Sagen über die Amdener Höhe, 1903

Der Amdener Jauchzer.
Zwischen den Leuten von Amden und Stein herrschte jahrelang ein erbitterter Streit wegen der Grenze am Gulmen. Die Hirten von hüben und drüben, wie auch die Jäger und Beerensammler lagen sich oft in den Haaren, und mancher der Streitenden trug sogar einen blutenden Kopf mit nach Hause. Alle gütlichen Verhandlungen der Gemeindehäupter führten zu keinem Resultat. Endlich kam man überein, ein Grenzlauf sollte den Handel zum Austrag bringen. An einem bestimmten Tag sollten die Läufer zu gleicher Zeit von Amden und Stein abgehen, und da, wo sie zusammentreffen würden, sollte die Grenze gesetzt werden.
Der Amdener aber wurde eidbrüchig, ging eine halbe Stunde zu früh ab und erreichte darum die Wasserscheide zuerst. Durch einen «höllischen» Jauchzer verkündete er den errungenen Sieg und lief dann weiter talwärts. Am rauschenden Dürrenbach stiessen die beiden Läufer zusammen. Dem Steiner blieb der Betrug zwar nicht verborgen; er erhob heftige Einsprache. Doch der Gegner beteuerte, er stehe auf Amdener Grund und Boden; er hatte nämlich betrügerischerweise Erde aus seinem Garten in die Schuhe geschüttet! So wurden die Toggenburger überlistet und betrogen.
Aber Unrecht findet den Knecht! In stürmischen Nächten hört man oben auf der Bergeinsattelung heute noch ein unheimliches Jauchzen, und alles Volk weiss, was dieses zu bedeuten hat. (H. Brunner)

Wer vollbringt’s?
Ein jüngerer Mann, Viehhändler von Beruf, ging einst den holperigen Weg von Nesslau nach Amden hinüber. Auf der Passhöhe machte er eine kurze Rast und erquickte sich durch einen Imbiss. Plötzlich gewahrte er zwischen zwei jungen Tännchen eine Jungfrau, deren Antlitz mit einem weissen Tüchlein verhüllt war. Sie schluchzte laut. Bange Besorgnis und innigstes Mitleid für dies leidende menschliche Wesen durchzog sein Gemüt. Hatte es sich in dieser Wildnis verirrt, oder war ihm sonst ein Unfall zugestossen? Er näherte sich der Betrübten und erkundigte sich nach der Ursache ihres Erscheinens. Nun vernahm er, eine unglückliche Seele sei schon seit Jahrhunderten an diese Stelle gebannt, müsse alle hundert Jahre hier am Orte ihrer Missetat erscheinen, bis ein glücklicher Zufall sie erlösen würde.
Dieser Zeitpunkt war eben jetzt wieder gekommen. Die Jungfrau bat ihn flehentlich, er soll ihr beistehen. Morgen werde sie ihm nicht mehr in ihrer jetzigen Gestalt erscheinen, und wenn er den Mut habe, sie zu küssen, so würde ihre Seele Frieden finden; er aber würde ein reicher Mann und könnte mit den herrlichsten Schätzen heimkehren. Der Mann versprach ihr, er werde das Möglichste zu ihrer Erlösung tun. In einer benachbarten Sennhütte verbrachte er die Nacht, ohne dem Sennen sein Herz zu eröffnen. Sein nach den verheissenen Schätzen lüsterner Sinn versetzte ihn bald ins Zauberreich der Träume, aus denen er erst erwachte, als die blendende Sonnenscheibe sich zwischen Hinterruck und Schafberg erhob und ihn zum Aufbruch mahnte. Er ging hinaus an den bestimmten Ort. Bald hörte er im dürren Laube etwas rascheln. Es war eine Schlange, die ihn mit funkelnden Augen anschaute und nach ihm züngelte und zischte. Ihm graute, als er das Tier küssen sollte. Darüber verstrich der kostbare Augenblick; die Schlange verschwand mit einem Seufzer. Er war wohl der Klageruf der Jungfrau. Aber nicht lange ging’s, so erschien eine hässliche Kröte. Er hob sie vom Boden auf; aber sie wurde so schwer, dass er sie fallen lassen musste. Er kniet nieder, um sie zu küssen. Aber das Blut in den Adern erstarrte ihm, als das Ungeheuer sein grosses Maul öffnete und er in einen wahren Höllenrachen sah, aus dem tausend Blitze ihn anspieen. Auch die Kröte verschwand, und vor ihm stand ein schmächtiges Männlein auf schlanken Ziegenfüssen, mit Hörnern und kralligen Händen. Der Nesslauer erschrack und ergriff die Flucht.
Bald sind 100 Jahre seither verflossen. Die Jungfrau wird also nächstens wiederkehren. Wer will hinaufgehen und sie erlösen? (H. Brunner)

(Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen. Von J. Kuoni. St. Gallen, 1903)

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