Scheienfluh und Sulzfluh

Als ich im Sommer 1890 die Partnunerberge besuchte, hatte ich im Sinn, dieselben planmässig und vollständig zu begehen. Der erste Tag war für eine Wanderung über ein reines Schiefergebirge – Schiers, Stelserberg, Kreuz, Aschüel, Kühnihorn, Schafberg, Garschinafurke, Partnun – bestimmt, der zweite Tag für eine Gratwanderung, gewürzt mit einigen Klettereien über den rein krystallinischen, vielzackigen Kamm vom St. Antönierjoch bis zum Aeusseren Gweilkopf, in Aussicht genommen, den dritten Tag gedachte ich den wilden und imposanten Kalkformen der Scheienfluh und der Sulzfluh und endlich den vierten Tag dem Madrishorn und seinen Trabanten, die in geologischer Beziehung Schiefer-, Kalk- und Urgebirge in sich vereinigen, zu widmen. Die zwei ersten Tage verliefen bei schönem Wetter auch ganz programmgemäss, die zwei andern aber fielen des strömenden Regens wegen buchstäblich ins Wasser. Da es zugleich meine letzten Ferientage waren, so musste der Rest des Programms aufs nächste Jahr verschoben werden. Dieser Rest ist nun, trotz manchen durch das Wetter bewirkten Hindernissen, zum grossen Theil nachgeholt worden. …

Scheienfluh
Am 19. September 1891 hatte ich mich, erst Nachmittags von Schiers aufbrechend, über den Stelserberg, den Fajunkawald, Aschtiel und St. Antönien nach Partnun begeben. Etwas nach mir traf auch Herr Pahl aus Schiers, Mitglied unserer Section des S.A.C., mit einem Begleiter, von Küblis kommend, in der von Herrn Pleisch trefflich geführten Pension Sulzfluh ein. Es war mir sehr angenehm, dass diese beiden Herren ihre noch etwas unbestimmten Pläne zu Gunsten des meinigen aufgaben, denn nun brauchte ich mein Vorhaben nicht allein auszuführen. Am folgenden Morgen brachen wir um 4 Uhr gegen Plassecken auf. Hier interessirten uns besonders die grossen, trichterförmigen Löcher, in welchen die Bäche der dortigen Gegend verschwinden, um dann unter dem Graustein durch ewig verborgene Wege zu wandeln. Es ist das auch eine jener merkwürdigen Erscheinungen, an denen unser Gebiet so reich ist und die der Geologie und physikalischen Geographie desselben erhöhtes Interesse geben. …
Vom obersten Trichter stiegen wir nordwestlich über steile Grashalden zwischen herabziehenden Felsrippen direct auf die Mittelfluh (2342 m) hinauf, dann über den Kamm des Berges mit einigen Gegensteigungen bald über kahle Felsplatten, bald über mit Schutt untermischten Grasboden zum Schafläger (2487 m) und über Punkt 2543 m zum südlichen Gipfel der Scheienfluh (2628 m), wo wir um 6 Uhr 20 Min. ankamen und bis 7 Uhr verweilten. Auf dem Wege hieher waren uns einige mächtige Spalten aufgefallen, in der Gestalt nicht unähnlich gewaltigen Gletscherschründen. Die Aehnlichkeit wurde noch erhöht durch die Beschaffenheit der Felsen, die bald weissschimmernden, bald schmutzig angelaufenen, zerschründeten und an der Oberfläche unregelmässig wellenförmig gestalteten Gletschern vielfach täuschend ähnlich sahen. Die grössten Felsspalten durchzogen den Berg in geraden und krummen Linien der Länge nach von Norden nach Süden, kleinere trafen in allen Richtungen auf die Hauptspalten. An mehreren Orten sah es aus, als wäre der Berg bis tief in sein Inneres förmlich zerspalten und als wären dicke tafelförmige Platten in der Ablösung begriffen, um später westlich gegen den Partnunersee in die Tiefe zu stürzen. Auch konnten wir von oben herab an den senkrechten Wänden deutlich solche durch Klüfte vom übrigen Berg getrennte Tafeln erkennen, die aussahen wie sich ablösende Rindenstücke. Der Scheienzahn ist wohl ein solches durch die Verwitterung stark zerstörtes und gar eigenthümlich geformtes Rindenstück. An andern Stellen sieht man die verhältnissmässig frischen Abbruch- und Ablösungsflächen, während die zugehörigen Rindenstücke schon in die Tiefe gestützt sind und in Blöcke zerbrochen auf der grossen Schutthalde liegen. Der Blick über die gewaltigen Westwände hinunter in das Reich der Zerstörung ist grandios und schauerlich, fesselnd und doch wieder abschreckend.
Der Uebergang zur nördlichen und höchsten Spitze (2630 m) machte uns ordentliche Schwierigkeiten. Auf dem Grat selber war er nicht möglich wegen einem tiefen, senkrechten Einschnitt zwischen den beiden Spitzen. Wir hätten nun etwas südöstlich absteigen und dann rechts unter den obersten Felsabsätzen durchgehen sollen, um schliesslich wieder nordwestlich anzusteigen, dann hätten wir gar keine Schwierigkeiten gehabt und wären rascher vorwärts gekommen. Aber wir waren mit Suchen zu weit nordöstlich hinunter gerathen und stiegen nun nicht gern wieder auf, um in einer andern Richtung abzusteigen. Wir erzwangen darum den Abstieg in der einmal eingeschlagenen Richtung, mussten darum aber einige schwierige Passagen machen, namentlich zwei enge Felskamine hinunterklettern und auf schmalem Band uns um eine vorspringende Bergkante herumschwingen. An einigen Stellen waren unsere Arme und Beine fast nicht lang genug, um die betreffenden Kletterkünste auszuführen, der Abstand zwischen gutem Griff und sicherm Tritt mehr als einmal fast zu gross, und es war gut, dass wir zu Dreien waren und uns gegenseitig helfen konnten. Einmal etwa beim u des Namens Scheienfluh in der Karte angekommen, hatten wir alle Schwierigkeiten überwunden und konnten auf deutlich vorgezeichneter Bahn über Schutt und Fels zur höchsten Spitze aufsteigen, die wir um 7 Uhr 40 Min. erreichten.
Die Aussicht ist nicht sehr umfassend, man sieht zwar wohl noch die höchsten Spitzen der Silvrettagruppe und der Albulakette, erhält aber doch keinen Ueberblick über diese zwei Gebirgsmassen, und es fehlen im Bild wichtige Punkte, wie z.B. der Piz Buin und der Piz Kesch, die durch die Litzner- und die Madrisagruppe verdeckt werden. Eigenartig ist aber die nächste Umgebung, und es herrscht hier das Grossartig-Schauerliche, das Wild-Erhabene entschieden vor, besonders beim Blick auf die Sulzfluh und auf die Scheienfluh selber, sowie auf den zwischenliegenden Grubenpass. Doch mischen sich in das vorwiegend düstere Bild auch einzelne freundliche Züge, besonders vertreten durch den Partnuner- und den Tilisunasee, das grüne Thal von St. Antönien und die sanften Formen der Vorberge des Rhätikon.
Da wir keinen Steinmann vorfanden, so errichteten wir selber einen und übergaben ihm einen Zettel mit unsern Namen. Dann traten wir um 8 Uhr 30 Min. den Abstieg gegen Tilisuna an, und zwar genau auf dem Grenzkamm bis zum Grubenpass (2235 m) und von da nach dem Fürkli bei 2222 m. Dieser Abstieg bot keine nennenswerthen Schwierigkeiten, erforderte aber an einigen Stellen der stark ausgebildeten Schratten wegen behutsames und langsames Gehen. Um 9 Uhr 50 Min. waren wir in der Tilisunahütte, wo wir zu unserer Freude und Verwunderung den von Herrn O. v. Pfister im letzten Jahrbuch des S.A.C. todt-gesagten Papa Marent antrafen. Er ist weit über 70 Jahre alt, geht aber doch noch jedes Jahr mehrmals und ohne sichtbare Anstrengung auf die Sulzfluh, oder macht seinem Nachbar Pleisch in Partnun, der auch kein heuriges Häslein mehr ist, einen Besuch, unterhält einen Theil des Weges dorthin und holt weit unten im Gampadelzthal das für die Hütte nöthige Holz herauf. Gewiss Proben von grosser Rüstigkeit für einen hohen Siebenziger. Wir haben uns gut unterhalten mit ihm und bei Gesang und Guitarrenspiel einige fröhliche Augenblicke hier zugebracht.

