ehemaligen Bade in den Felsen des Tschingels vier verschiedene Quellen, von denen eine besonders reichlich fliesst. Das Wasser wird nun analysiert.
(Quelle: Alpina 1894)

In zirka zwei Stunden gelangt man von Seewis nach Ganey, dem ehemaligen Schwefelbad, welches der Churer Pfarrer und Arzt Georg Salutz schon im Jahre 1649 folgendermassen beschrieben hat:
«Zwen Brunnen quellen aus einem lebendigen Felsen ein Klaffter von einander, die ein quell kompt ab Gold, gibt auff dem stein eine helle polarische tinctur, nicht raw rot, wie das Kupfer gibt, dergleichen Brünnen ad radicem montis fliessen. Der ander Brunn riechet lieblich von frischem temperiertem Schwebel. Dieses Wasser ist auch reich an vitriol und rasina terrae, erdenwachs oder öl genannt, dann welcher nur 1 Stund darin badet, befindet 14 tag als wann sein haut mit sanfftem öl gebadet sei. – Dieses Bads-natur ist sehr hitzig, wie die metall und erfahrung mitbringt, desswegen sein operation mächtig ist in erkalten naturen, bei welchen das calidum radicale geschwecht ist, es seye gleich Weib oder Mannspersonen, erwärmet es kräfftig und stärkt die Natur.
Herr Landvogt Dietegen von Salis sel. hat 14 jahr mit seinem Gemahl gehauset und keine Kinder gehabt, alss sie dieses Bad besucht, beschehrt ihnen Gott 6 schöne söhn. Landa. Turz von Zizers hat 16 jahr gehauset mit seiner Frawen und keine Kinder gehabt, da sie dies Bad gebraucht, haben sie angentz Kinder bekommen. – Personen so lam, strupiert, und man auf pferden in das Bad geführt, sind hupffend und springend heim gegangen mit grosser verwunderung. – Fieber, Gelbsucht, Wassersucht und Rotruhr heylet es mit grosser gnad. Böse Schenkel und Leibflüss curirt es für andere Bäder. H. Landshauptmann Hans Enderle hat desswegen Baden, Pfäffers, Fideris, Wallis etc. besucht, hat aber Ganey den preiss gegeben».
Zu Sererhards Zeiten (1740) gehörte das Bad dem Gerichtsschreiber And. Ganser, von welchem es «renovirt und in einen guten Stand gebracht worden.» Im Kriegsjahre 1799 wurde es durch österreichische Truppen, welche über die Kleine Furka aus dem Montafun gekommen waren, zerstört. … Hier biwakierten die Truppen im tiefen Schnee und demolierten das Badgebäude, indem alles Holzwerk losgerissen und zu Wachtfeuern verwendet wurde. …
Von einer ehemaligen Goldgrube unweit des Bades schriebt Sererhard: «Nur wenig Büchsenschuss ob dieser Quelle sind noch Merkmale zu sehen von einer Goldgrub, die ein gewisser Lieut. Ganser zu bearbeiten angefangen hatte, ist aber durch einreissende Pestilenz und Kriegen ins Stocken geraten.» Noch weiter oben fand Sererhard einige kleine Gruben, von welchen ein Bauer sagte: «er habe gehört, es seyen vor Altem Bäder der wilden Leuthen gewesen.»
(Quelle: Alpina 1909)

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Das Friewiss-Bad.
Ligt zwischen Untervatz und der unteren Zollbruck / oder Tardisbruck / in der Herrschaft Zizers im Gottshauss-Pundt; führet / nach Herr Michael Lochers von Chur gemachter Prob Kupfer / Silber / Vitriol / Alet / Talk und gelblechte Erden. Sol dienen in Schwachheit des Magens und Gliederen / Raud / und anderen äusserlichen Schäden / erkalteten Füssen / Gelbsucht / Schwachheit der Leber und Lungen / Durchlauff / Rothen-Ruhr / Blut-speyen / Guldenen Ader-Fluss / Verstopfung der Monatlichen Reinigung / Lähme / Podagra / Miltze-Krankheit. So es getrunken wird / machet es Appetit, und treibet das Sand aus den Nieren.
(Quelle: Hydrographia helvetica. Beschreibung der Seen/Flüssen/Brünnen/warmen und kalten Bäderen / und anderen Mineral-Wassern des Schweizerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands zweyter Theil. Johann Jakob Scheuchzer. Zürich 1717)

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Das Kalt-Bad in der Jeninser-Alp.
Eine Weil von Malans / in dem X. Grichten Pundt / wird gebraucht wider das Fieber und Raud.
Es wäre zuwünschen / dass man nicht nur von jetzt erzehlten / sondern auch anderen kalten Berg-Brünnen (dann zweifelsohne alle von gleichen Wirkungen / folglich auf allen Bergen / ja auch in Thäleren und Dörfferen dergleichen Wasser anzutreffen) mehrere und genaue Proben wurde machen / damit diese Materi zum Nutzen des Menschen in mehrere Heitere könte gebracht werden.
(Quelle: Hydrographia helvetica. Beschreibung der Seen/Flüssen/Brünnen/warmen und kalten Bäderen / und anderen Mineral-Wassern des Schweizerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands zweyter Theil. Johann Jakob Scheuchzer. Zürich 1717)

