Seit Kurzem kann man in bequemer Weise in das Toggenburg eindringen, da eine Eisenbahn von Wyl nach Ebnat in Betrieb gesetzt ist. Der Fusswanderer hat von Ebnat an das schöne an und in der Alpenwelt liegende Ober-Toggenburg vor sich. Hiermit soll aber nicht gesagt sein, die Strecke von Wyl nach Ebnat sei ohne landschaftliche Reize und könne füglich apathisch in dem halbwachen Zustande verträumt werden, in den das Fahren auf der Eisenbahn so leicht versetzt. Man muss unwillkürlich auch auf dieser Strecke oft ausschauen und malerische Eindrücke rasch in sich aufnehmen, überall aber sich freuen über die fruchtbare, grüne, reichlich mit Obstbäumen besetzte Landschaft, deren Anblick denn auch zu der Frage hinführt, wie man dazu gekommen sei, eine Eisenbahn in ein Land hineinzubauen, dessen Bestimmung zur Landwirthschaft und Viehzucht so in die Augen springe, und zwar eine Zweigbahn, welche mitten im Lande plötzlich aufhört? Man wird aber um die Antwort auf diese Frage nicht lange verlegen sein, wenn man bald und immer mehr erkennt, dass im Toggenburg, zumal im Bezirk Neu-Toggenburg mit dem industriellen Hauptort Wattwyl, eine bedeutende, ja grossartige Industrie und Fabrikation sich entwickelt hat, obgleich das Land nicht eine einzige Stadt, sondern in Lichtensteig nur ein Städtchen hat. Es besteht eben die Eigenthümlichkeit Toggenburgs in dem Nebeneinander althergebrachter Bodenkultur und Alpenwirthschaft und der Aneignung der modernen Erfindungen als Mittel für die Industriezweige. Daher denn auch die grosse Verschiedenheit in der Bevölkerung. Eine malerische Erscheinung ist der junge, hübsche Senn in seiner Sonntagstracht, dessen kräftige Brust geziert ist mit dem breiten Messingbande, auf welchem im Relief ein Rind als allgemeines Sennwappen figurirt. Mit seiner Alphütte kontrastirt der Palast des grossen Fabrikanten, der täglich Tausende von Spindeln schnurren lässt, dessen bunte Tücher in einer fernen Zone an dem Busen oder als Kopfputz der jungen japanesischen Maidlis ihre schöne Verwendung finden.
Das Toggenburg, ein Ländchen von 10 Quadratmeilen, hatte bei der letzten Volkszählung (1860) beinahe 50,000 Einwohner, war aber schon vor dem grossen Aufschwung der dortigen Industrie übervölkert zu nennen, insofern die Landwirthschaft und Alpenwirthschaft nicht alle arbeitsfähigen Hände in Anspruch nahm. Es konnte also nur zwischen Auswanderung und Fabrikenbau die Wahl sein; die Toggenburger wählten das Letztere, aber nicht bloss zum Nothbehelf gegen Uebervölkerung, sondern um in der Industrie Grosses zu leisten. Nach einer glaubwürdigen Berechnung kam vor einigen Jahren der achte Theil der Ausfuhr in der Baumwollindustrie der Schweiz auf das Toggenburg. ….

Die toggenburger Bahn ist eine Zweigbahn der beschienten Heerstrasse von St. Gallen nach Zürich. Sie zweigt sich ab bei der Station unweit Wyl, … Die feierliche Eröffnung der toggenburger Eisenbahn fand statt am 23. Juni 1870. … Ich hatte die Ehre unter den eingeladenen Gästen zu sein, …. Als man sich zur Abfahrt im Bahnhofe versammelt hatte, brauste die nagelneue, bekränzte Lokomotive heran, wie ein stolzes Ross zur Parade. Das Dampfross wurde mit lautem Jubel begrüsst und hatte bald seine Kraft und Ausdauer zu bewähren, denn eine lange Reihe von Waggons trug nicht weniger als 300 Personen. Die Begrüssungsreden an den Stationen von würdigen Pfarrern und weltlichen Standespersonen waren frisch und schwungvoll.
Auf der ganzen Fahrt bis an das Obertoggenburg heran wird man nicht müde, über die Schönheit der Landschaft umher mit ihrem zackigen Felshintergrunde sich zu freuen; aber staunen muss man über den kühnen Brückenbau, durch den an einigen Stellen grosse Schwierigkeiten zu überwinden waren …
eine unabsehbare Menschenmenge, deren Gruppirung eine sehr malerische Erscheinung darbot, denn zu dieser Kopfstation ((Ebnat)) waren auch die Hirten von den Bergen des Obertoggenburgs herabgekommen. Junge Aelpler in ihrer Festtagskleidung, deren Hauptstück die hellrothe Weste ist, trugen ganz neue Milchkübel an der Schulter; alte Sennen hatten ihre beste schwarze Zipfelmütze zur Ehre des Tages aufgesetzt. …
… auch wenn wir über den Bezirk Wattwyls hinaus sind, sehen wir schmucke Häuser und ein reges Leben der Anwohner der Landstrasse, das sich steigert, wo wir sehr bald Kappel und Ebnat erreichen, welche Orte fast so nahe wie Hamburg und Altona an einander stossen. Die beiden Gemeinden gehören schon zum Ober-Toggenburg, wie Karten und Bücher uns belehren, aber der Charakter des toggenburgischen Oberlandes, wie ich ihn in der Vorstellung hatte, beginnt erst hinter Ebnat und potenzirt sich oberhalb Nesslau. …
(Quelle: Wanderstudien aus der Schweiz. Erster Band. Von Eduard Osenbrüggen. Fr. Hurter’sche Buchhandlung, Schaffhausen, 1867)