Sulzfluh
Um 11 Uhr 20 Min. nahmen wir wieder Abschied von der gastlichen Hütte und ihrem gemüthlichen Alten und schritten der Sulzfluh zu. Der Aufstieg ist hier sehr leicht und führt ungefähr längs der Landesgrenze über ein meistens ziemlich sanft ansteigendes Felsplateau, das nur da und dort von einigem Schutt bedeckt oder von mehr oder weniger ausgebildeten Schratten durchfurcht ist. In grössern Vertiefungen und Gräben finden sich immer, auch im Hochsommer, die Reste von zusammengewehtem Schnee. Der ganze Weg ist sehr aussichtsreich und bietet auch dem Naturforscher manche interessante Erscheinung, wie Rundhöcker, Gletscherschliffe, Schratten, hie und da eine undeutliche Versteinerung, einige genügsame kalkliebende Pflanzen. Doch ist die Flora äusserst spärlich vertreten; wir befinden uns in einer ausgesprochenen Berg- und Felswüste, die sich vom Plasseckenpass bis zur Todtalp der Scesaplana ausdehnt. Gerade dieser wüstenartige Charakter mit seiner lautlosen Stille und mit den Bildern des Todes und der Zerstörung, diese nackten und starren Felsenmassen verleihen diesen Gebirgen einen eigenartigen Reiz, etwas Grosses und Imposantes. Nach Ueberschreitung des weiten Felsplateaus tritt man gerne für eine kleine Weile auf das Gletscherchen, das Einen, fast immer mit tragendem Schnee bedeckt, leicht zur obersten, wiederum kahlen und arg verwitterten Spitze bringt. In wenigen Minuten ist auch diese erstiegen. Um 1 Uhr 10 Min. standen wir beim Steinmann und hatten also von der Tilisunahütte an eine Stunde und 50 Minuten gebraucht.
Es war ein prächtiger Tag, sonnig und warm, der Himmel ungetrübt blau und der Horizont rein, darum auch die Aussicht vollkommen und uneingeschränkt. Vom Bodensee und den Appenzeller Bergen bis zur Berninagruppe und vom Bündner Oberland bis zur Oezthalergruppe lag das schöne Alpenland vor uns ausgebreitet da. Eine Gruppe löst die andere ab, eine Kette folgt der andern in unendlicher Mannigfaltigkeit. Die Albulakette vom Flüelapass bis zum Splügen, die Silvretta- und die Berninagruppe erscheinen in ihrer vollen Majestät und Schönheit mit allen ihren Hauptgipfeln, nicht mehr nur verkümmert und stückweise wie noch auf der Scheienfluh. Auch die Tödikette präsentirt sich gut, besser als von der Scesaplana, aber doch nicht so gut, wie etwa vom Hochwang. Nach Norden und Nordosten reicht der Blick über die Vorarlberger Höhen und die Fervalgruppe bis zu den Algäuer und Bayerischen Alpen mit der Mädelegabel, der Zugspitze u.a. An Thälern aber sieht man ausser dem Gauer- und St. Antönierthal nicht viel, kleine Stücke nur des Prätigaus, des Rheinthals und des Silberthals mit dem dörfer- und häuserbesäeten Bartholomäusberg. Merkwürdig ist die schöne, regelmässige, halbkreisförmige Moräne, welche die mächtige Ganda am Südfuss der Sulzfluh begrenzt und von der einstigen Existenz eines gewaltigen Gletschers erzählt. Sie ist auf der Excursionskarte deutlich eingezeichnet und erreicht ihr Südende bei 2052 m Höhe. Eines der anziehendsten Details des weiten Gebirgskranzes ist die Drusenfluh, die wie eine kahle Felseninsel aus dem grünen Meer der sanftwelligen Formen der südlichen und nördlichen Vorberge hoch aufragt.
Nach einer genussvollen Stunde verliessen wir den schönen Punkt um 2 Uhr 10 Min. und rannten in förmlichem Wettlauf durch das schutterfüllte Gemstobel hinunter zum Partnunersee und zur Pension Sulzfluh, die wir schon um 3 Uhr 20 Min., also 70 Minuten nach dem Verlassen der Spitze, erreichten. Hier hatten wir noch Zeit zu einem Plauderstündchen mit Vater Pleisch und zu einer wohlverdienten Restauration. Dann ging’s wieder in Eilmärschen hinaus nach Küblis, das wir in 2 ¼ Stunden erreichten und von wo uns der Abendzug wieder nach Schiers brachte.

(E. Imhof, Section Scesaplana)
(Quelle: SAC Jahrbuch 1891)

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Als ich am 25. Juli 1897 … zur Sulzfluh hinüberblickte, … erwachte in mir das Verlangen, die Ersteigung derselben über die Nordwestflanke auszuführen. Das Problem einer Begehung der Nordwestflanke der Sulzfluh war nicht neu, … und es wurden in der That mehrere Ersteigungsversuche unternommen, die aber alle resultatlos verliefen. …
Im Frühjahr 1899 schrieb ich Führer Josef Both, ich wolle so bald als möglich den geplanten Sulzfluhaufstieg versuchen, und bat ihn, mich zu benachrichtigen, wenn er glaube, dass die Schneeverhältnisse dem Unternehmen günstig seien. …
Am 14. Juli früh 5 Uhr verliessen Both und ich die obere Sporer Alpe und wanderten in mässigem Tempo zum Drusenthor (7 Uhr). Von da stiegen wir über steile, brüchige Felsen, nicht schwierig, jedoch etwas mühsam, gegen den zu den Wänden der Sulzfluh streichenden Grat hinauf und schritten auf dessen Nordseite, uns immer so hoch als möglich haltend, über Fels, Geröll und steile Schneeflecken zu einem mässig steilen, etwa 20 m hohen, unten engen, oben über 2 m weiten, leichten Kamin mit eingeklemmtem Block. Aus dem Kamin heraus kletterten wir über ein Wandl auf den schmalen Grat, der, bald breiter werdend, horizontal unter die hohe, sehr steile Runse führt, welche den Aufstieg zum Sporer Gletscher ermöglicht (8.25).
Bei unserem Weggang von der Alpe waren die Berge noch frei von Gewölk, und wir glaubten auf einen schönen Tag rechnen zu dürfen; doch je höher wir kamen, desto mehr umzog sich der Himmel, und schon von 7 Uhr an waren wir streckenweise ganz in Nebel gehüllt. Glücklicherweise lichtete sich letzterer jedoch mitunter, so dass wir mehrmals noch die Felsen bis zum Gletscher hinauf überblicken konnten. Nach 8 Uhr aber wurde der Nebel immer dichter und schien uns nicht mehr verlassen zu wollen.
Da wir auch noch Regen befürchteten, brechen wir schon (8.35) wieder auf. Ein an der Felswand zur Rechten hinaufziehender Riss führt uns in die Runse hinein. Hier verbinden wir uns durch das Seil und steigen über steilen Schnee bis unter den riesigen, wasserüberronnenen Block, welcher die Runse sperrt. Rechts von diesem Blocke erhebt sich eine unersteigliche Wand, links ist eine sehr steile, nasse Platte von 5–6 Meter Höhe, die zu einem steilen, kurzen Kamin führt, und weiter links ist wieder Steilwand. Der Überhang des Blockes bildet das Dach einer kleinen Nische, deren Boden aus Schnee besteht. Im Hintergrund der Nische ist Raum genug, dass wir vor dem vom Blocke herabspritzenden Schmelzwasser geschützt stehen und unsere Rucksäcke bergen können. Nun überlegen wir, was weiter zu thun sei. Der Block selbst kann direkt nicht erklettert werden, und die Wand nördlich der Platte sieht auch nicht weniger einladend aus; so werden wir’s also mit der der Platte versuchen müssen.
Dieselbe zeigt sich jedoch bei näherer Besichtigung als völlig griff- und trittlos, und vergeblich suchen wir an ihr nach Rissen, wo sich die mitgebrachten Mauerhaken eintrieben liessen. Aber rechts oben, wo der kurze Kamin ansetzt, befindet sich eine kleine Abseilzacke. Vielleicht gelingt es uns, über diese das Seil zu werfen und an demselben hinaufzuturnen. Wir werfen es abwechselnd wohl zehn- bis fünfzehnmal, wobei der Werfende genötigt ist, aus der Nische herauszutreten und dabei stark durchnässt wird. Immer gleitet das Seil von der Zacke ab. So geht es also auch nicht. Ich stosse nun unsere beiden Pickel bis zur Haue in den Boden der Nische, binde mich vom Seile los und befestige mein Seilende an den Pickeln. Dann bereite ich mir auf dem Schnee unter der Platte einen guten Stand. Jetzt schwingt sich Both, der mittlerweile die Kletterschuhe angezogen hat, auf meine Schultern und lässt sich von mir an der Platte hinaufschieben, bis er schliesslich auf meinen ausgestreckten Armen steht. Doch auch von diesem erhöhten Standpunkte aus will es ihm nicht gelingen, die Zacke zu erreichen. Ein erneuter Versuch, das Seil über dieselbe zu werfen, verläuft eben so resultatlos wie unsere Wurfversuche von der Nische aus, weil, wie sich jetzt erst zeigt, Steine zwischen Zacke und Wand eingeklemmt sind.
Schon erlahmt meine Armkraft, und auch Boths Beine beginnen zu zittern. Langsam und bedächtig lässt er sich deshalb zurückgleiten und ruht auf meinem Kopfe stehend ein wenig aus. Dann drücke ich ihn abermals in die Höhe, und jetzt – ein kleiner, kühner Sprung, er hat die Zacke erfasst und schwingt sich zu einem Tritte auf. Nun entfernt er die eingeteilten Steine an der Zacke und lässt zu seiner grösseren Sicherheit das Seil hinter derselben durchlaufen. Noch 6-7 m hoch muss er ziemlich schwierig und ausgesetzt gerade emporklettern, bis er einen, allerdings nicht besonders guten Stand findet. Dann mache ich mich zum Nachfolgen bereit. Zuerst schnelle ich das Seil von der Zacke ab, binde es mir wieder um den Leib und knüpfe hierauf Rucksäcke und Pickel an unser zweites Seil, welches ich mir ebenfalls umbinde. Mit Unterstützung durch das Seil erreiche ich hierauf die Zacke, und wenige Augenblicke später stehe ich neben Both und ziehe unser Gepäck nach. Ein kurzer Quergang über Schutt führt uns an die rechte (südliche) Wand der Runse, wo sich unmittelbar über dem grossen Block ein guter Rastplatz befindet.
Von hier stiegen wir noch etwa 30-40 m hoch über Fels, Schnee und Geröll, immer noch recht steil, doch weniger schwierig, zuletzt leicht, in der Runse weiter zum Sporer Gletscher, den wir 10.50 betraten. Damit war unser Berg besiegt, und es schien nun, als wolle er die zu unserer Abwehr ins Feld geführten Nebel wieder zurückrufen; es wurde licht unter uns, und freundlich grüssend blickten die grünen Matten des Prätigaus zu uns herauf.
Dafür scharten sich aber die wild jagenden Wolken um den Gipfel, den wir den ganzen Tag nicht mehr zu Gesicht bekommen sollten. Allein was schadete das. War ich doch an einem herrlich schönen Novembertage des Jahres 1897 so glücklich gewesen, die vielgerühmte Aussicht von der Sulzfluh zu geniessen. Gerne verzichtete ich daher diesmal, unter so ungünstigen Verhältnissen, auf die Besteigung ihres höchsten Punktes, umso mehr, als derselbe vom Ausstieg aus der Runse direkt über den kleinen, harmlosen Sporer Gletscher in 15-20 Minuten ohne jede Schwierigkeit zu erreichen ist und wir mit dem Betreten des Gletschers unser Problem ja gelöst hatten.
In frohem Siegesbewusstsein lagerten wir uns auf dem trockenen Felsen bei der Stange, welche den westlichen Eckpfeiler der Sulzfluh ziert. Jetzt, da Gefahr und Schwierigkeiten überwunden waren, machte der knurrende Magen seine Rechte geltend, und mit wahrem Wolfshunger fielen wir über die Schätze unseres Proviantbeutels her, denen wir bis dahin keine Beachtung hatten schenken können.
Leider gönnten uns die lästigen Nebel, die bald von neuem und in immer grösseren Massen dahergeschlichen kamen, auch hier keine längere Rast. Nach kaum halbstündigem Aufenthalte brachen wir wieder auf, um durch den «Rachen» ins Gauerthal zurückzukehren. In schneidiger Abfahrt ging es über die Firnfelder des «Rachens» hinab, was ich ohne solch kundige Führung bei dem herrschenden Nebel wohl nicht hätte wagen dürfen, und in überraschend kurzer Zeit erreichten wir den Porsalenger Wald. Hier trennten wir uns. Ich schickte Both nach der Ob. Sporer Alpe, um einige von mir dort zurückgelassene Sachen zu holen und übernahm seinen Rucksack, um ihm nach des Tages Mühen diesen Gang möglichst zu erleichtern. In der unteren Sporer Alpe wollten wir uns wieder treffen.
Bei dem «zum Greifen» dichten Nebel steuerte ich aber zu weit nach rechts und kam erst ein gutes Stück unterhalb der Alpe auf den Weg. Zurücksteigen wollte ich nicht mehr, dazu waren mir die beiden Rucksäcke doch zu schwer, und welchen der beiden Wege B. einschlagen werde, wusste ich auch nicht, so hielt ich es für das Beste, allein nach Schruns weiter zu wandern.
Dort war man nicht wenig erstaunt, als ich allein, mit zwei Rucksäcken schwer beladen, des Weges kam, und glaubte schon, meinem Führer sei ein Unfall zugestossen.
Um so grössere Heiterkeit erregte es, als B. in etwa zwei Stunden nach mir mit einem kleinen Bündel in der Hand im Sternen erschien und mir Vorwürfe machte, «weil ich ihn wie einen Handwerksburschen habe hintendrein traben lassen». Es muss ihm aber doch nicht so unangenehm gewesen sein, denn es fiel mir nicht schwer, ihn über die erlittene «Zurücksetzung» zu trösten. …