Der Federkrieg um die Erstbesteigung des Gamsberg

Oesterreichische Alpenzeitung Nr. 344, 1892:
Der Gamsberg (2385 m) (Oestliche Kurfürsten- oder Balfries-Gruppe). Von Dr. Carl Blodig in Bregenz
:
Wie oft hören wir in Bergsteigerkreisen darüber klagen, dass es fast unmöglich sei, unerstiegene Berge zu finden, besonders wenn man den Begriff «Berg» etwas genauer nehme und sich nicht mit der Erkletterung eines Gratzackens vierter oder fünfter Ordnung begnügen wolle. Um so erfreuter war ich, zu vernehmen, dass die zweithöchste Erhebung einer ganzen Gruppe, in unmittelbarer Nähe meines Wohnortes gelegen, von vielbesuchten Aussichtspunkten trefflich sichtbar, noch unerstiegen sei.
Für die in der Oro- und Hydrographie der Ostschweiz weniger bewanderten Leser dieser Blätter erlaube ich mir eine kurze Übersicht des betreffenden Gebietes vorauszuschicken. Im Süden des Bodensees erhebt sich westlich vom Rheinthale, nördlich von dem aus dem Weisstannenthale kommenden Selzbache und östlich von einer von Walenstadt am Walensee über den Voralpsee nach Grabs im Rheinthale führenden Senkung eine Gruppe prächtiger Berggestalten, die wohl schon Tausende und aber Tausende von Reisenden durch ihre schönen Formen entzückt haben und weit hinaus in das Alpenvorland über den Spiegel des Bodensees, in das Rheinthal, auf den Walen- und Zürichersee blickend, auf Karten und Panoramen bald als Oestliche Kurfürsten-, bald als Balfries- (Pallfries-), bald als Alvierkette erscheinen.
Die Haupterhebungen sind, von Südosten nach Nordwesten dem Hauptzuge der Kette folgend, der Gonzen (1833 m), ein von Sargans oder Trübach oft besuchter Aussichtsberg, der mit einer Clubhütte des Schweizer Alpen-Clubs versehene weitberühmte Alvier (2363 m), der Faulfirst (2413 m), die Rosswies (2369 m), der Gamsberg (2385 m) und der zuckerhutähnliche Schönplank (2270 m). Die österreichische Specialkarte (Zone 17, Col. 1 Bludenz und Vaduz) hat den Gamsberg zwar treffliche eingezeichnet, doch nicht namentlich angeführt; da ich in folgender Beschreibung mich immer auf diese Karte beziehen werde, welche der Mehrzahl meiner verehrlichen Clubgenossen leichter zugänglich ist als die Dufourkarte, so bemerke ich, dass der Gamsberggipfel sich südlich des Buchstaben a im Worte «Glanenkopf» im Hauptkamme befindet.
Schon im Jahre 1885, als ich gelegentlich einer geschäftlichen Reise Bregenz besuchte, fiel mir vom Pfänder aus der mit anscheinend ganz unnahbaren Wänden gepanzerte Gipfel auf. Durch mannigfache grössere Unternehmungen abgehalten, kam ich jedoch erst im Herbste 1890 dazu, dem Gamsberg meinen lang zugedachten Besuch zu machen.
Ich verliess Buchs am 20. September um 8h45m morgens und wanderte zuerst gegen Grabs, bog bei Stauden scharf nach Südwest ab und stieg über den Staudenerberg, eine etwa unter 25-30° geneigte Graslehne, über die Alpe Gampernei nach dem zwischen dem Margelkopfe und dem Punkte 2041 gelegenen Sattel.
Durch militärische und Berufspflichten verhindert, seit der Mitte Juli unternommenen Montblanc-Besteigung auch nur den kleinsten Hügel zu erklimmen, gestaltete sich mir dieser Weg mühsam. Die Hänge waren mit ca. 15 Centimeter Neuschnee bedeckt, es war infolge des Föhnwindes sehr schwül und kostete mich Untrainirten die Ueberwindung der 1550 Meter von Buchs nach dem etwa 2000 Meter hohen Sattel manchen Schweisstropfen!
Doch wurde ich durch die mit jedem Schritte prächtiger sich entfaltende Aussicht mehr als schadlos gehalten: die in unmittelbarer Nähe sich erhebende Säntis-Gruppe, das mit seinen zahlreichen Ortschaften wie aus der Vogelschau gesehene Rheinthal, weiter draussen der herrliche Bodensee, dann die Berge des Algäu bis zum schlanken Hochvogel, die mannigfaltigen Formen der mir so liebgewordenen Vorarlberger Gipfel, entzückten das Auge durch ihre immer wechselnde Scenerie. Als ich um 11h30m auf dem Sattel angelangt war, da tauchte plötzlich eine schwarze klotzige Masse, mit prallen Wänden und von zerrissenen Graten flankirt, vor mir auf. Finster starrte seine fast ungegliederte trapezförmige Gestalt in die Luft, und bedächtig holte ich mein Fernglas hervor, um von diesem so günstigen Standpunkte aus meines Gegners schwächste Seite zu finden.
Da ich nach sorgfältigem Studium der Berichte des Schweizer Alpen-Clubs und durch mündliches Nachforschen bei meinen Vorarlberger und Schweizer Bekannten nichts über einen Besteigungsversuch des Gamsberges erfahren hatte und die Alpenhütten verlassen waren, so war ich auf meine eigenen Augen angewiesen. Oefteres Betrachten des Berges von Norden und Süden, ferner ein Blick auf die von den Sectionen Alvier und St. Gallen herausgegebenen Panoramen vom Alvier und Säntis liessen die nach Süden und Norden abfallenden Wände des Berges als unbezwinglich erscheinen. Hatte ich den Berg doch oft bei Neuschnee gesehen und waren die Felspartien desselben kaum wie überzuckert erschienen. Von meinem Sattel nun sah ich, dass die oberen Partien des Berges aus sehr steilen, durch kleine Wandeln unterbrochenen Grashalden bestanden. Dann kam nach unten ein gewaltiger Plattenschuss, ganz schwarz, trotz 15 Centimeter Neuschnee, und dann dick mit Schnee bedeckte Geröllhalden, die, auf der Karte deutlich eingezeichnet, sich bis gegen den Rand des Plateaus, welches in stellenweise senkrechten Wänden zum Voralpsee abstürzt, hinziehen. Es musste also einer der beiden Flankengrate des mauergleich von Ost nach West ziehenden Berges versucht werden.
Zu diesem Behufe stieg ich zuerst über einen ganz abnorm steilen Grashang zur Alpe Oberlangen, die sich in der Nähe des Punktes 1785 befindet, hinab. Dann stieg ich in rein südlicher Richtung auf eine zwischen dem Glanenkopfe und dem Gamsberge selber gelegene, tief eingerissene Scharte, welche ich um 1h erreichte. Gewaltig war der Anblick der gegen Süden abstürzenden Steilwände: 550 – 600 Meter tiefer traf der Blick, ohne den Fuss der Wände zu sehen, auf Schuttkare und Matten! Ich entledigte mich sofort meines Rucksackes und legte den Eispickel bei Seite, denn die Beschaffenheit des Grates liess keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es harte Arbeit geben würde. Vorerst jedoch konnte ich es mir trotz der vorgerückten Stunde nicht versagen, einen Blick auf das nach Süden gelegene Gebiet zu werfen. Trat man nämlich einige Schritte nördlich von der Scharte nach abwärts, so rahmten die die Scharte bildenden steilen Felsgrate die im röthlichgelben Lichte erglänzende Bernina-Gruppe in ganz zauberhafter Weise ein. Ein entzückendes Bild und allein eine Tagreise im Neuschnee werth!
Messerscharf schwingt sich der Grat von der Scharte nach Westen auf, und in immer steigenden, 65 und 70° erreichenden Neigungswinkeln übertrifft er in seinen Zacken die bekannten Gendarmen im Weisshorngrate bedeutend an Schwierigkeit und kann beispielsweise die Kletterarbeit an der Trettachspitze als viel leichter bezeichnet werden.
Obgleich ich nur drei Monate früher die Felsen unter dem Glacier carré kennen gelernt, welche meine Auffassung von gewöhnlichen Kletterschwierigkeiten einigermassen verschoben hatten, gestehe ich gerne ein, dass Freund Schmitt’s Gegenwart mir hier sehr angenehm gewesen wäre; dennoch glaube ich nicht, dass er bei seiner grossen Vorsicht den wackeligen Gratthurm, der mich um 1h45m umkehren liess, zu erklettern versucht hätte. So war ich wieder einmal abgeschlagen und kam im Abstiege in ernstliche Bedrängniss, da eine im Anstiege mit Hilfe der Kniee und Ellenbogen erkletterte windschiefe, sehr glatte Platte mich allen Ernstes in die Tiefe befördern zu wollen schien; nur zollgrosse Vorwärtsbewegungen und diese in ganz liegender Stellung ausgeführt, brachten mich endlich über jene bedrohliche Stelle hinweg. Ich brauchte volle ¾ St., um etwa 50 Meter zu überwinden, und war herzlich froh, in der Scharte angelangt, etwas Limonade mit Rum nehmen zu können.
Da ich unter allen Umständen am nächsten Morgen in Bregenz sein musste und die Uhr bereits auf 2h30m nachmittags wies, so ging ich die Schneefelder zur Oberlangenalpe hinunter, umging den Punkt 1785 westlich und folgte einem über das i des Wortes «Schlössli» führenden, in wundervoller Anlage unter den Wänden der Bodmen sich zum Voralpsee absenkenden Wege. Bei der Kalkofenhütte östlich vom p des Wortes «Voralp» gelang es mir, einen eben in Thalfahrt begriffenen Sennen zu sprechen. Der Gamsberg sei unersteiglich, schon öfter von Jägern und Wilderern versucht worden (?) und nur der Gemsjäger N. (ich verschweige aus später anzuführenden Gründen seinen Namen) in Grabs wisse noch die am ehesten begehbaren Stellen. Ich lief nun im Dauerlauf nah Grabs und traf nach mancherlei Irrfahrten meinen Mann friedlich auf dem Felde arbeitend; früher ausschliesslich und seit seiner Verheiratung periodischer Gemsjäger ohne behördliche Autorisirung, lebt er mit allen zünftigen Jägern der Gegend auf gespanntestem Fusse. Einmal stieg er von Jägern verfolgt vom Sattel zwischen Gamsberg und Schönplank unter grosser Gefahr über eine entsetzlich steile Schneide gegen den ersteren und brachte einen Tag und eine Nacht etwa 60 – 70 Meter unter dem Gipfel in einem Felsenrisse zu. Endlich seien die Jäger des Wartens müde fortgegangen und sei er mit wahrer Todesverachtung hinabgeklettert. Der andere, von mir gewählte Grat sei der brüchigen Gratzacken wegen gänzlich ungangbar, doch glaube er, dass an der nördlichen Fläche des Berges ein Felsenriss bei günstigem, d. h. möglichst hoch hinaufreichendem Schnee vielleicht erklettert werden könne; habe man die unteren Wandpartien einmal überwunden, so stellen sich, dem Anblicke mit dem Fernrohr nach zu urtheilen, keine grossen Hindernisse mehr in den Weg.
Mit diesen wichtigen Nachrichten versehen fuhr ich nach Hause, und schon acht Tage später rückte ich meinem Berge wieder auf den Leib. Ich ging diesmal von der Voralpe direct nach Oberlangen und stieg südlich vom l des Wortes «Glanenkopf» über eine grosse Schutthalde gegen das Massiv des Berges. Aber das schon am Morgen sehr zweifelhafte Wetter ging in ein ganz unleidliches Schneetreiben über; eine halbe Stunde hielt ich es, von einem grösseren Blocke halbwegs geschützt, aus, als aber der Wind stärker und stärker wurde und ganze Ladungen Schnee auf einmal auf mich warf, musste ich für diesmal leider wieder verzichten und erreichte in Eilmärschen Buchs gegen 2h nachmittags.
Nach dem schier endlosen Winter traf mich der 10. Juli 1891 wieder in Buchs, welches ich gegen 5h nachmittags verliess. Um 7h10m langte ich bei herrlichstem Wetter auf der Voralpe an, nahm im See rasch ein Bad und erreichte um 8h30m bei einbrechender Nacht Oberlangen. Aber die Alpe war noch nicht bezogen. Ich lief nun, im Waldesdunkel unzählige Male stolpernd, nach der Voralpe hinunter und sagte dem Sennen in ganz unumwundenen Worten meine Meinung! Hatte man doch gehört, dass ich oben übernachten wolle und mich auf diesen nicht ganz unwesentlichen Umstand nicht aufmerksam gemacht, dass die Alpe erst in einer Woche bezogen werde!
Da es am 11. Juli bis gegen 5h30m regnete, so brach ich erst um 6h auf und erreichte um 7h Oberlangen; hier wartete ich einen neuerlichen Regenschauer ab und ging um 8h das im October benützte Schuttfeld, jetzt noch mit Schnee bedeckt, hinan. Ziemlich durchsichtiger Nebel bedeckte die oberen Partien des Berges, die unteren lagen dagegen klar vor mir, fast senkrecht starren die gleich Strebepfeilern die Wand verstärkenden Rippen aus den zu Schneefeldern gewordenen Geröllhalden auf, und trotz eifrigen Betrachtens will sich meinem Blicke keine Stelle zeigen, die Aussicht auf einen Erfolg bieten würde. Ich ging nun ziemlich nahe den Felsen, in einer Isohypse nach Westen spähend und forschend, wo man wohl den Einstieg bewerkstelligen könnte. Endlich, als ich schon an einen Versuch über die von dem Gemsjäger seinerzeit erstiegenen Kante dachte, bemerkte ich einen mit der Bergesbreitseite parallel laufenden Kamin, der auf einen der vorstehend beschriebenen Strebepfeiler zu führen schien; meine langzinkigen Steigeisen brachten mich ziemlich rasch über harten Schnee an seinen Fuss, schon des Abstieges halber schlug ich aber in dem die Rinne auskleidenden Eise eine Reihe solider Stufen. Eine Stunde nach meinem Aufbruche von der Alpe Oberlangen setzte ich meinen Fuss auf die unterste Partie der Rasenhänge, und nun ging es in einer Falllinie im Sturmschritt über diese hinauf nach dem Hauptgrate, welcher um 9h30m erreicht wurde. Diesem folgend stand ich, immer westlich über kleinere und grössere Buckel steigend, um 9h45m auf dem höchsten Punkte des Gamsberges. Ich legte Pickel und Rucksack ab und stieg sofort westlich bis an das Ende des fast horizontalen Stückes. Da brach der Grat in einem einzigen Absatze vielleicht 30 Meter ab, und auf der nun folgenden, wenige Meter im Gevierte messenden, ebenen Stelle dürfte seinerzeit das unfreiwillige Bivouak bezogen worden sein.
Um 11h stand ich wieder auf meinem Gipfel und hatte sich inzwischen das Wetter so weit gebessert, dass ich wenigstens die nächste Umgebung gut sah; es wird wenige so niedere Berge in den Alpen geben, die den Hochgebirgscharakter so deutlich zum Ausdruck bringen. In schwindelnder Tiefe sieht man nach Norden und Süden Wiesen und Geröllhalden, und seltsam contrastiren damit die schwellenden Rasenpolster, die den Gipfel bedecken; von dem zwei bis drei Schritte breiten Grate kann man den Fuss der Wände weder im Norden noch im Süden erblicken, und die beiden nach Ost und West ziehenden Grate dürfen, von dem fast wagrechten Mittelstücke abgesehen, unbedenklich als ungangbar bezeichnet werden.
Gerne würde ich etwas über die Aussicht berichten, doch sah ich nicht einmal die nächsten Gipfelbauten in wünschenswerter Klarheit. Da mir jedoch Herr Dr. Carl Diener die Aussicht von dem höchsten Gipfel der eigentlichen Kurfürsten als die lohnendste der Ostschweiz und eine der schönsten, die er jemals gesehen, bezeichnete, da der Gamsberg etwa 10 Kilometer östlicher liegt als obengenannter Gipfel und den letzteren noch um etwa 82 Meter an Höhe übertrifft: so wird die Aussicht als mindestens ebenbürtig angenommen werden können.
Um 11h30m verliess ich meinen erhabenen Standpunkt und kletterte auf dem im Anstiege benützten Wege wieder zu meinem Kamin hinab. Weit leichter, als ich gedacht hätte, überwand ich die von der steigenden Temperatur etwas weicher gewordene Eisrinne, und zwischen den einzelnen unter der Schneedecke herauslugenden Trümmern durchsteuernd, fuhr ich in gewaltiger Schnelligkeit zu den Grasplätzen der Oberlangenalp ab. Um auch die östliche Seite meines Gebietes kennen zu lernen, nahm ich den weiteren Weg über die Alpe Säsitz, stieg über den zwischen Margelkopf und Rothenstein gelegenen Sattel nach der oberen Malbunalpe und von dort nach der Alpe Farnboden, welche ich am 1h45m erreichte. Von den Sennen freundlich zum Bleiben eingeladen, kramte ich meine Neuigkeiten aus, einer der Leute, der in freien Stunden dem edlen Waidwerke obliegt, bestätigte mir die Ungangbarkeit der Süd- und Ostseite des Berges; unter wirklich anregenden Gesprächen mit dem selten gebildeten Sennen floss die Zeit rasch dahin und um 3h erst brach ich nach Buchs auf. Der Weg dahin gehört zum Reizendsten, was man sehen kann, und erinnert in seinen unteren Partien ungemein an die Wälder um Heidelberg oder die Gegenden an der oberen Saale: in herrlichen Buchenwäldern führen parkähnlich in Serpentinen angelegte Wege nach Buchs hinab, und ein lieblich zwischen moosbewachsenen Felsblöcken dahinrauschender Bach bietet in zahlreichen Tümpeln herrliche Gelegenheit zum Baden.
Freund Lendenfeld machte mir einst nach Besteigung der Griesmauer, als ich mit meinen Waschungen gar nicht fertig wurde, den Vorwurf, ich ginge anscheinend nur auf die Berge, um mich hernach mit verdoppeltem Genusse waschen zu können. Hier konnte ich dieser meiner Leidenschaft nach Wunsch fröhnen. Um 5h kam ich nach Buchs und ging noch nach Schaan, wo mich ein freundlicher Liechtensteiner Bauer zum Einsteigen in seinen Wagen aufforderte. Als ich, in Feldkirch angekommen, ihm ein Trinkgeld aufnöthigen wollte, lehnte er es energisch ab: «Dös war aber a Schand, von an Wurzler a Geld anz’nehmen, der verdient’s schon hart gnua!» Mein armer Eispickel! Wie oft musste er sich diese schnöde Verkennung schon gefallen lassen!
Zum Schlusse möchte ich denjenigen meiner verehrlichen Clubgenossen, die über die Ostschweiz einen Ueberblick gewinnen und sich zugleich für schwierigere Berge «einölen» wollen, den Gamsberg wärmstens anempfehlen.