… Wie ich nachträglich in einer Schrift von D. Stokar lese, soll die Ersteigung der Sulzfluh vom Drusenthor aus schon einmal einem Gemsjäger gelungen sein. Freilich soll derselbe nachher erklärt haben, er würde es um keinen Preis zum zweitenmale thun. …

(Victor Sohm, Sekt. St. Gallen)
(Quelle: Alpina 1900)

Der Tschingel

Wenige Tage nach der Falknis – Gleckhorntour wurde dem Tschingel (2545 m) ein Besuch gemacht. Am 24. Juli waren Herr Zwicky und ich nach Seewis gekommen, um die bei uns jährlich wenigstens einmal wiederkehrende Scesaplanatour anzutreten. Im Hotel Scesaplana vernahmen wir durch Herrn Major Walser, dass noch andere Partien das gleiche Vorhaben hatten, darunter der Redactor des Jahrbuches des S.A.C., Herr Wäber, mit zwei Söhnen und Herr Bergwerkdirector Hilbeck aus Dortmund. Die mitgehenden Führer waren Martin Sprecher von Seewis und Fortunat Enderlin von Maienfeld. Es gab also grosse Gesellschaft und Aussicht auf ein fröhliches und anregendes Clubhüttenleben. Doch zogen wir nicht alle miteinander aus, Zwicky und ich gingen voraus und marschirten um 12 ½ Uhr ab, weil wir unterwegs noch den Abstecher auf den Tschingel machen wollten. Ueber Ganey und Fasons stiegen wir in der Richtung auf die Kleine Furka bis zur Höhe von etwa 2100 m, bogen dann links um in das Thälchen des Augstenberges, das uns mit geringer Mühe auf die Grosse Furka brachte (2367). Unterwegs beobachteten wir fleissig den Hornspitz, um eine allfällige Aufstiegsroute zu finden, die wir auch trotz des wilden Aussehens des Berges glauben entdeckt zu haben. Doch sind wir bis jetzt nicht dazu gekommen, dieselbe auch praktisch zu versuchen, und daran ist hauptsächlich das Wetter schuld. Aber aufgeschoben ist noch nicht aufgehoben.
Von der Grossen Furka stiegen wir über den stellenweise ziemlich steilen und meist felsigen Nordgrat des Tschingel empor. Derselbe besteht aus ostwestlich streichenden und steil aufgerichteten dünnen Schieferschichten – nach Theobald mittlerer und oberer Jura – über deren schmale Kanten man hinwegschreiten muss, was bei der starken Verwitterung und Zerrissenheit des Grates an mehreren Orten einige Vorsicht erfordert, sonst aber keine Schwierigkeiten bereitet. Um 5 Uhr 15 Min. waren wir auf der Spitze, die uns mit einer ganz herrlichen Aussicht belohnte. Dieselbe ist derjenigen der Scesaplana sehr ähnlich, aber, der geringen Höhe entsprechend, etwas beschränkter, reicht aber doch bis zum Bodensee und zur Bernina. Schön ist besonders der Blick hinunter ins Gamperdonathal mit der grünen Fläche des Nenzingerhimmels, und mächtig erheben sich die gewaltigen Felsenbauten der Scesaplana, der Drusenfluh und der Sulzfluh, von dem weiten, in der Abendsonne leuchtenden Bergkranz ringsumher gar nicht zu reden.
Um 6 Uhr begannen wir den Abstieg, und zwar über die Südostkante des Berges und durch die Mulde des Heuberges hinunter nach der Alp Fasons und von da weiter zur Schamellahütte, wo wir mit der oben genannten Gesellschaft zusammentrafen und mit ihr einen freundlichen Abend verlebten. Von der am folgenden Tag ausgeführten Scesaplanabesteigung will ich aber hier nicht erzählen, da ich im vorigen Band des Jahrbuches schon von einer solchen berichtet habe, die nur wenige Tage später erfolgte. Im gleichen Jahre kam ich noch einmal auf den Tschingel. Ich wollte eine Recognoscirung am Hornspitz vornehmen und wo möglich gleich ganz hinaufgehen, wagte es aber, da ich allein war, nicht und stieg statt dessen wieder über die Grosse Furka auf den Tschingel und dann von da über die Westkante nach dem Pass „Auf den Platten” und nach Jes und Stürvis hinunter. Wir haben also am Tschingel drei Auf- und Abstiegsrouten: über den Nordost-, den Südost- und den Westgrat.
(E. Imhof, Section Scesaplana)
(Quelle: SAC Jahrbuch 1891)

Über den Vilan nach Maienfeld

Am schnellsten und bequemsten erreicht man Maienfeld von Schiers aus natürlich per Schmalspur- und Normalbahn über Landquart. Schöner ist eine Fusswanderung über Malans und Jenins. Der schönste Weg nach Maienfeld führt aber über das Gebirge, speciell über den Vilan, denn er bietet reichlichen Genuss, prächtige Gebirgs- und Thalbilder und dabei nicht die geringsten Schwierigkeiten. Es ist, wie man hier bezeichnend sagt, eine „Spazierreise”. Ich habe die Tour wiederholt und mit verschiedenen Variationen ausgeführt, das letzte Mal am 1. November 1891 mit Herrn Dr. Flury und Herrn Zwicky, gleichsam zum Schluss der Saison, denn dass wir 8 Tage später noch die Todtalpgruppe würden durchwandern können, hätten wir damals nicht gedacht. Wir brachen um 6 Uhr Morgens in Schiers auf und erreichten Seewis etwas nach 7 Uhr. Der Fussweg von Grüsch nach Seewis führt an den zerfallenen, aber immer noch mächtigen und sehenswerthen Ruinen der Burg Solavers vorbei, ist aber meistens steil, dazu sehr steinig und holperig und überhaupt in sehr vernachlässigtem Zustand. Ohne Aufenthalt in Seewis stiegen wir gleich weiter, zuerst längere Zeit rechts, dann links haltend, um die Steigung über die im Ganzen ziemlich steilen Grashalden zu vertheilen. Unser Weg führte uns über die Punkte 1115, 1268, 1573, 1911 und 2200 m auf die Spitze. Wir hatten von Schiers aus mit Einschluss einer mehr als halbstündigen Rast 4 ½ Stunden, vom Fuss des Berges aus 4 Stunden gebraucht. Bald nach unserer Ankunft auf der Spitze stiess ein Herr Langenegger zu uns, der von unserer Tour vernommen hatte und uns nachgeeilt war. Er hat von Schiers aus 3 ¼, von Grüsch aus 3 Stunden gebraucht, ist aber auf einer directern Linie angestiegen, nämlich von Seewis über Punkt 1115 m, dann längs dem Sägenbach nach dem Maiensäss Fromaschan (2063 m) und über Punkt 2200 m. Die gleiche Zeit hatte ich einige Monate früher gebraucht, als ich allein auf demselben Weg aufstieg, um mit Führer Enderlin und einigen Churer Clubisten auf dem Vilan zusammenzutreffen. Enderlin war damals durchs Glecktobel und über die Punkte 2039 m (Kamm) und 2178 m, die Churer von Malans an der Ruine Wyneck vorbei, dann über das Hocheck (Heuberg, Unter- und Oberälpli) und ebenfalls über Punkt 2178 m aufgestiegen. Erwähnen wir noch den Weg von Jenins an der Ruine Aspermont vorbei und über die Jeninser Alp Ortensee, sowie den von Fadera (westlich hinter Seewis) über die Maiensässe Canschiersch, Larnoz und Matär, so haben wir die Hauptwege bei einander.
Die Aussicht auf dem Vilan ist sehr schön, namentlich fesselt der Blick ins Prätigau und ins Rheinthal. Das erstere überschaut man in seiner ganzen Länge bis Klosters, das letztere von oberhalb Chur bis Sargans. Das Seezthal erscheint wie eine Fortsetzung des Rheinthals, was es ja einmal auch war. Als wir im Juni oben waren, fand in Chur gerade das kantonale Schützenfest statt, und wir hörten deutlich die 22 Kanonenschüsse, mit welchen die von Maienfeld herkommende Kantonalfahne begrüsst wurde. Auch die Gebirge ringsum präsentiren sich in schöner Gruppirung; in der Nähe die das Prätigau, Rheinthal und Seezthal einschliessenden, in der Ferne die mächtigen Massen der Silvretta- und Albulakette und über letztere hinaus in glänzender Firnenpracht die stolzen Häupter der Berninagruppe. Es ist doch ein weites Gebiet vom Säntis bis zum Bernina und von der Silvretta- bis zur Adulagruppe!
Den Abstieg nahmen wir über die Alp Ortensee, den Kamm und das Glecktobel nach Maienfeld. Bis zum Gleckkamm (2074 m) geht’s angenehm über mattengrüne Hochflächen, die sich sanft nach Osten abdachen, nach Westen zum Rheinthal aber in meist steilen und wildzerklüfteten Schieferwänden abbrechen. Am Gleckkamm machten wir einen längeren Halt, um den Blick in das liebliche Rheinthal und auf die schönen Alpen länger zu geniessen und die gewaltigen Wände des Gleckhorns, die in kühnen Formen und mit wunderbaren Schichtenverbiegungen sich vor uns aufthürmen, anzustaunen. Die Stelle fesselt auch durch ansprechende Bilder aus Geschichte und Sage. Dort unten liegt Stürvis, jetzt eine Alp, einst aber ein freundliches Bergdörfchen mit eigenem Kirchlein, dann im Anfang des 16. Jahrhunderts von seinen Bewohnern verlassen, die, der Abgeschiedenheit, der langen und strengen Winter und der weiten und beschwerlichen Wege überdrüssig, nach Maienfeld zogen und sich dort einbürgerten. Nach andern Berichten soll das Dörfchen zur Pestzeit ausgestorben sein. Hier aber in unserer unmittelbaren Nähe, zu oberst im Glecktobel, finden wir den Ellystein, dessen traurige Geschichte im Itinerar für 1890/91, Seite 16-17, nachzulesen ist. Wenige Schritte unter uns ist auch eine schöne Quelle, das Kalte Bad, „ist auch würklich ein kaltes Bad an einem Berg zu, under einem pochen Felsen, ist eine enge und nicht tiefe Grub, mit Wasser angefüllet. Dahin begeben sich jährlich von unterschiedlichen Orten her Leuth, die an der Sciatic laboriren oder das Hüft-Weh haben, sich darinnen zu baden, sie mögen aber keine wegen übernatürlicher Kälte eines Vaterunser lang darinnen erleiden, etwelchen hat es geholfen, etwelchen auch nicht”. (Sererhard, Einfalte Delineation). Im obern Theil des Glecktobels findet sich ein ziemlich grosses Gypslager, das man an der Farbe schon aus einiger Entfernung erkennt und das zeitweilig abgebaut wurde. Unterhalb desselben ist der Weg, der durch’s Tobel führt, durch eine grosse, von der linken Thalseite gekommene Rüfe auf eine längere Strecke verschüttet, dann aber ist er wieder gut und führt meist durch schönen Wald hinunter gegen die Luziensteig und nach Maienfeld. Wir kamen bald nach 4 ½ Uhr hier an und hatten, da der Zug nach Landquart und ins Prätigau erst um 6 Uhr abfuhr, noch ordentlich Zeit zu einem gemüthlichen Zusammensitzen mit dem gastlichen Führer Enderlin.
In Schiers aussteigend vernahmen wir die traurige Kunde von dem schweren Brandunglück, dem an diesem für uns so schönen Tag das schmucke Meiringen zum Opfer gefallen war. Auch wir hatten auf dem Vilan und auf dem Weg nach dem Glecktobel den Föhn gespürt. Aber wie ganz anders muss er in Meiringen aufgetreten sein! Wir empfanden ihn in der Höhe als einen mässig starken und kühlen Wind, in der Tiefe des Haslithals aber wüthete er als ein Verderben bringender Gluthwind!

Werfen wir zum Schluss einen kurzen Rückblick auf das Gebiet, dessen Begehung hier dargestellt wurde, so müssen wir sagen, dass das Falknisgebiet sich neben den andern Stücken des Rhätikon wohl sehen lassen darf. Tschingel, Naafkopf und vor Allem der Falknis gehören zu den schönsten Aussichtspunkten des Rhätikons und des Prätigaus und dürften darum weit mehr besucht werden, als dies thatsächlich geschieht. Dazu kommt die leichte Zugänglichkeit dieses Gebirgstheiles, die Möglichkeit, die Routen bei Auf- und Abstieg in der mannigfaltigsten Weise zu combiniren, und die geringen Schwierigkeiten und Gefahren, mit denen hier der Wanderer zu rechnen hat, was aber nicht ausschliesst, dass es auch Partien gibt, die hohe Anforderungen an Kraft und Ausdauer, an Schwindelfreiheit und Geschicklichkeit, an Muth und Vorsicht stellen. Von unternehmenden Bergsteigern und gewandten Kletterern könnte auch noch die Lösung neuer Aufgaben versucht werden, wie etwa der Aufstieg vom Jesfürkli auf den Naafkopf, der Uebergang vom Falknis auf die Grauspitzen und zum Jesfürkli mit möglichst geringer Abweichung vom Grat, endlich der Aufstieg von Maienfeld durch’s Glecktobel und über die Gleckwand hinauf direct zur Tiefen Furka und von da auf das Gleckhorn. Dieser letztere Aufstieg ist zwar vor Jahren einmal von einem Maienfelder Jäger gemacht worden, aber seitdem soll sich das Terrain verschlimmert haben, und es ist der Aufstieg nicht mehr versucht worden oder doch nie mehr gelungen. Dem Falknis wäre vielleicht auch von der Nordseite, von Lavena oder Mazoura, beizukommen, wenigstens gibt es dort einen „grünen Gang”, der von den Jägern benutzt wird und der weit hinaufführt. Auch der Hornspitz ist auf der Schweizerseite noch von keinem Touristen bestiegen worden, obwohl die Besteigung recht gut möglich wäre. Wer in die Gegend kommt, geht eben lieber und zwar mit Recht auf die Scesaplana, zur Ausnahme einmal auf den Tschingel, aber der im Hintergrund versteckte und in seinen wilden Formen nicht gerade einladende Hornspitz bleibt unbeachtet. Meine eigenen Absichten auf den Berg wurden bis jetzt mehrmals durch die Ungunst der Witterung vereitelt. Ich hoffe aber auch da: „Nit nahla gwinnt!”
(E. Imhof, Section Scesaplana)
(Quelle: SAC Jahrbuch 1891)

Schesaplana-Hütte(n)