SAC Jahrbuch 1892:
Sektion Weissenstein (SO): … Einzeltouren: Dr. Blodig aus Bregenz: …. , Gamsberg (erste Ersteigung), ….
***
Das vorzüglich redigierte Organ des Österreichischen Alpenclubs weist auch dieses Jahr wieder eine Reihe bedeutender Fahrtberichte auf. … Dr. Karl Blodig: Der Gamsberg; …

SAC Jahrbuch 1893:
Neue Bergfahrten in den Schweizeralpen. Säntis-Gruppe und Thur-Alpen.
… Gamsberg, 2385 m Duf. 11. Juli 1891. Dr. C. Blodig gelangte von der Alp Oberlangen über Geröllhalden an den Fuss der Nordwand, erstieg diese durch einen Kamin und über einen Rasenhang und kam so in 1 ½ Stunden auf dem Hauptgrate an, und immer westlich gehend in 15 Minuten auf den höchsten Punkt. Dann verfolgte er den Grat, bis er westlich zu einer Scharte abbricht, und kehrte auf den höchsten Punkt zurück. Rückweg der nämliche. Ö.A.Z. Nr. 344.
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Den nämlichen Gipfel erreichten die HH. J. B. Stoop und Lukas Pfiffner 15. Aug. 1891 von der Alp Sennis durch Spitzplank und Grossplank in die Furcla zwischen Sterenberg (Scheffberg) und Gamsberg; vom Scheff aus durch ein steiles Felsenband über die massive Wand und den verwitterten obern Teil auf den Grat östlich von Punkt 2385, von dort über die schmale Gratschneide bis zum grossen Absturz am Westende. Rückweg über die Gratschneide bis zur Mitte zwischen Punkt 2385 und 2340, dann auf der Nordseite in die Scharte „zwischen den Bergen” und Versuch südlich gegen die Alp Sennis. Dann wieder in die Scharte zurück und nördlich um den Tresterkopf zum Scheff und durch die Grossplank auf Sennis. Alpina II, pag. 65.
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Sektion St. Gallen. Von bemerkenswerten Hochtouren sind zur Kenntnis des Vorstandes gelangt: … Baptist Hämmerle: Gamsberg bei Buchs; …

SAC Jahrbuch 1894:
Thuralpen. Gamsberg von Süden. 25. Juni. J. B. Stoop, Dr. E. Haffter und Karl Wildhaber – Alp. II, Nr. 15.
Anmerkung: Über die Besteigungsgeschichte des Gamsberges siehe auch Alp. II, Nr. 16. Redaktion.
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Sektion St. Gallen. … wurden in den Monatsversammlungen folgende Vorträge gehalten: … C. Egloff und Dr. A. Janggen: Über diesjährige Besteigungen des Gamsberges (Alviergruppe); …