Das neue Scesaplanahaus.
Sonntag, den 16. Juli dieses Jahres, wurde am Fuss der Scesaplana ein neues Berg-Gasthaus eingeweiht, das zugleich bestimmt ist, den Clubisten einen Ersatz zu bieten für die zerfallene Schamellahütte. Letztere war im Jahr 1882 von der Sektion Rhätia des S. A. C. in hoher und schöner Lage erbaut worden und hat seither den Scesaplana-Besteigern gute Dienste geleistet, da von ihr aus die stolze Königin des Rhätikon leicht in zwei Stunden auf mehr oder weniger gebahntem und markiertem Pfad zu erreichen war. Dass sie einem Bedürfnis entsprach, beweist der Umstand, dass sich in den letzten Jahren allsommerlich je etwa 300 Besucher eingeschrieben haben. Aber über der Hütte hat von Anfang an ein ungünstiger Stern gewaltet. Sie war schlecht oder gar nicht fundamentiert und ebenso schlecht gemauert, obwohl sie sich im fertigen Zustand von aussen ganz hübsch präsentierte. Schon nach einem Jahr zeigten sich Risse in den Mauern, die sich dann von Jahr zu Jahr vermehrten und vergrösserten, so dass häufige Reparaturen nötig wurden. Dem Übel konnte aber damit nicht auf die Dauer abgeholfen werden: die Mauern stellten sich schief, blähten sich auf, und die Risse erweiterten sich zu breiten Lücken, durch die man gelegentlich ein- und ausgehen konnte. Die Klagen über die Hütte nahmen trotz allen Reparaturen kein Ende: mündlich, schriftlich und durch die Presse wurden sie laut und immer lauter. Seit Jahren waren die näher Beteiligten von der Notwendigkeit eines Neubaues überzeugt, konnten aber einem solchen aus Mangel an Mitteln nicht auf die Beine helfen. Die junge Sektion Prättigau war dazu zu klein und finanziell zu schwach. Die Sektion Rhätia hatte die Hütte längst an den Gesamtverein des S. A. C. abgetreten und war durch anderweitige Aufgaben, insbesondere auch durch weitere Hüttenbauten zu sehr in Anspruch genommen, um sich wieder der Schamellahütte annehmen zu können. Andere Sektionen, die man ins Interesse zu ziehen suchte, lehnten die Übernahme aus verschiedenen Gründen ab. Die Centralkasse des S. A. C. endlich war seit Jahren so sehr geschwächt, dass die jeweiligen Central-Komitees den Neubau so lange wie möglich durch Reparaturen hinauszuschieben suchten.
Unterdessen reifte in einem Privatmann, Herrn Jost, Zimmermann und Führer von Seewis, der Plan, ein Berg-Gasthaus in schöner Lage am Fuss der Scesaplana zu bauen, etwa in der Art der Pension Sulzfluh in Partnun-St. Antönien. Herr Jost rechnete dabei auf die moralische und materielle Unterstützung des S. A. C., da sein Haus den Clubisten alle Vorteile einer bewirtschafteten Hütte bieten und den Verein von der Last des Neubaues befreien musste. Die etwas langen und mühsamen Verhandlungen haben endlich dazu geführt, dass das Central-Komitee des S. A. C. Herrn Jost eine Subvention von 1000 Fr. an sein Haus bewilligte und die völlig defekt gewordene Schamellahütte eingehen liess. Was von dieser Hütte und ihrem Inventar noch brauchbar war, wurde Herrn Jost für das neue Haus zur Verfügung gestellt. Dafür verpflichtete sich letzterer, das Haus nach einem vom Central-Komitee genehmigten Plan zu bauen und letzterem ein grösseres Zimmer mit Heulager zu reduziertem Preis einzuräumen. Auch Hüttenordnung und Lebensmittelpreise wurden den Wünschen des Central-Komitees gemäss eingerichtet. Ferner steht dem S. A. C. das Rückkaufsrecht an das Haus zu. Dagegen kann Herr Jost sich von seinen Verpflichtungen nicht loskaufen. – Diese Lösung der lange schwebenden Frage erschien als die unter den obwaltenden Verhältnissen günstigste und erhielt schliesslich die Zustimmung aller näher Beteiligten und Interessierten.
Nun steht das Haus fertig da. Es ist ein hübscher und stattlicher Bau, auf gut fundamentierten Grundmauern in Holz ausgeführt. … Kurz: es ist ein nettes, heimeliges Haus, das allen seinen Besuchern für kürzere oder längere Zeit ein trautes Heim werden wird.

Das Haus steht etwa in der Mitte zwischen der Alphütte von Fasons und der alten Schamellahütte in einer Höhe von 1900-1950 m. Es hat eine prächtige Lage inmitten einer grossartigen Gebirgslandschaft, aber doch in weitem Umkreis von blumenreichen, grünen Matten umgeben. Frische Wasser springen von den Felsen, in der Nähe winkt der Wald mit seinem Schatten, und Alpenrosen blühen überall. Dem Bergsteiger steht ein beträchtliches Exkursionsgebiet offen. … So ist denn wohl anzunehmen, dass das neue Haus ähnlich wie etwa die Pension Sulzfluh in Partnun sowohl von Touristen, als von Sommerfrischlern, Botanikern u. a. fleissig besucht und auch etwa zu längerem Aufenthalt gewählt werden, dass es sich zu einer «Pension Scesaplana» ausgestalten wird.
Die Einweihung fand unter ordentlicher Beteiligung von Clubisten und der nächstwohnenden Bevölkerung bei schönem Wetter statt. … Allgemein wurde dem Erbauer, der nun auch als trefflicher Wirt funktionierte, volles Lob gespendet für das schmucke und gut eingerichtete Haus, wie auch für seine Wirtschaft… .

Nicht ohne Wehmut haben wir Abschied genommen von den Trümmern der alten Schamellahütte, die uns trotz ihrer Mängel so oft ein gastliches Obdach gewährt hatte. Aber es ist ein Neues geworden. Mögen die daran geknüpften Hoffnungen sich erfüllen. Den Touristen und Sommerfrischlern aber rufen wir zu: Kommt und seht, es wird Euch gefallen. Glückauf dem neuen Scesaplanahaus! (Dr. Ed. Imhof)
(Quelle: Alpina 1899)

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Manchem Freunde der Scesaplana ist es vielleicht willkommen zu vernehmen, dass man auch jetzt noch, trotz der vorgerückten Jahreszeit, in der Scesaplanahütte recht gut aufgehoben ist. Herr Bergführer Jost befindet sich nämlich kaum eine Viertelstunde unter der Hütte auf Palus, wo er bis Ende Dezember sein Vieh besorgt. Er ist jederzeit bereit, einem Rufe in die Hütte zu folgen. Gerade gegenwärtig ist eine Scesaplanabesteigung noch ausserordentlich lohnend und, weil auf der Südseite der Neuschnee stark weggeschmolzen ist, gar nicht anstrengend. (Dr. L. Jecklin, Prättigau)
(Quelle: Alpina 1902)

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Der Berichterstatter des C. C., Centralhüttenwart Rau, skizziert die Geschichte dieser Hütte folgendermassen:
Im Jahre 1883 erstellte die Sektion Rhätia die sog. Schamellahütte. Vierzehn Jahre später war der S. A. C. vor die Notwendigkeit gestellt, an Stelle dieser baufällig gewordenen Hütte einen Neubau erstellen zu müssen. Es gelang mit Führer Jost einen Vertrag abzuschliessen, wonach Jost den Bau auf eigene Kosten erstellte und dem S. A. C. 15 Schafplätze zur Verfügung stellen musste, gegen eine Subvention des C. C. in Neuenburg von Fr. 1000. Die Aufsicht über diese Plätze wurde der Sektion Prättigau übertragen. Leider blieben die Einnahmen hinter den Erwartungen zurück und Führer Jost gelangte fast jährlich an die verschiedenen C. C. mit einer Bitte um einen Beitrag an seine Betriebsdefizite. Das C. C. Winterthur fasste den Beschluss, eine jährliche Subvention bis zur Fr. 200 zu verabfolgen. Die beiden schlechten Sommer 1912/13 und die beiden Kriegsjahre bewirkten, dass die finanzielle Lage von Jost unhaltbar wurde, sodass die Veräusserung des Objektes nicht mehr zu umgehen war. Das C. C. sah sich lange vergeblich nach einer kauflustigen Sektion um, bis sich endlich die kleine Sektion Pfannenstiel bereit erklärte, den Bau, der von Fachleuten auf Fr. 22,000 geschätzt wird und mit Mobiliar und Zubehör einen Wert von Fr. 28,400 repräsentiert, für Fr. 18,000 und mit einer Subvention von 50%, im Maximum Fr. 9000, der Centralkasse zu erwerben. – Die Gefahr, diese Hütte in fremde, sogar ausländische Hände übergehen zu sehen lag nahe; der wackeren Sektion Pfannenstiel gebührt der Dank des Gesamtclubs. Der Berichterstatter empfiehlt warm die Bewilligung der verlangten Subvention.
In der Abstimmung werden der Sektion Pfannenstiel einstimmig die gewünschten Fr. 9000 bewilligt.

(Quelle: Alpina 1916)

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Sektion Pfannenstiel. Hüttenweihe.
… Die Sektion Pfannenstiel ergreift nun mit heute Patronatsitz der schönen Schirmhütte am Fusse der Scesaplana. Sie übergibt aber zugleich das wohleingerichtete Haus dem gesamten S. A. C. Dankesworte an den bisherigen Besitzer, Führer Jost, an das C. C. für die Subvention, an den Spender des ersten grossen Beitrages schliessen die begeisterte Ansprache. … Im Jahre 1883 fasste hier oben der S. A. C. Vorposten, indem die Schamellahütte erstand. In den 90er Jahren kam aber ihr Verfall und Führer Jost erstellte die neue Scesaplanahütte. Heute steht ihr Besitzer an der Schwelle des Alters, er sehnt sich nach Ruhe. Gerne tritt er sein schönes, sorglich gepflegtes Besitztum an die Sektion ab. Wohl presst ihm die Wehmut des Abschiedes die Träne ins Auge. Doch er weiss, dass das, was er so lange gehütet, in gute Hände übergeben worden ist. …
(Quelle: Alpina 1916)

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Während bei unsern grossen Schwesternvereinen einige der schönsten Klubhütten dem Kriege zum Opfer fielen, waren wir in der beneidenswerten Lage, folgende Neu-Einweihungen vorzunehmen:
… Die Scesaplanahütte der Sektion Pfannenstiel an der Scesaplana mit 50 Schlafplätzen, Totalkosten Fr. 22,300, Subvention der Zentralkasse Fr. 9000.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1916)

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… Die Hütte, sein ((Andreas Jost)) Berghaus selbst, war ihm sein Herzens- und Schmerzenskind. Mit schweren Sorgen hatte er zu kämpfen, als im Sommer 1913 die Viehseuche und endloser Regen, und 1914, 1915 und 1916 der Krieg den Touristenverkehr zu ihm hinauf sperrte und so seine Herberge leer stehen blieb. … Im Sommer 1916 fand die Uebergabe der Hütte an die Sektion Pfannenstiel statt. Obwohl tränengefüllten Auges Andreas Jost den Festakt mitmachte, wurde es ihm doch leichter ums Herz, … blieb er bis zu seinem Hinschiede der getreue Hüttenwart der Sektion, stets der gleiche freundliche Herbergsvater und verwaltete sein einstiges Sorgenkind redlich und fürsorglich wie sein Eigentum. …
(Quelle: Alpina 1919)

Der Drei-Schwestern Berg bei Frastanz

… Diese Drei Schwestern, – sie müssen ihrer Lage nach eine herrliche Aussicht darbieten, und sie sind auch so nahe, ihre Vorstufen reichen ja fast bis ins «Städtle» ((Feldkirch)) selbst herab, und doch, diese schöne Spitze, wie wenige Vorarlberger, ja sogar wie wenige Feldkircher Bergfreunde waren schon da droben? Hat doch erst vor zwei Jahren (1870) ein Feldkircher Herr, freilich kein eigentlicher Alpen-Besteiger, aber doch ein rechter Mann, der noch dazu als Jäger gar oft ins Saminathal geht, mir im Wirthshause zum Kreuz in Frastanz seine Verwunderung ausgedrückt, als ich behauptete, eben gerade von da herabgekommen zu sein: «Ja, kommt man denn da hinauf?»
Die Drei-Schwesternspitze sieht eben – oberflächlich und aus der Ferne betrachtet – nicht gerade so aus, wie zu einem Spaziergange geeignet. Sie ist eine eigentliche Felsenburg, schroff und nackt: keine Schneekehle, kein Rasenband führt zur Spitze hinan, ringsumher sind nur kahle graue Abstürze. So schaut’s aus. Und doch geht’s, wie bei so mancher anderen Bergspitze, ganz leicht und gut, wenn man nur weiss wo, und dieses wo hat mich eben damals vor zwei Jahren der alte Gemsjäger Wieser in Frastanz gelehrt, an den – wenn anders sich sein jetziges leider langwieriges Fussleiden bessert, – ein Jeder sich wenden mag, der mit wenig Mühe eine lohnende Bergfahrt und eine schöne Aussicht geniessen will.

Ich war im vorletzten Sommer zwei Mal auf der Drei-Schwesternspitze: das erste Mal lernte ich den Weg, das zweite Mal die Aussicht kennen.

Am 10. Juni (1870) fuhr ich bei anscheinend schönstem Wetter Abends über Nenzing nach Frastanz, kam erst ziemlich spät Nachts an, und bestellte mir den erwähnten Wieser, mit dem ich früher schon über die Partie gesprochen hatte, auf den folgenden Morgen. Im Wirthshause weckte man mich aber, trotz meines bestimmten Auftrages, nicht zu rechter Zeit, und so kam es, dass ich (durch einen Marsch ins Gamperton am vorhergehenden Tage ohnedem etwas ermüdet) den Schlaf, den man sonst den des Gerechten nennt, bis beinahe 5 Uhr Morgens schlief. 5 ½ Uhr brachen wir endlich auf und kamen erst nach 12 Uhr Mittags auf die Spitze, nachdem wir die letzten Stunden fast unausgesetzt durch Regen und Nebel gewandert waren. Nur der genauen Ortskenntniss meines Führer war es zu verdanken, dass wir überhaupt hinauf kamen: von Orientirung meinerseits, Aussicht oder dergleichen keine Rede! Den Abstieg bewerkstelligten wir nach Schaan im Lichtensteinischen; besser wäre Nendlen gewesen, was ich meinen etwaigen Nachfolgern zu Nutze bemerken will: das heisst, bei Nendlen ist man schneller drunten, nach Schaan hat man bessern Weg.

Am 25. desselben Monats machte ich den Gang wieder, diesmal ohne Führer, in Begleitung desselben Freundes, der schon mehrmals … meine vorarlbergischen Bergpartien mitgemacht hat. Diesmal machten wir’s anders. Schon vor 7 Uhr Abends (am 22.) waren wir in Frastanz, und stiegen noch denselben Tag bis zur Alpe Amerlug hinauf, wo wir zwar die freundlichste Aufnahme, aber auf den Stubenbänken der Sennhütte, – denn Heu war keines da, – eine nur allzuschmale und harte Nachtlagerstätte fanden. Schon um 3 Uhr Morgens waren wir darum auch wieder unterwegs und kamen trotz mehrfachem Aufenthalte 6 Uhr 20 Min. auf die Spitze, wo sich das herrliche Panorama ungetrübt vor uns ausbreitete.
Wir genossen dasselbe denn auch in vollen Zügen, indem wir uns, durch Karten, Compass und einen grossen mitgeschleppten Tubus unterstützt, volle zwei Stunden lang demselben hingaben.
Doch genug der Vorrede: wandern wir in Gedanken hinauf.
Hart neben derjenigen Saminabrücke, welche in Frastanz die alte Landstrasse über den Wildbach führt, zieht sich unser Weg an der linken Thalseite hinauf: ein guter, breiter Holzweg, meist sehr steil, theilweise durch schönen Tannen- und Buchenwald sich schlängelnd. Beim Emporsteigen eröffnet sich uns rückwärts allmählich eine immer weitere Aussicht in den grünen von der Ill durchströmten Walgau: …
In ¾ Stunden erreichen wir Amerlügen, eine zu Frastanz gehörende Gemeinde-Parzelle, eine malerische Gruppe braunhölzerner zerstreuter schon ganz alpenmässig aussehender Bauernhäuser, von den saftigsten Wiesen umgeben, dazwischen die letzten Obstbäume.
Bis hieher führt, wie gesagt, ein steiler Holzweg, auf dem zur Noth auch gefahren werden könnte. Nun aber folgt ein noch viel steilerer, trotzdem in seiner Art vortrefflicher Weg, ein Fussweg eigentlich, der übrigens auch noch zum Reiten gut genug wäre, und der sich wohl eine Stunde lang zwischen steilabfallenden grünen Matten und durch kleine Wäldchen bis zur Alpe Amerlug emporzieht.
Diese liegt auf einer runden gründen Rasenkuppe, die vom Sarüjaberg (auf der Generalstabskarte wohl irrthümlich Rojaberg genannt) nördlich vorgeschoben, die nordöstlichst vorspringende Ecke des Rhätikon bildet. Es ist dies – im Kleinen – ein vorzüglicher Aussichtspunkt. Wer auch nicht auf die Drei-Schwesternspitze selbst gehen will, der scheue die geringe Mühe nicht, wenigstens nach Amerlug hinaufzusteigen, (er kann es von Feldkirch aus auf viel kürzerem, als dem eben beschriebenen Wege, über Maria-Ebene nach Amerlügen,) und sehe sich mal da an einem klaren Sommertage den Sonnenaufgang an. Er muss freilich sehr frühe gehen, aber dafür kann er um 8 Uhr Morgens wieder zurück sein, und er wird um ein herrliches Naturbild, um eine unvergessliche Erinnerung reicher sein. Am schönsten freilich ist die Aussicht vom Kreuze aus, eine halbe Stunde weiter oben, aber es thut’s auch am ersten Grate, wo’s nach Fällengatter abstürzt, ein Paar hundert Schritte nördlich von den Sennhütten.
Natürlich ist da kein grossartiges Hochgebirgs-Panorama, aber doch ein köstliches Stück Alpenlandschaft sind da: Städte und Dörfer, Flüsse und Ebene, Wälder, Schluchten, Felsen, Alpenmatten und Bergesspitzen. …
Wir haben also in der Alpe Amerlug herzlich schlecht geschlafen, und sind schon, wie gesagt, um 3 Uhr Morgens wieder marschfertig.
Schwacher zauberischer Mondschein liegt über den Alpweiden ausgebreitet. Zuerst geht’s pfadlos über den wenig ansteigenden thaufeuchten Grasboden. Wie es heller wird, sehen wir, dass sich die Aussicht sowohl ins Ill- als ins Rheinthal vermindert, während sich dagegen das gerade vor uns liegende felsig-waldige Saminathal allmählich in allen seinen sonst tiefverschlossenen Theilen eröffnet.
Stellenweise kommen wir durch mächtigen Tannenwald, überall ist der Weg, wenn auch rauh, doch deutlich und unverkennbar. Bis zur Frastanzer Oberalpe Sarüja brauchen wir eine Stunde, und es ist unterdessen heller Tag geworden. … Nachdem wir die Hütte passirt haben, kommen wir an die Brunnentröge; eine köstliche, reichlich sprudelnde, auf unserm heutigen Marsche fast die einzige Quelle entspringt da, wenige Schritte oberhalb des Weges. Nun zieht sich dieser, immer etwas ansteigend, links um den östlichen Fuss des Drei-Schwesternberges selbst. Nach einer halben Stunde kommen wir plötzlich bei einer Wendung des Weges in ein ödes zerrissenes Felsgebirge hinein: da sind kahle Dolomitschrofen, steile steinige Bergrunsen, Legföhren und, wenn wir’s glücklich treffen, auch Gemsen. Darauf wieder eine Vertiefung, und dann nochmals hinauf, auf rauhem steinigen Pfade zu einem kleinen sanftansteigenden braun-grünlichem Bergkessel, zu der Alpe oder vielmehr zu dem Aelpchen Gersella. Es mag wohl ein kräftiges Gras da oben wachsen, aber jedenfalls ist dessen nur wenig. Eine Hütte ist da, ganz neu erbaut, in welcher ich bei meinem ersten Besuche mit meinem Führer Wieser während bösen Unwetters mehr als eine Stunde zubrachte, aber weder Bach noch Quelle ist dort, sondern nur ein paar schlechtgemauerte unterirdische Cisternen, die das spärliche Regen- und Schneeschmelz-Wasser aufsammeln sollen, gewiss in unsern sonst so wasserreichen vorarlbergischen Alpen etwas fast Unerhörtes!
Bis hieher haben wir uns, freilich in bedeutender Höhe über demselben, im Allgemeinen dem Laufe des Samina-Baches gemäss in südwestlicher Richtung gehalten. Der kleine Alpboden von Gersella aber erstreckt sich west-östlich, ist also ein Seitenthälchen, und zwar ein links einmündendes, der Samina-Schlucht, und wir biegen hier darum auch von unserer bisherigen Richtung nach Westen ab. Doch nur eine kurze Strecke weit, denn eben hier wird zur Drei-Schwesternspitze aufgestiegen, deren östlichen Fuss wir umgangen haben, und deren höchsten Punkt wir – fast genau im Norden – direct über uns erblicken.
Bis hieher kann ein Jeder gehen: von hier an aber möge es ein Jeder wenigstens versuchen, denn Gefahr ist nicht dabei. Wenn er Zeit genug hat, so kommt er schon hinauf, sonst aber möge er sich das erste Mal führen lassen: wenn er erst nur einmal das rechte Felsenloch weiss, dann kann es nimmer fehlen, andernfalls fehlts – beim ersten Anlauf wenigstens – ganz gewiss! Es war schon mancher in Gersella, der nicht geglaubt, dass man auf den «Kopf» kommen könne: sie haben es nur nicht ernstlich versucht, weil es auf den ersten Blick abschreckend aussah.
Von der Gerseller Hütte aus geht’s noch einige Minuten lang in westlicher Richtung sanft ansteigend durch die Thalmulde empor, dem Sattel zwischen den «Drei-Schwestern» (rechts) und dem «Gersella Kopf» (links) entgegen. Dann wenden wir uns scharf nach rechts, und steigen über Legföhren und Steingerölle, bis zum Fusse einer steilen Felsenschlucht, deren sich auf dieser Seite zwei oder drei von dem südlichsten (höchsten) der Drei-Schwestern-Köpfe herabziehen. Durch diese Felsenrunse ohne besondere Schwierigkeit emporkletternd, und darauf noch einige zwar steile aber ungefährliche «Schrofen-Ecken» übersteigend, gelangen wir in kaum ¾ Stunden von der Gerseller Alphütte auf die Spitze, die, obgleich stark zerklüftet und fast allseitig senkrecht abstürzend, dennoch für mehrere Personen hinlänglich Raum darbietet. …
(Von J. Sh. Douglass in Thüringen)
(Quelle: ZDOAV 1873)