Alpina 1894 Seite 65-66: Johann Baptist Stoop – Der Gamsberg:
Im letzten Jahrbuch des S. A. C. 1892/93, Seite 489 finde ich eine erste Ersteigung des Gamsberg notiert.
Ich habe den Gamsberg am 15. August 1891 mit Lieutenant Lukas Pfiffner von Bärschis erstiegen. Aufstieg von der Alp Sennis durch Spitzplank und Grossplank in die Furkla zwischen Sterenberg (Scheffberg) und Gamsberg, vom Scheff aus durch ein steiles Felsenband über die massive Wand und den verwitterten obern Teil auf den Grat östlich von Punkt 2385 m (Dufouratlas und Simons Alvierpanorama), von dort über die schmale Gratschneide bis zur Westwand. Wir fanden, obwohl wir auf dem ganzen Grat aufmerksam darnach suchten, nicht die mindeste Spur von Menschen vor, weder Fussstapfen, noch geritzte oder aufeinander gelegte Steine, noch etwas von Holz, Glas, Metall, Papier oder dergl. Allerdings soll das kein Beweis sein, dass nicht schon Menschen vor uns oben gewesen sein könnten, aber ein positiver Beweis von frühern Besteigungen lag nicht vor. Wir bestätigten unsere Anwesenheit mit einem 2m hohen Steinmann, den wir aber zuweit auf die Westwand hinausstellten, weswegen er im Winter 1892/93 hinunterpurzelte; mit der schriftlichen Urkunde unserer Besteigung in einer Weinflasche; mit Zeitungen, auf die wir Steine legten; und an den zwei höchsten Stellen des Grates, darunter 2385 m Dufouratlas, mit aufgerichteten Steinplatten, von denen eine jetzt noch steht. Rückweg über die Gratscheide bis etwa Mitte 2385 m und 2340 m, dann auf der Nordseite derselben entlang in die Scharte «zwischen den Bergen» und südlich gegen die Alp Sennis; wir kamen aber nicht ganz hinab und mussten in die Scharte zurück, nördlich um den Tresterkopf zum Scheff und wieder durch die Grossplank nach Sennis.
Das zweite Mal bestieg ich den Gamsberg am Tag nach dem Truppenzusammenzug 1891 mit Lieutenant Theodor Dulla von Flums auf dem gleichen Weg. Wir fanden auch diesmal durchaus nichts von andern vor.
Der schönste Aufstieg wäre auf der Südseite vom Goldloch (Höhle mit Schwefelkies) aus, aber gefährlich wegen der von Gemstieren häufig in Bewegung gesetzten Steine, die durch die ausserordentliche Fallhöhe die Wirkung von Geschossen erhalten. Auch von der Grossplank östlich durch den faulen Gang, ein von den Gemsen benutztes Grasband, wäre der Aufstieg interessant; leider ist letzte Jahre ein grosses Rasenstück im faulen Gang weggebrochen, dass derselbe jetzt nicht mehr einladend ist. Vom Scheff aus würde man vielleicht besser thun, nach Ersteigung der massiven Felswand schräg der Westspitze 2369 m zuzustreben. Auch durch die Schrunden des Tresterkopfes, in denen im Hochsommer noch Schnee liegt, halte ich einen Aufstieg für möglich.
Die Karten von diesem Gebiet weisen, besonders was Namen und Höhenangaben betrifft, merkwürdige Widersprüche und Unrichtigkeiten auf. So ist z. B. auf dem neuesten topographischen Blatt Bärschis der dem Gamsberg sehr untergeordnete Sichelkamm 2271 m mit grossen Lettern als auf diesem Blatte bedeutendster und zwar analog den Kurfirsten, als Gruppenname mehrere Gipfel, auch den Gamsberg umfassend, hervorgehoben, und dazu noch am unrichtigen Ort. Statt Gamsberg steht ganz untergeordnet und verdeutscht «Gemsberg». Nur der relativ niederste Punkt 2368 m des Gamsberggrates ist mit der Höhenzahl versehen; der höchste Punkt (2385 m Dufouratlas und Alvierpanorama) hat dagegen keine Höhenzahl; auch der zweithöchste nicht. Nach meiner Ansicht ist der Gamsberg der höchste Gipfel des ganzen Gebirgszuges, also mindestens so hoch als der Faulfirst 2385 m.
Ich kann den Herren Clubisten den noch sehr selten erstiegenen Gamsberg aufs beste empfehlen. Schon seine imposante unnahbare Erscheinung reizt zur Besteigung. Er ist auch geologisch höchst interessant, und für Freunde der Fauna durch seinen Reichtum an Gamstieren; ich habe schon 60 auf einen Blick gesehen. Die Fernsicht ist sehr lohnend, bietet sogar mehr, als der bekannte und berühmte Alvier. –
Als das oben Dargestellte bereits geschrieben war, habe ich über die im XVIII. Jahrbuch S. A. C. Seite 489 erwähnte «erste Ersteigung des Gamsberg» in der Österreichischen Alpenzeitung XIV. Jahrgang, Seite 63-67 eine Beschreibung von Herrn Dr. Karl Blodig aus Bregenz gefunden. Ich habe dieselbe mit grossem Interesse wiederholt studiert, bin aber dabei auf einige Stellen gestossen, die ich mir absolut nicht erklären kann; u. a.
1. Herr Dr. Blodig hat den Aufstieg von der Ostseite aus der Scharte «zwischen den Bergen» für unmöglich gefunden, während derselbe thatsächlich der leichteste und sicherste ist, und sich einem geradezu aufdrängt. Derselbe geht nördlich der Gratschneide vom ausdauernden Schneefleck über nicht übermässig steilen, sehr soliden und mit guten Griffen versehenen schwarzen Felsen auf einen Rasenfleck und weiter mässig steil über verwitterten Felsen auf den Grat östlich von Punkt 2385 m (Dufourkarte und Alvierpanorama).
2. Herr Blodig findet dagegen den Aufstieg von der Nordseite merkwürdig leicht, kaum erwähnenswert, hat denselben sehr rasch, im obern Teil «über Rasenhänge im Sturmschritt zurückgelegt». Ich habe die Ersteigung von der Nordseite viel schwieriger gefunden. Die untere Hälfte über die massive Felswand hat wenigstens gute Griffe und ist also für Clubisten gefahrlos. Die obere Hälfte ist kleinbrockig und erdig verwitterter, beweglicher, sehr steiler unberaster Felsen ohne feste Halte für Hände und Füsse. Wir mussten sozusagen jeden Tritt sichern und kamen nur sehr langsam und mit grosser Vorsicht auf den Grat östlich von Punkt 2385 m. Den möchte ich sehen, der da hinauf im «Sturmschritt» geht.
3. Herr Dr. Blodig schreibt: «Ich stieg westlich bis an das Ende des fast horizontalen Stückes. Da brach der Grat in einem einzigen Absatze vielleicht 30 m ab, und auf der nun folgenden, wenige Meter ins Gevierte messenden ebenen Stelle dürfte seinerzeit das unfreiwillige Bivouac bezogen worden sein.» Das Rasenplätzchen am Westende des Grates ist mir wohlbekannt, habe ich doch schon einige schöne Stunden auf demselben verlebt. Wir haben da unsern Steinmann gebaut und unsere Besteigungsurkunden in Weinflaschen niedergelegt. Das Plätzchen ist auch auf «Blatt Bärschis» bemerkbar und mit 2368 m bezeichnet. Aber der Absatz auf den nächsten «Buckel» ist nicht 30 m, kaum 10 m; oder sollte es vielleicht 300 m heissen und die Grossplank gemeint sein? Auch nicht möglich. Welches der höchste Punkt des Gamsbergs ist, darüber kann man wirklich verschiedener Ansicht sein. Ich halte 2385 m (Dufouratlas und Alvierpanorama) dafür, Herr Dr. Blodig dagegen einen westlicheren. Die Differenz zwischen mehreren beträgt jedenfalls nur einige Meter.
4. Herr Dr. Blodig schreibt: «Die beiden nach Ost und West ziehenden Grate dürfen, von dem fast wagrechten Mittelstücke abgesehen, unbedenklich als ungangbar bezeichnet werden.» Ich sage: der Grat ist bis an sein Westende, wo er mit einer cirka 300 hohen senkrechten Wand zur Grossplank abstürzt, also aufhört, vollkommen gangbar, d. h. gefahrlos passierbar, wenn derselbe auch, mit Ausnahme des «Bivouacplätzchens» am Gratende, nirgends «2 bis 3 Schritte breit», sondern fast durchwegs schneidig ist. Auch der unbedeutende Absatz zum «Bivouacplätzchen» ist für Clubisten leicht zu überwinden oder zu umgehen.
5. Herr Dr. Blodig datiert seine «erste Ersteigung des Gamsberg» den 11. Juli 1891. Wir haben unsere Besteigung am 15. August 1891 ausgeführt, aber trotz sorgfältigem Absuchen des ganzen Grates nirgends eine Spur von ihm gefunden. Gemsentritte sieht man in den obern unberasten mörtelartig verwitterten Partien monatelang, Menschentritte wohl auch. Bei Clubisten, zumal wenn es sich wie bei Herrn Dr. Blodig um eine sehr bewusste «erste Ersteigung» handeln sollte, ist es allgemein üblich, absichtliche Merkmale, Adresskarten, Weinflaschen, aufeinander gelegte Steine zu hinterlassen. Herr Dr. Blodig berichtet doch so ausführlich, giebt die Zeiten auf die Minute genau an, sagt, wo er sich mit Rum und Limonade gestärkt, wo er sich wusch u.s.w. Wenn er doch die Freundlichkeit gehabt hätte, in seiner Beschreibung anzugeben, dass und ungefähr wo er für den «zweiten Ersteiger des Gamsbergs» seine Adresskarte hinterlassen habe.
Ich bin dem Herrn Dr. Blodig für jede Aufklärung über die Beschreibung seiner «ersten Ersteigung» des Gamsberg, sowie über letztern überhaupt sehr dankbar, insbesondere aber für eine Lösung der Missverständnisse zwischen ihm und mir. Vielleicht könnte das mit Hilfe einer Photographie vom Gamsberg geschehen, die Herr Heinrich Spörry, Sektion Uto S. A. C., vom Sichelkamm aus aufgenommen hat und die gern zur Verfügung steht; am besten wohl durch eine gemeinsame Besteigung, zu der ich Herrn Dr. Blodig höflich einlade. Bis dahin bin ich zu jeder mir möglichen Auskunft über den Gamsberg bereit. (J. B. Stoop, Sektion Piz Sol, S. A. C.)

Alpina 1894 Seite 84-85: Karl Blodig – Gamsberg [Antwort auf Stoop]:
Gamsberg. Unter diesem Titel bringt die Alpina Nr. 8 aus der Feder eines Herrn Stoop von der Sektion Pizol einen Artikel, in welchem meine Erstlingsersteigung vom 11. Juli 1891 als zweifelhaft hingestellt wird. Wenn der Artikel etwas sparsamer mit Gänsefüsschen geschmückt wäre, würde ich dem Wunsche des Herrn Einsenders nach einer Aufklärung gerne folgen; so aber muss ich leider darauf verzichten. Bregenz, 6. Mai 1894 – Dr. Blodig.
Anmerkung der Redaktion: Ohne die Verantwortlichkeit für den Wortlaut des Artikels in Nr. 8 übernehmen zu können, fühlen wir uns doch veranlasst, zu erklären, dass Herr Stoop, wie wir uns durch gegenseitige Korrespondenz überzeugen konnten, den Herrn Blodig nicht unwahrer Angaben beschuldigen wollte, sonst hätten wir den Artikel nicht aufgenommen. Wir vermuteten, dass die Differenz in den Anschauungen der beiden Bergsteiger darauf beruhe, dass nicht der gleiche Berg gemeint sei. Nach den Aufklärungen, die uns Herr Dr. Blodig gegeben, hat nun aber er sowohl wie Herr Stoop den gleichen Berg bestiegen und zwar Herr Blodig am 11. Juli 1891, Herr Stoop am 15. August 1891. Diese Thatsache dürfte wohl feststehen. Dass die Auffassungen über die Schwierigkeit einer Besteigung oft ganz verschieden sind, ist ja eine bekannte Thatsache und erklärt sich leicht aus dem Wechsel der mannigfaltigen Verhältnisse objektiver und subjektiver Art, die bei einer Besteigung in Betracht kommen.