Dreischwestern: Interessante Anreise, verpasste Rückreise, 1873

Am Charfreitag auf den 3 Schwestern.
Nachdem es mir vergönnt war, schon am Sonntag, den 30. März des Jahres bei herrlichstem Wetter … das Appenzeller Bergespaar des Hohekasten zu besteigen, reifte bei meinem Freunde der Entschluss, den mit ihren schneebedeckten Häuptern uns freundlich zuwinkenden 3 Schwestern im Fürstenthum Lichtenstein demnächst einen Besuch abzustatten. Freudigst wurde dieser Vorschlag von meiner Seite angenommen, und – horribile dictu – der kommende Charfreitag zur Verwirklichung des Projektes ausersehen. Zwar gingen für unser Vorhaben keine günstigen Auspizien voraus, denn in der ersten Hälfte der Charwoche regnete es täglich, so dass wir befürchteten, unsere Partie möchte am Ende auch noch zu Wasser werden, da trat am Donnerstag zu unserer grossen Freude eine Wendung zum Bessern ein, und so erwarteten wir guten Muthes den kommenden Morgen, um uns mit dem ersten Zuge (von St. Gallen aus) nach Sevelen, im romantischen Rheinthale bringen zu lassen. Wie gross war aber unsere Enttäuschung, als wir erwachten und statt dem gehofften schönen Wetter, den Himmel auf’s schwerste mit Wolken beladen erblickten, dessen Ueberfracht sich jederzeit niederzustürzen drohte. Dessenungeachtet liessen wir uns unsere liebgewonnene Idee nicht rauben, und es wurde an die Ausführung derselben geschritten, mit kindlicher Gewissheit noch gutes Wetter erwartend. Doch bittere Enttäuschung folgte auf dem Fusse. Kaum sind wir einige Stationen weit gefahren, als auch schon Jupiter Pluvius seine Schleussen öffnete und ein unliebsames Nass auf uns Erdenbewohner hernieder sandte. Jetzt schwand selbst uns alle gute Hoffnung, und verstimmt über unser Pech zogen wir uns mit langen Gesichtern in unsere Wagenecken zurück. Das sonst so herrliche Rheinthal hatte heute, in dem einförmigen Grau, welches die plötzliche Modefarbe der Natur geworden war, nichts anzügliches für uns. Wir flogen so wieder einige Stationen dahin, als wir die wieder einen Schimmer von Hoffnung in uns erweckende Wahrnehmung machten, dass das Regnen aufgehört habe. Schnell wurden von meinem Freunde 2 Blättchen Papier gewickelt, ein langes – gutes Wetter und Dreischwesternbesteigung – und ein kurzes – noch mehr Regen und ein Gang auf die eidgenössische Festung Luziensteig – und mir zum Ziehen hingehalten. Mit klopfendem Herzen zog ich, und zog – das Lange. Mit diesem Zug war selbstverständlich aller Zweifel bei uns beseitigt, der Schimmer war zum Schein, die Hoffnung zur Gewissheit geworden: es musste schönes Wetter geben.

Wieder sind wir um einige Stationen weiter südlich vorgerückt, als wir durch den Ruf des Kondukteurs: Sevelen, aussteigen! aus unsern Träumereien aufgeweckt wurden. Schnell springen wir heraus, und siehe da, kaum wandern wir im Anblick der immer noch verschlossen und finster vor uns gelegenen 3 Schwestern einige Schritte dahin, als die jüngste derselben, unsern Besuch errathend, anfing sich ihres finstern Gewandes zu entledigen, um uns einen anständigen Empfang zu bereiten. Beschämt über diese jugendliche Galanterie hinkten die beiden älteren, nach der Theorie des Krähwinkler Landsturmes, langsam nach, desgleichen zu thun, doch hatte sich die junge Freundin vor allen Dingen unsere Sympathie erworben, und so entschlossen wir uns, obgleich sie von unten aus am allerunzugänglichsten scheint, ihr durch unser Erscheinen zu beweisen, dass wir sie verstanden hätten. Unterdessen sind wir an der neuen Rheinbrücke angelangt, wir passiren dieselbe und gelangen ans jenseitige Ufer des hier für gewöhnlich so unruhigen Flusses, ins Lichtensteinische. Ein österreichischer Zollbeamter empfängt uns, und fragt uns nach zollbaren Gegenständen. Doch fällt es ihm sichtbar schwer, unserer bestimmt ausgesprochenen Verneinung lediglich auf unsere guten Gesichter hin Glauben zu schenken.
Nun, wir beachten die neugierigen Blicke, welche er auf unsere Botanisirbüchsen wirft, wenig, und marschieren weiter. An derselben Zoll-Stelle soll, wie mir mitgetheilt wurde – vielleicht auch derselbe Zollbeamte – einmal arg mitgenommen worden sein. Ein Schweizer Tourist, der schon öfters sich von ihm in seiner Botanisirkapsel hatte herum arbeiten lassen müssen, beschloss, ihm bei seiner nächsten Tour einen Possen zu spielen. Zu diesem Zwecke sammelte er Brennesseln in seine Büchse, unter welche er einen beliebigen Stein versteckte. «Nichts Zollbares?» «Nein!» «Aber die Büchse da, bitte wollen Sie einmal zeigen.» Gehorsam öffnet unser kluger Unbekannter den corpus delictus, und siehe da: Austria’s diensteifriger Sohn entdeckt unter dem Kraute versteckt, etwas Verdächtiges. Hastig fuhr er mit beiden Händen, seines Triumphes schon gewiss, nach dem Versteckten, als er vor Schreck einen lauten Schrei von sich stiess: er war verbrannt. – Das Zollwesen soll überhaupt hier, seit Oesterreich es in Händen hat, als Revanche für die früher häufig vorgekommenen Schmuggeleien äusserst streng kontrollirt werden. Schweizerseits ist man honoriger.

Jetzt sind wir eingetreten in den Hauptflecken des kleinsten der ehemaligen 32 souveränen deutschen Bundesstaaten. Vaduz (vallis dulcis) bietet mit Ausnahme der schönen neuen Kirche nichts des Interessanten, wir verlassen es deshalb alsbald, um dem auf schroff abfallenden Felsen über dem Dorfe haftenden Schloss Lichtenstein noch einen Besuch abzustatten. Der Weg führt bequem durch einen schönen Tannenwald hinauf. Das Schloss, welches zum grössten Theile Ruine ist, war, wie auch das Ländchen im 14. und 15. Jahrhundert, Eigenthum des Grafen von Werdenberg-Sargans und wechselte dann noch mehrmals seinen Besitzer, bis es mit dem Ländchen am Ende des 17. Jahrhundert durch Kauf an die Fürsten von Lichtenstein kam. Der sehr reiche Fürst residirt in Wien und besucht nur hin und wieder sein getreues Land, welches, wie ich glaube, auch ganz ohne ihn existiren könne. Lange jedoch können wir uns in diesen historischen Mauern nicht aufhalten, wenn wir noch an unser heutiges Ziel kommen wollen, und so schicken wir uns denn, ohne die uns sehr gelobt gewordene Schloss-Wirthschaft näher zu inspiziren, zur Weiterreise an.