Alpina 1894 Seite 127: Johann Baptist Stoop – Der Gamsberg:
Besteigung von der Südseite, 25. Juni 1894, mit den Herren Dr. Ernst Haffter von Weinfelden und Karl Wildhaber von Tscherlach.
Wir gingen am Morgen gegen 4 ½ Uhr bei bedecktem Himmel von der Alp Sennis durch Spitzplank, Grossplank und faulen Gang auf die südliche Abdachung des Gamsbergs und über diese ziemlich gerade auf den Grat bei Punkt 2368m.
Die Spitzplank ist eine vom Vieh noch erreichbare Grashalde der Alp Sennis. Ob der Spitzplank sind steilplattige Felsen mit Grasbändchen und Grasbüscheln, zu oberst ein senkrechtes Steinband, dessen Überwindung einige Übung voraussetzt. Oberhalb desselben kommt wieder eine sehr steile Grashalde mit Felsenabsätzen, die Grossplank, zu unterscheiden von der gleichnamigen Viehweide auf Sennis. Von der Grossplank kann man nun aufwärts durch die Furkel zwischen Scheffberg und Gamsberg auf die Hochterrasse Scheff, oder östlich durch den faulen Gang auf die Südabdachung des Gamsbergs.
Der faule Gang ist ein von den Gemsen als Verbindungsweg häufig benutztes Grasband an der Westfrontwand des Gamsbergs, etwas ansteigend, 0,1 – 0,3 m breit, weicherdig. Ein grosses Rasenstück ist letzte Jahre weggebrochen. Die Felswand bietet für die Hände genügende Halte. Der Südabhang des Gamsberges ist sehr steil, ziemlich gleichmässig, 45° und mehr, Horizontale 630 m, Vertikale 733 m, Kalkgestein, grossplattig, solid, mit Ausnahme der obersten 50 m, rauh, kantig, bietet für Hände und scharfgenagelte Schuhe oder blosse Füsse genügende Adhäsion und gute Griffe. Zwischen den Steinplatten sind überall schmale Grasbändchen und Grasbüschel. Die Gesteinsformation bedingt den Aufstieg in der Gefällslinie, indem ein Traversieren schwer oder unmöglich ist.
Für möglich halte ich auch einen Aufstieg durch das Kamin, an der Westfront nahe der Grathöhe, warne aber davor, weil man den dort am häufigsten vorkommenden Steinfällen nicht ausweichen kann und das Terrain zudem feucht und sehr locker ist.
Wir kamen ohne kritische Momente schon um 7 ½ Uhr auf den Grat etwas östlich von Punkt 2368 m, und gingen unverzüglich über die scharfe Gratschneide etwa 500 m östlich den Herren Neher, Dr. Janggen und Dr. Hansen entgegen, die mit Führer Tischhauser den besten Aufstieg von der Ostseite aus der Scharte «zwischen den Bergen» heraufkamen. Dann gingen wir mit diesen Herren wieder westlich auf den unzweifelhaft höchsten Punkt 2385 m, auf dem ich 1891 ein grosse Steinplatte aufstellte und Herr J. B. Hämmerli 1893 einen kleinen Steinhaufen zusammenlegte. In einer Flasche sind die Karten der seitherigen Ersteiger notiert.
Wir drei gingen wieder über die Gratschneide zurück zu dem etwa 275 m westlicher gelegenen Ende des Grates, und bauten auf diesem weitaus schönsten Punkte des Gamsbergs einen riesigen Steinmann.
Wir brachen an den Seiten des Grates Steine los und verwendeten Stücke von 100 kg; eine Cyklopenarbeit. Der Steinmann ist über 2 m hoch. Herr Spoerry entdeckte ihn in der gleichen Stunde von den Grauen Hörnern aus. Von Flums sieht man ihn mit blossem Auge ganz gut.
Der auf dieser Stelle am 15. August 1891 von uns errichtete Steinmann ist nicht selbst hinuntergefallen, sondern von Franz Linder, Töbeli W., Wallenstadt, mit Gewalt hinuntergeworfen worden. Die Flaschen waren zerschmettert und die Papiere nicht mehr vorhanden.
Nach längerm, der Fernsicht und Ruhe gewidmeten Aufenthalt stiegen wir direkt nördlich in den ganz verwitterten Nordabhang, und dann schräg zuerst in östlicher, dann westlicher Richtung zuerst zum Scheff, wo wir mit den andern, die zu ihrem Gepäck östlich in die Scharte zwischen den Bergen abgestiegen waren und jetzt nördlich um den Fuss des Gamsberges heraufkamen, zusammentrafen.
Für solche, die den Gamsberg von der Hochterrasse Scheff aus besteigen, will ich hier noch bemerken, dass sie besser nicht den ersten möglichen Aufstieg, den ich früher benutzte, sondern den nächsten leichtern östlich davon wählen.
Wir gingen dann zusammen über das Kalttäli (Scheffloch) in den Sichelkamm hinüber und trennten uns dort wieder.
Die andern stiegen durch den Hundsritt auf Culms und von dort auf Lüsis hinab. Wir drei besuchten noch die westlichen Punkte des Sichelkamm, Hundsegg 2130 m u.a., und gingen dann durch ein anderes Couloir auf Culms, Verachta, Vergoda, Tscherlach. In Wallenstadt vereinigten wir uns wieder und mit dem Zuge 5 Uhr 34 Minuten fuhren alle heimwärts. J. B. Stoop, Sektion Piz Sol.

Der Leser erwarte hier nicht etwa die Schilderung einer Gratwanderung vom Sichelkamm bis zum Faulfirst; die wird wohl jeder unterbleiben lassen. Es handelt sich um einige Notizen über Namen und Höhenangaben in jenem von Touristen selten besuchten Gebiete. Wenn ich dabei zu einigen Bemerkungen der Herren Blodig und Stoop Stellung nehme, so geschieht es keineswegs, um mich in die zwischen den genannten Herren bestehende Meinungsdifferenz zu mischen, sondern allein im Interesse der Sache. Dass ich überhaupt das Wort ergreife, mag seine Entschuldigung darin finden, dass mir jene Gegend während meines 4 ½ jährigen Aufenthaltes in dem, am Fuss des Gebirges gelegenen Grabs lieb und vertraut geworden ist, wenn auch nicht durch kühne Klettertouren, so doch durch zahlreiche Ausflüge. …
Scharf auseinander zu halten sind Sichelkamm und Sichelberg. Der Sichelberg, auch etwa Sichli genannt, liegt viel weiter östlich und ist vom Tresterkopf-Gemsberg durch den tiefen Einschnitt „Zwischen den Bergen“ getrennt. Der letztere, sehr gute Name, den ich auch auf die Scharte 2161 des Hauptgrates angewendet wissen möchte, zu welcher das Trümmerthälchen hinaufführt, fehlt leider auf dem Blatt Bärschis. Es ist jene Scharte, von welcher aus Dr. Blodig im Jahr 1890 seinen ersten erfolglosen Versucht machte. …
(Quelle: Andreas Ludwig: Vom Sichelkamm zum Faulfirst. In: Alpina 1894, S. 124f.)

Herr Stoop hält … den Gemsberg für den Kulminationspunkt der ganzen Kette. Ich wendete dieser Frage meine Aufmerksamkeit zu, als ich am 3. Juni a. c. [1894] mit Herrn Carl Egloff (Sektion St. Gallen) diesen Gipfel bestieg und bin noch wie früher der Ansicht, dass der Faulfirst etwas höher sei. Der Unterschied ist allerdings gering, und unter allen Umständen ist der Gemsberg weit imposanter. Schon Escher und Mösch reden vom „gewaltigen“ Gamsberg. Er fällt selbst dem aus dem Prätigau kommenden Reisenden kurz nach Verlassen der Station Malans durch seine mächtige Südsteilwand auf, die sich zwischen Gauschla und Gonzen im Hintergrunde so stattlich breit macht.
Über unsere Besteigung vom 3. Juni nur wenige Worte. Wir nahmen den Gipfelbau aus dem Thälchen „Zwischen den Bergen“ in Angriff. Der lange Kamm des Gemsberges teilt sich im Osten in zwei Gräte. Der eine zieht nach dem Scharteneinschnitt „Zwischen den Bergen“; der andere springt in fast nördlicher Richtung vor. Wir gewannen den letztern – er möge Grat des Tresterkopfes heissen – hierauf die Vereinigungsstelle beider, von welcher ein wüstes, nacktes Felstobel nach Nordosten hinabzieht. Was nun folgte, war eine Gratwanderung idealster Art über den abwechselnd auf- und absteigenden, immerhin nicht tief gescharteten Hauptkamm bis zur höchsten Spitze. Unser Weg dürfte ungefähr dem ersten Abstieg des Herrn Stoop entsprechen; doch scheinen wir im untersten Teile nicht gerade die günstigste Stelle erwischt zu haben.
Was doch ein kleiner Umstand für Wirkungen haben kann! Hätte Dr. Blodig, statt direkt von der Scharte aus über den Grat vorzugehen, nur in 100 oder 150 m Entfernung weiter unten angesetzt, so hätte er schon bei seinem ersten Versuche im Jahr 1890 unfehlbar das Ziel erreicht.
Ein Steinmännchen mit Flasche belehrte uns, dass der Berg anno 1893 zweimal erstiegen wurde, am 11. Juni von den Herrn J. B. Hämmerle, Marchesani, Zumtobel und Welpe, am 20. August von zwei Herren Litscher, Zumtobel und Führer Tischhauser. Dort ist unbedingt der Kulminationspunkt; die genannten Besteiger, sowie auch Herr Stoop hielten jedenfalls auch diese Stelle dafür. In Frage käme nur noch ein weiter westlich gelegener Punkt. Aber über diesen hinweg sahen wir im Gebirge südlich des Walensees noch in die oberste Waldregion; er muss somit niedriger sein.
Zur Orientierung möge noch folgende, freilich etwas vage Bemerkung dienen: Wenn man, auf dem höchsten Punkte stehend, nach Norden gekehrt, hinabschaut nach den „Weissen Frauen“, einem pittoresken, ungefähr südnördlich verlaufenden, vom Gemsberge sich abzweigenden Zuge, so hat man die Abzweigungslinie oder vielmehr deren gedachte Verlängerung nur wenig links von sich.
An Pflanzen trafen wir auf dem Gipfelgrat Anemone vernalis, Primula auricula, Gentiana verna, Draba aizoides, Androsace helvetica und leider, für uns auch mehrere Exemplare von Ignorantia pyramidalis, ferner, aber noch nicht blühend, mehrere Saxifragen und Aster alpinus. An Wild sahen wir eine Gemse und einige Schneehühner.
Es hat Herr Stoop sehr richtig darauf hingewiesen, dass die Besteigung des stolzen Kammes in zwei, durch die verschiedene Gesteinsbeschaffenheit bedingte Partien zerfällt. Der Gemsberg wird durch steil gestellte Neocomschichten gebildet. Am Fusse und im untern Teil herrschen die dunkeln kieseligen Kalke der untern Neocoms, und es vermag das feste Gestein dort eine bedrohlich aussehende Steilwand zu bilden. Der obere Teil hingegen besteht aus den auf frischem Bruche dunkeln, aussen gelbgrau oder bräunlich anwitternden Schiefern und Mergeln des obern Neocoms. Dieses Gestein verwittert leicht und ist unzuverlässig, bewirkt aber zugleich, dass die Böschung geringer wird.
Und die Schwierigkeiten? Ich bin kein so guter Kletterer, um behaupten zu können, die unterste steile Partie sei mir gerade leicht vorgekommen, während Herr Egloff sich selbstverständlich nichts daraus machte. Was aber weiter folgte, ist mir wirklich auch nicht schwierig erschienen und namentlich die lange Gratwanderung habe ich mit dem reinsten Genuss gemacht. Technische Schwierigkeiten sind absolut nicht vorhanden; nur Schwindelfreiheit ist erforderlich. Wer letztere und einige Übung besitzt, der mache sich fröhlich an den Gemsberg, versäume dabei unter keinen Umständen die Gratwanderung, die von unbeschreiblichem Reiz ist und geradezu grossartig genannt zu werden verdient, nehme, wenn Zeit und Wetter es ihm eher gestatten als uns, das Stück bis zum Westabsturz auch noch mit, und wähle eventuell für Auf- und Abstieg verschiedene Routen.
In Grabs galt der Gemsberg weder als unerstiegen, noch als unersteigbar; hier muss ich Herrn Dr. Blodig direkt widersprechen. Eher mochte dies auf der Südseite der Fall sein. In Grabs hiess es im Gegenteil immer, der Berg sei von Jägern und auch von Hirten schon bezwungen worden, und wurden die betreffenden Besteiger mit Namen genannt. Der beste dortige Kenner des Berges ist jedenfalls Bannwart Andreas Vetsch am Grabserberg, der ihn öfters erstiegen hat. Es ist vielleicht nicht ohne Interesse, das Urteil eines Einheimischen zu vernehmen. Dasselbe beweist zugleich, dass der Gemsberg, trotz seines drohenden finstern Aussehens, für denjenigen, der ihn bestiegen hat, viel von seinem Schrecken verliert. Aus einem ausführlichen Briefe von Vetsch führe ich folgende Sätze an:
„Den Gemsberg habe ich von drei Seiten, in den Jahren 1864-74 bestiegen. Ob ich ihn schon vor 1864 auch bestiegen habe, kann ich nicht behaupten, glaube aber sicher ja, denn ich bin sehr viel in den Bergen herumgeklettert, ohne mir die Zeit genau zu merken. Den Berg habe ich vom Scheff auf und ab begangen, und vom Tresterkopf, wo es fast jedermann möglich ist, der einigermassen Bergsteiger ist. Zwischen den Bergen (d.h. aus dem Thälchen dieses Namens) kann jedermann hinaufkommen, der die Kraft in den Beinen hat, wenigstens bis zu unterst auf den Grat. Was über den Grat hinzugehen betrifft, so ist das vielleicht nicht jedermanns Werk, doch nicht gefährlich für den, der schwindelfrei ist. Eigentlich bin ich schon im ganzen Berg kreuz und quer gegangen. Schwieriger ist es, von der Südseite ihn zu besteigen; doch bin ich einige Mal auf der Südseite einige 100 m abgestiegen. Was die Form des Grates anbetrifft, so ist sie ziemlich scharf; an einigen Orten kann man rittlings daraufsitzen, wie auf ein Pferd. Zuhinterst auf dem Berg gegen Westen ist ein ovaler Platz, wie ein kleiner Hausplatz. Einmal, nebenbei bemerkt, habe ich mich auf der Südseite doch verstiegen; ich war zu waghalsig, bekam aber meinen Lohn etc.“
Die letzte Bemerkung bezieht sich auf eine recht peinliche Situation, in welche der kühne Mann geriet, als er vom Gipfelgrat des Gemsberges ein Stück weit auf der Südseite abstieg, um dann hinüber zu traversiren nach der Scharte „Zwischen den Bergen“, ein Unternehmen, welches ihm nicht gelang und bei welchem er gezwungen war, mit grösster Anstrengung nochmals auf den Hauptkamm zurückzukehren.
Ausserdem haben den Berg bestiegen: Johann Hilty, Staudnerberg (in Gesellschaft von Vetsch), Andreas Eggenberger, Bunzenhalden und der verstorbene Andreas Näf. Andere mir zu Gebote stehende Namen zu nennen, ist überflüssig.
Dass Dr. Blodig von seinen Vorgängern keine Spuren auffand, erscheint mir nicht befremdender, als dass Herr Stoop von Dr. Blodigs Besteigung keine Merkmale entdeckte. Auf diesen Umstand lege ich überhaupt kein Gewicht. Solche Spuren sind sehr vergänglich. Auch auf dem kleinen Faulfirst fand ich am 18. August 1889 keine Zeichen von frühern Besuchern, wenn ich mich recht erinnere, und dennoch zweifle ich keinen Augenblick daran, dass dieser Gipfel (2370 m Blatt Bärschis, 2397 m Eschmann) schon früher von Einheimischen öfters betreten worden ist. Ja, ich hege den nicht unbegründeten Verdacht, dass schon Arnold Escher von der Linth auf den meisten der in diesem Artikel genannten Gipfel geweilt hat. Escher hatte freilich anderes zu thun, als seine Anwesenheit auf die gewöhnliche Art zu dokumentiren.
Wer zuerst den Gemsberg betreten hat, wird nicht mehr mit Gewissheit zu ermitteln sein, indem auch Vetsch diese Ehre nicht beansprucht, sondern von noch frühern Besteigungen sichere Kenntnis hat. Diese Frage ist in meinen Augen auch nicht die Hauptsache. Den Herren Blodig und Stoop bleibt ganz unbestritten das Verdienst, zuerst in der alpinen Litteratur den Berg bekannt gemacht und auf ihn hingewiesen zu haben als auf ein Ziel, das wirklich einen grössern Bekanntenkreis verdient. Zugleich sind dadurch schon verschiedene Anstiegsrouten bekannt geworden, und auf die jedenfalls interessanteste, diejenige von Süden, hat Herr Stoop ebenfalls aufmerksam gemacht. Dieselbe dürfte freilich nicht leicht sein, nach den Erfahrungen zu schliessen, die Vetsch auf jener Seite machte. Dieser Aufstieg ist inzwischen von den Herren Stoop, Dr. Haffter und K. Wildhaber ausgeführt worden. Am gleichen Tage (24. Juni) wurde der Berg noch von einer andern Partie erstiegen, und hatte die Ehre, ein Triumvirat von Doktoren auf sich thronen zu sehen. Die zweite Partie, bestehend aus den Herren Dr. Janggen, Dr. Hansen, O. Neher und Führer Tischhauser hat ungefähr unsern Weg gemacht, scheint aber für den untern Teil des eigentlichen Aufstieges eine vorteilhaftere Variante gewählt zu haben.
Liebhaber des Klettersports dürften überhaupt hie und da in jenem Gebirgszug noch eine Tour ausfindig machen, die des nötigen Reizes für sie nicht entbehrt. Es ist interessant und erwähnenswert, dass der Faulfirst direkt von Süden erstiegen werden kann. Herr Stoop hat einmal, von vorgerückter Zeit dazu gedrängt, diesen Weg als Abstieg ausgeführt, wobei gewiss das Behagen erst in zweiter Linie stand.
Die Churfirsten-Alvierkette kann sich im allgemeinen über Mangel an Besuchern nicht beklagen. Gonzen, Alvier, Rosenboden-Kaiserruck, Leistkamm und andere Gipfel werden häufig, zum Teil sogar sehr häufig bestiegen. Am wenigsten bekannt ist eben das Gebiet vom Sichelkamm bis zum Faulfirst. Es ist auch für die Zukunft nicht zu erwarten, oder, wenn man will, nicht zu befürchten, dass ganze Scharen von Touristen dorthin strömen. Wenn aber etwa einmal ein Clubist, der die weniger breitgetretenen Pfade liebt, eindringt in die abgeschiedene Mulde des Voralpsees, aufsteigt in die Thälchen, die mit ihren Quellen das Becken speisen und seinen Fuss setzt auf die im Hintergrunde winkenden Höhen, so wird er hochbefriedigt heimkehren mit dem Geständnis, eine der sehenswertesten Gebirgsgegenden der Ostschweiz kennen gelernt zu haben.
(Quelle: Andreas Ludwig: Vom Sichelkamm zum Faulfirst. In: Alpina 1894, S. 129-131)

Alpina 1895:
Besteigung des Gamsberges von der Südostseite. Mit Herrn Dr. Ernst Haffter, Sektion Rätia S. A. C.
Wir stiegen am 14. Oktober 1894, morgens nach 6 Uhr, von Flums auf die Alp Malun gegen den Notz, einen aussichtigen Hügel nordwestlich von Malun an der Grenze gegen Sennis. Hier präsentiert sich der «gewaltige Gamsberg» in seiner vollen Wucht und Pracht: mächtige Felswände von tiefen Schrunden zerrissen, unten spärlich mit Legföhren, oben mit Grasbändern und Grasbüscheln bewachsen, darüber der kühngeschwungene Grat mit seinem jähen Absturz gegen Westen. Wir versuchten hier den Aufstieg zu rekognoscieren, bekamen aber das Gefühl, dass es auf diese Entfernung nicht möglich sei, sondern meistenorts auf kurze Distanzen geschehen müsse. Vorgenommen hatten wir uns nur, das Goldloch, die Felsenhöhle in der Bergwand, zu passieren. Der Aufstieg zum Goldloch ist ein viele Meter breites, aber ungemein steiles und glattes Felsband. Wir überwanden dieses, indem wir der obern Wand entlang aufstiegen und an derselben seitlich Griffe suchten.
Das Goldloch ist eine geräumige Höhle, wie solche in Kalkgebirgen hie und da vorkommen. Von dieser Vorhöhle führen zwei dunkle Öffnungen in den Berg hinein und lassen ein Höhlensystem vermuten. Denn in der Nähe ist noch ein anderes Loch. Der Name Goldloch kommt von einer Sage, nach der ein «Venediger» jährlich kam und aus dem Berginnern Gold hervorholte. Andere behaupten, es komme hier wirklich ein goldglänzendes Mineral, der Pyrit, Eisenkies oder Schwefelkies vor. Wir haben es nicht gefunden. Dagegen ist namentlich beim untern kleinern Loch das Gestein lebhaft rotgelb gefärbt, was mit einer auffallend blauen Flechte, die die Felsen überzieht, einen wunderbaren Kontrast bildet. Ob die komplementäre Farbe der Flechten zum Gestein eine physikalische Begründung hat oder nur zufällig ist? – Die rotgelbe Farbe des Gesteins rührt offenbar von Eisengehalt her, den das ganze Gebirge besitzt. Auch auffallend schöne Quarzadern kommen hier vor.
Bei der Höhle lag dürres Legföhrenholz, das uns Stoff gab zu einem prächtigen Feuer, wohl das erste, das im Goldloch gebrannt. Natürlich unterliessen wir nicht, unsere Anwesenheit auch sonst ausgiebig zu beurkunden durch Karten und Inschriften mit Blau- und Rotstift. Als Hauptzierde des Goldlochs befestigten wir die Porträts der jetzigen sieben Bundesräte (letzte Beilage des «Boten am Wallensee»).
Dann stiegen wir die Schrunde westlich vom Goldloch hinein und schräg aufwärts gegen ein Felsenfenster und durch dasselbe hindurch. In diesem Felsendurchgang deponierten wir ob der Lichtöffnung eine Karte. Über dem Fenster machten wir Halt. Das schwerste Stück, vom Goldloch zum Felsenfenster war überwunden. Wir übersahen den obern Drittel als relativ leicht, steile Kalkplatten mit Grasbändern und Grasbüscheln. Wir stiegen von da zu Punkt 2385 auf. Ein eisiger Wind fegte über den scharfen Grat, den wir zeitweise verlassen mussten. Wir schritten unverzüglich den Grat bis zum Westende 2368 ab und suchten vor dem erstarrenden Wind Deckung hinter unserm grossen Steinmann vom 24. Juni 1894. Aussicht in die Nähe tadellos, in die Bündnerberge wundervoll, gegen Westen und Norden vernebelt. Wir hatten anfänglich den Abstieg auf der Nordseite zum Scheff beschlossen. Aber unsere erstarrten Hände liessen uns die windgeschützte besonnte Südseite der tiefverschneiten Nordseite vorziehen. Wir stiegen also von Punkt 2368 durch den westlichen Teil des Südabhanges zum faulen Gang und in die Spitzplank hinab. Wir hatten höchste Zeit. Als wir die letzten Felsen ob uns hatten, war auch die letzte Spur des Tages verschwunden. Der Abstieg durch die Alp Sennis ins Seezthal machte uns nicht bange, und wir kamen um 9 Uhr wohlbehalten in Flums an. In der Nacht erging ein grimmiger Schneesturm über die Berge bis ins Thal herunter. –
An Tieren hatten wir am Gamsberg gesehen ein Trupp von sechs Gemsen, eine einzelne Gemse und ein Gemskitz, das uns auf eine Entfernung von wenigen Metern mehrere Minuten lang neugierig anäugte. Schlussresultat: die Besteigung des Gamsberges über das Goldloch und Felsenfenster ist für selbständige, vorsichtige, ausdauernde Clubisten eine ideale Kletterpartie, ein Hochgenuss seltener Art. (J. B. Stoop, Mitglied des S. A. C. Sektion Piz Sol)

Alpina 1895:
Aus den St. Galler Freibergen T. K. IX. T. A. 256. 18. August 1895
Die Sizizer Rosswies, nach Angabe des Blatt Bärschis 2337 m, gerade gleich hoch wie der Alvier, ist die höchste Erhebung zwischen Kleinem Faulfirst und Gamsberg und auch eine schöne Stelle. Von der Alp Sisiz aus geht man bis zur Gipfelhöhe auf sanft ansteigendem Rasen. Von der Südseite ist der Gipfel von Touristen noch nie bestiegen worden. Ich hatte diesen Aufstieg schon längere Zeit im Plan. Meine Begleiter waren Ernst Heer und Albert Vontobel mit seinen Söhnen Albert, 16 Jahre und Gottfried, 14 Jahre alt. Auf der Tscherlacher Alp Sennis trafen wir in unserm alten Quartier zwei Clubisten ersten Ranges von der Sektion Uto, die den Gamsberg vorhatten. Wir gingen bei Tagesanbruch zum Notz. Himmel wolkenlos, Temperatur unter 0°, Reif. Vom Notz gerade hinauf, unten Felsenruns; dann Rippe mit Legföhren, dann steile Grashalde, Felsenabsatz, lockerer Rasen und oben sind wir, froh des warmen Sonnenscheins. Aussicht vollkommen. Da drüben in den Wänden des gewaltigen Gamsberg entfalten zwei Männer mit Seil und Pickeln ihre Kletterkünste. Welch schneidige, alpinisch gerechte Evolutionen! Ein prächtiges Schauspiel. Wir wissen ja, die sind ihrer Sache sicher; der eine ist uns als Koryphäos der hohen Schule des Klettersports bekannt. Aber dort hört alle Kunst auf. Sie treten den Rückzug an. Wir beobachten sie mit aller Spannung wohl eine Stunde lang und zollen der Gewandtheit und Besonnenheit des einen unsere aufrichtige Anerkennung. Der andere schien barfuss zu sein. Endlich sind sie wieder auf dem Schnee unten.
Lange blieben wir da, wir geizen mit der Zeit nie, und oben ist’s so schön! Dann nahmen wir sämtliche Zacken zwischen 2337 und 2305 m, umgingen die Wand des Kleinen Faulfirst und bestiegen ihn. Auf dem Grossen Faulfirst war auch eine Gesellschaft, aber nicht ganz oben. – Sie traten den Abstieg an. Ein Mann blieb noch zurück. «Hallo, Ma! Ganz ufe, nit nu halb!» Das wirkte. Er ritt über das bekannte Grätchen hinüber und stieg auf den Kulminationspunkt. «Bravo!» Vom Kleinen Faulfirst beobachteten wir unter uns sieben Gemsen, darunter zwei Kitzen. In den letzten Jahren haben die Gemsen in den St. Galler Freibergen rapid abgenommen. Warum, das sagen die blanken Patronenhülsen, die wir auch heute an verschiedenen passenden Stellen fanden.
Nun zum Grossen Faulfirst hinüber. In der Lücke demonstrierte ich den zwei Herren den Abstieg auf Malun vor, wegen der Verantwortlichkeit für die Knaben. Ah! dort unten beim Schnee, 500 m tiefer, steigen die Herren der Sektion Uto unser Tobel an. Die kommen zu uns herauf. Wir freuen uns, jauchzen ihnen zu, steigen auf den Grossen Faulfirst hinauf, aber ganz, und beschlossen, unsere Herren Clubgenossen da mit clubistischem Gruss und Handschlag zu empfangen. Wir geniessen in aller Behaglichkeit Aussicht und Himbeersyrup, Fleisch, Brot und Wein, Äpfel und Birnen, Ruhe und Schlaf, pflücken Edelweiss und Bergastern, bauen Steinmannli und Luftschlösser, fangen Schmetterlinge und kritisieren «Blatt Bärschis», lesen die Namen der Faulfirstbesteiger in der Flasche und lassen Freudenlaute hören, die mit Siouxgesang und Primadonnakoloraturen die grösste Ähnlichkeit haben …
Aber wo bleiben denn die Herren von der Sektion Uto? – Siehe da, sie sind den kleinen Faulfirst angestiegen. Ich habe den vor einem Jahr auch von Süden genommen, aber in der Morgenkühle und mit frischen Kräften, und ich habe darüber in die «Alpina» geschrieben: «Nicht jedem zu empfehlen». Jetzt in glühender Mittagshitze, nach solchen Kraftleistungen am Gamsberg; die Herren haben Beharrlichkeit. Nach längerer Zeit sehe ich sie im Begriff, neuen Unmöglichkeiten und Enttäuschungen zuzustreben. Ich muss ihnen zurufen und den allein möglichen Aufstieg bezeichnen. Wir verstehen uns. Aber die Herren haben für heute genug. Sie treten wieder den Rückzug an, und wir dann auch. Zuerst wird der eine Knabe in Sicherheit gebracht, dann der andere. Langsam und vorsichtig wie immer steigen wir zum Schnee hinab und über den grossen Schuttkegel auf die Berschner Alp Malun. Wir sehnen uns nach dem heute ganz entbehrten Wasser, verlieren uns mit Beerensuchen und finden uns erst nach einigen Stunden auf Cavortsch wieder. Noch vor Nacht sind wir zu Hause.
Ergebnisse dieser Tour: Ich empfehle wieder allen echten Clubisten die Gipfel zwischen Sichelkamm und Alvier, namentlich Grossen und Kleinen Faulfirst, Sisizer Rosswies und Gamsberg, und zwar die Besteigung von der Südseite. Die kühne Spitze, 2305 m, ist noch ungetauft und unverheiratet. Ihre Besteigung von der Südseite ist möglich und auch eines Clubisten ersten Ranges würdig, aber nicht im «Sturmschritt». Besonders empfehle ich die Aufstiege von der Südseite zur Sisizier Rosswies und zum Grossen Faulfirst. Wer diese machen will, werde sich über den Aufstieg vorerst aus einiger Entfernung klar, von den Alpen, am besten vom Älplikopf 1645 m aus, oder durch gute Photographien. Die Karten über diese Partien, auch «Blatt Bärschis» sind schlecht, fehlerhaft, für unsere Zwecke unnütz.
Wer nur im Selbstgefühl als Clubist ersten Ranges diese Berge von Süden ansteigt, kann sich nachher über bittere Enttäuschung beklagen müssen. Die Anwendung des Seils bei diesen Kletterpartien missbillige ich. Wer nicht selbständig ist, bleibe unten; sonst holt der Teufel einmal wegen einem eine ganze Gesellschaft. Auch Pickel und Stock sind hier, wo man sich so unmittelbar und mit ganzer Hingebung der Mutter Erde, den Felsen anschmiegen muss, wo alle Extremitäten und Sinne voll beansprucht werden, unnötige und oft sehr lästige Requisiten, die man besser unten lässt. Mit Emblemen, Dekorationen und Ceremonien ist hier nichts anzufangen.
Ihr Freunde des hochedlen Klettersports, in den St. Galler Freibergen giebt es Partien, die den Dolomiten mindestens ebenbürtig sind. Fraget die Herren von der Sektion Uto!
Noch eine nebensächliche Bemerkung. Es ist nicht clubistisch, auf selten bestiegenen Gipfeln die Aufschriebe von Vorgängern wegzuwerfen, damit der werte eigene Name, das liebe Ich allein, soli mihi gloria in excelsis, dort gelesen und vielleicht als «Erstersteiger» bewundert werde, wie ich bei dieser Fahrt auf mehr als einem Punkt konstatiert habe.
(J. B. S., Sektion Piz Sol)

SAC Jahrbuch 1895:
Sektion Piz Sol. Einzeltouren: … J. B. Stoop: … Gamsberg 1. Aufstieg Südwestschlucht, 2. Aufstieg Goldloch-Felsenfenster, Abstieg Scheff – Kaltthäli – Schönplank – Gulms, Schefffurkel – Spitzplank – Sennis, Rosswies 1. Aufstieg von der Südseite, …

SAC Jahrbuch 1897:
Allerlei Berichtigungen.
Dr. Ernst Haffter (Sektion Rhätia) schreibt:
„Im folgenden erlaube ich mir, Ihnen einige Korrekturen und Ergänzungen zur Abteilung «Neue Bergfahrten 1894» im Jahrbuch S.A.C. XXX, pag. 393, vorzuschlagen, die, wie ich hoffe, Ihren Beifall finden werden. Warum ich erst jetzt damit komme, sagt Ihnen der Schlusspassus meines Briefes; darum gehe ich hier gleich in medias res hinein.
Die von den HH. Stoop, Wildhaber und mir unternommene erste Gamsbergfahrt von Süden, die uns auf dem Gipfel des Berges zusammenführte mit den HH. Dr. Janggen, Neher etc., fand Sonntag den 24. Juni 1891 (laut meinen bezüglichen zuverlässigen Notizen) statt, nicht am 25., wie Herr Stoop in der Beschreibung dieser Tour in der Alpina (Jahrgang 1894, Nr. 15, pag. 127) irrtümlicherweise berichtete, wogegen er im gleichen Blatt (Jahrgang 1895, Nr. 2, pag. 11) dann später das obige richtige Datum giebt. Diese unrichtige Tagesangabe ist aus der Alpina ins Jahrbuch S.A.C. (a. a. O.) übergegangen, weshalb ich Sie, behufs einer allfälligen Korrektur, darauf aufmerksam mache.
Der von uns eingeschlagene Weg war (vgl. Blatt Bärschis) folgender: Erst Anstieg über Grossplangg in nordwestlicher Richtung zum Wort «Steren» (von Sterenberg), dann in südöstlicher Richtung Vormarsch auf den unter den südwestlich aufragenden Steilwänden sich hinziehenden Rasen- und Erdbändern (hier der «Faule Gang»), bis wir dort, wo die erwähnten jähen Bergwände gewaltig zusammenschrumpfen, auf die Südseite des Berges übergingen und von dieser her den Gipfel nahmen.
Aus diesen Angaben ersehen Sie, dass in der obenerwähnten Notiz im Jahrbuch S.A.C. die Anstiegsrichtung besser eine südwestliche genannt würde, als eine südliche, und ich möchte Ihnen deshalb empfehlen, diese Korrektur ebenfalls vorzunehmen, wenn Sie etwa im nächsten Band an Stelle des bisherigen falschen das richtige Datum obiger Besteigung einsetzen. Hierzu veranlasst mich noch ein weiterer Beweggrund, den ich Ihnen im folgenden auseinandersetzen will.
In der Alpina (Jahrgang 1895, Nr. 2, pag. 11) schilderte Herr Stoop kurz eine von uns am 14. Oktober 1894 ausgeführte Gamsbergtour von Südosten über das sogenannte Goldloch. Mit Fug und Recht hätte er beisetzen sollen und können, dass dies wiederum eine Erstlingsbesteigung gewesen; denn laut von ihm eingezogenen Erkundigungen hat vor uns auf jenem Weg kein Tourist, auch kaum ein Jäger, den Berg bestiegen. Nehmen Sie das Panorama vom Älplikopf zur Hand, so finden Sie dort durch die von Punkt 2344 steil thalwärts stürzende, tief eingerissene Runse, die in südöstlicher Richtung verläuft, unsere neuere Anstiegsrichtung ungefähr angegeben. Somit ist es richtig, wenn Herr Stoop dieselbe a. a. O. als eine südöstliche bezeichnet, und dürfte somit die Rubrik «Neue Bergfahrten 1894» ungefähr um den Passus bereichert werden:
«14. Oktober 1894. Erste Besteigung des Gamsberges von der Südostseite (via Goldloch), ausgeführt von den HH. J. B. Stoop (Sektion Piz Sol) und Dr. E. Haffter (Sektion Rhätia).» Bringen Sie nun, wie ich hoffe, diesen Nachtrag gelegentlich an und korrigieren Sie gleichzeitig das Datum unserer ersten Gamsbergfahrt, so empfiehlt es sich meines Erachtens bei diesem Anlass auch, für: Besteigung des Gamsberges von Süden zu setzen:
«Erste Besteigung des Gamsberges von Südwesten (via Fauler Gang)», indem, wie ich im frühern nachgewiesen zu haben glaube, diese Direktionsbezeichnung für den Aufstieg den thatsächlichen Verhältnissen besser entspricht, als die bisherige («von Süden»); ferner wird durch diese neuere Angabe die Richtung unseres Juni-Aufstieges scharf und deutlich und unmissverständlich markiert gegenüber derjenigen, die wir bei unserer Gamsbergtour vom Oktober 1894 verfolgten, so dass auch ein mit den topographischen Verhältnissen am und um den Gamsberg wenig Vertrauter diese beiden Routen nie und nimmer verwechseln kann, was eher möglich wäre, wenn er nur die Angaben: Gamsberg von Süden und: Gamsberg von Südosten vorfände.
Kurz, ich möchte Ihnen also beantragen, im nächsten Band des Jahrbuchs S.A.C. die Bemerkung anbringen zu wollen, der auf den Gamsberg bezügliche Vermerk unter «Neue Bergfahrten 1894» im Jahrbuch S.A.C. XXX, pag. 393, sei zu streichen und dafür folgender Nachtrag zu substituieren:
«Erste Besteigung des Gamsberges von der Südwestseite (via Fauler Gang). 24. Juni 1894. HH. J. B. Stoop (Sektion Piz Sol); Karl Wildhaber, Tscherlach; Dr. E. Haffter (Sektion Rhätia).
Erste Besteigung des Gamsberges von der Südostseite (via Goldloch). 14. Oktober 1894. HH. J. B. Stoop (Sektion Piz Sol) und Dr. E. Haffter (Sektion Rhätia).» –
Nun noch der Grund, warum ich erst jetzt mit diesen Korrekturen hervortrete:
Im Dezember 1895 lieferte ich der Sektion Rhätia mein Tourenverzeichnis pro 1894/1895, zu Händen des Sektionsberichtes, ein, in welchem Verzeichnis ich obige Korrekturen und Ergänzungen zum erwähnten Gamsbergpassus im Jahrbuch S.A.C. XXX, pag. 393, eingetragen hatte; allein, wie es nachher im Jahresbericht hiess, hatte man nicht für nötig befunden, die von mir und andern Sektionsmitgliedern angemeldeten Einzeltouren im Bericht anzuführen, weil sie doch nur ein ungenügendes Bild von der Thätigkeit der Sektion als solche ergäben – so lautete die betreffende Motivierung. Erst nach langem Nachfragen erhielt ich dann mein Tourenverzeichnis ¾ Jahre später wieder. Als dann Herr Stoop vor cirka einem Jahr sich auf meine Verwendung hin bereit erklärte, zu Herrn J. Knechts Älplikopf-Panorama einigen begleitenden Text ins Jahrbuch S.A.C. zu liefern, legte ich ihm nahe, bei diesem Anlass auch obige Verifikationen anzubringen. Da dies aber nicht geschehen ist (vgl. seinen Artikel «Aus dem Gebiet des Blatt Bärschis, T. A. 256», Jahrbuch S.A.C. XXXII, pag. 356 ff.), trete ich endlich selbst auf den Plan damit, in der Hoffnung, Sie werden diese meine Anregungen berücksichtigen.”