Es war ½ 10 Uhr; der Himmel wurde immer heiterer. Ein kräftiger Nordost wehte und beseitigte alle Regengefahr. Vom Schloss aus führt ein in südlicher Richtung sanft ansteigender Pfad, den wir verfolgten, das Gebirg entlang. Der Weg ist äusserst abwechslungsvoll. Ein grosser, schöner Tannenwald, in welchem Finken lustig pfiffen, mit üppig wuchernder Vegetation, übersäet mit Primeln, Windröschen und Vergissmeinnicht, nimmt uns auf. Auch die, ihr weisses Köpfchen stolz emporstreckende Margarita bellidiastrum und die nacktstenglige Kugelblume (Globularia nudicaulis), deren schöne blauen Blumen so leicht verwelken, fanden wir hier schon blühend. An einem kleinen Teiche, mit lieblicher Fontaine, sowie an verschiedenen von den Felsen sich herabstürzenden kleinen Bergesgewässern vorbei verliert sich der Wald allmälig. Der Weg, immer noch südöstlich ansteigend, wird steiler, bis wir in das über 3000’ hoch, sehr zerstreut gelegene Alpdorf Triesenberg kommen, dessen fromme Bewohner eben in corpore, geführt von ihrem Seelenhirten, auf den Kirchhof marschieren, wo wie an diesem Tage üblich, eine Prozession vor sich gehen soll. Wir folgen der im Zickzack über das Gebirge führenden und gut angelegten Alpstrasse, abwechselnd die saftig grünen, mit lieblichen Safranblumen (Crocus vernus) und tief azurblauen Frühlingsenzianen (Gentiana verna) bestreuten Bergwiesen durchstreifend. In einer der vielen, von denjenigen der gegenüberliegenden St. Galler und Appenzeller Berge ziemlich verschiedenen (noch einfacher, primitiver) Sennhütte hörten wir von Weitem Schellengeläute. Neugierig gingen wir auf dieselbe zu, doch fanden wir sie von allen Seiten verschlosssen. Auch unser ziemlich unleises Anpochen war vergeblich. Vermuthlich machte der Senn auch den Kirchhofsgang im Dorfe mit. Durch eine Ritze der Thüre war es uns möglich, in die Hütte zu schauen, wobei sich unsern Augen ein eigenthümlicher Anblick bot. Das ganze der Reihe nach dastehende Vieh war mit den Schwänzen an eine an der Decke befestigte Stange gebunden, so dass es aussah, als wären die armen Kühe an diese Stange aufgehängt. Uns war diese Brutalität, welche es dem Vieh unmöglich machte, sich dieses so nothwendigen Gliedes zu bedienen, unerklärlich, besonders da doch eben keine Melkzeit war. Gerne hätten wir den Senn um Auskunft darum gebeten, doch war uns dies nicht möglich.

Wir wandern wieder auf unserer Alpenstrasse rüstig bergauf und kommen aus dem seitherigen kalkartigen Gestein (Numulitengebilde) plötzlich in eine von steter Erosion heimgesuchte Schieferschichte (Flyschgebilde), durch welche uns ein Tunnel auf die andere Seite des Berges führt. Hier verlassen wir unsere Strasse und wenden uns nach Norden, dem steilen Grate zu. … gelangen wir auf dem, kaum einige Fuss breiten, stark zerklüfteten Felsenkamme an, den es nun vorsichtig, bis zur höchsten Spitze zu erklettern gilt. Behutsam folge ich meinem des Steigens kundigen Freunde, und so kommen wir denn ohne Unfall und ohne grosse Ermüdung um halb 2 Uhr oben an. Eine grossartige Alpensicht entfaltet sich hier vor unseren Augen. Entzückt von dem stolzen Bergeskranze, der uns umgibt, werden wir hier in dem erhabenen Tempel der Natur feierlicher gestimmt, als wenn wir die salbungsvollste Predigt von der Kanzel angehört hätten. Doch das trunkene Auge sucht sich zu orientiren und so nehmen wir Blatt II der Generalkarte der Schweiz zur Hand, um uns aus dem Labyrinth von Bergen einen Ausgang zu verschaffen. Vor allem ist es der in südöstlicher Richtung uns gerade vis-à-vis liegende, wild zerrissene Falknis mit äusserstem Ausläufer (gegen das Rheinthal) dem Würznerhorn, welcher unsere Aufmerksamkeit im höchsten Grade auf sich zieht. Wuchtige Schneefelder bedecken den verzackten Gesellen, dessen östliche Ausläufer zur herrlich beleuchteten Scesaplana-Kette führen, deren Gletscherwände wir mit blossem Auge deutlich von den immensen Schneebezirken unterscheiden können. Mehr nach Süden gewendet begegnen wir einer langen Kette rhätischer Bergesriesen, worunter Calanda und Monte Luna besonders hervortreten. Westlich schliessen sich dem Calanda die Berge des St. Galler Oberlandes, mit ihrem wundervollen Oberhaupte, dem Piz Sol, dem Gonzen, der Alviergruppe, dem Faulfirst und sogar die Churfirsten treten schön hell hervor, während auffallender Weise die mehr nach Norden gelegenen St. Galler und die Appenzeller Berge bis über die Ohren in Nebel eingehüllt sind. Oestlich haben wir den schroff abfallenden August Berg, den Mattler- und Gallinakopf gerade vor uns, welche mit den 3 Schwestern das fast schluchtartige, nur nach Süden etwas erweiterte Saminathal bilden, durch welches brausend der bei Frastenz in die Arme des Ill fliessende Saminabach eilt. Nach Norden ist uns der Blick in die Vorarlberger- und bayerischen Alpen durch die vorstehenden beiden andern Spitzen der Schwesterndrillinge geraubt (wir hätten diese gerne auch noch erklettert, doch erlaubte uns dies unsere Zeit nicht mehr), doch sind wir mit dem uns gebotenen mehr als zufrieden. Zu unserer physischen Kräftigung vertilgen wir den mitgebrachten Proviant, einen Schluck feurigen Veltliners dazwischen nehmend. Geistig und körperlich gekräftigt nahmen wir Abschied von unserer liebenswürdigen Gastgeberin, um noch rechtzeitig zu dem letzten nach St. Gallen gehenden Zuge anzukommen.
Um ¾ 6 Uhr sind wir wieder in Vaduz, und so schlendern wir gemüthlich nach der ½ Stunde entfernten Station Sevelen zu. Als wir so ungefähr die Hälfte des Weges gegangen sind, sehen wir plötzlich einen schwarzen Punkt das Thal herunterkommen. Das kann doch unser Zug noch nicht sein, sagten wir uns sorglos. Doch siehe da: der schwarze Punkt kommt näher, wird erkennbar für uns: es ist der Zug. Jetzt galt es zu rennen, um nicht zu spät zu kommen. Mit rasender Geschwindigkeit eilt das Dampfross daher. Schon ist es am Ziele und wir sind noch 5 Minuten entfernt. Krampfhafte Anstrengung unsererseits. Noch eine Minute und wir sind geborgen. Da! ein Pfiff! und der Zug setzt sich in Bewegung. Ja aber ums Himmelswillen, wie ist dies möglich, wir müssen heute noch in St. Gallen eintreffen. Der Zug muss uns ja mitnehmen. O Gott! da eilt er schon in vollem Laufe davon; er ist verfehlt! Unsere Lage war entsetzlich, wir wurden beide noch diesen Abend sicher zu Hause erwartet. Was thun? sprach Zeus. Wir laufen nach Haus, wir müssen. Dies war unser gefasster Entschluss. Tapfer geht es auf Schustersrappen, mit unsern verfallenen Retourbillets in der Tasche vorwärts. Wir mögen ungefähr ¼ Stunde lang, schweigend neben einander her geschritten sein, als uns ein Stein entgegen leuchtet, auf welchem gross und deutlich geschrieben stand: Nach St. Gallen 18 Stunden. Heiliger Mermillod! Wie dieser Stein uns durch die Glieder fuhr! Jetzt erst sahen wir ein, wie wahnwitzig unsere Idee war; es blieb uns nichts anderes übrig, als nach Buchs, der nächsten Station, zu gehen und dort, komme was da wolle, zu übernachten. Unser Nichterscheinen konnten wir noch telegraphisch anmelden. Andern Morgens fuhren wir bei lebhaftem Regenwetter unserm Ziele entgegen.

(Von Otto Moog, Pharmaceut)
(Quelle: Alpenpost 1873)

Ein Pfarrer und drei imposante liechtensteinische Damen, 1895

Ins Fürstentum Liechtenstein. Von den drei Schwestern bis zum Falknis.
Die Reisesaison hatte begonnen, die letzten schönen Tage des Juni boten nach langer unbeständiger Witterung endlich Gelegenheit zu erwünschten Ausflügen, und Touristen und Clubisten packten freudig ihr Bündel und flogen nach allen Richtungen ins Land hinaus. Diesmal wendeten wir uns – es sind die beiden bergesfrohen Pfarrer des zürcherischen Oberlandes – nach dem Rheintal, um dort die Schweizergrenze zu überschreiten; denn es gelüstete uns, einem der kleinsten Reiche der Erde, dem souveränen Fürstentum Liechtenstein, mit cirka 9000 Einwohnern insgesamt, einen Besuch abzustatten und ein Stück seiner Alpen- und Gebirgswelt kennen zu lernen. Unsere Schweiz ist freilich überreich an prächtigen Partien in der Ebene und auf den Höhen, so dass die Auswahl von lohnenden Touren manchmal recht schwierig ist; aber zur Abwechslung ist es angenehm, wie auch zweckmässig, gelegentlich nichtschweizerisches Gebiet ebenfalls zu berücksichtigen; denn auch in des Nachbars Garten wachsen schöne Rosen. Und wenn es gestattet ist, diesen zu betreten und allerlei Freuden und Genüsse dort zu finden, weshalb sollten wir ihm fern bleiben, um so mehr, wenn er so bald erreicht ist? Wer des Morgens Zürich verlässt und über Sargans fährt, befindet sich um halb 11 Uhr bereits in Vaduz, der schlossgekrönten Metropole des kleinen Staates, oder auch in Schaan, eine halbe Stunde von Buchs entfernt, und von beiden Orten geht’s alsbald auf den verschiedensten Wegen empor zu mattengrünen, häusergeschmückten und aussichtsreichen Alpterrassen, Felskämmen und Berggipfeln bis zur Höhe von 2124 m. Mit Ausnahme des ebenen Rheinthales ist nämlich das ganze fürstliche Ländchen gebirgig, indem es von zwei Ausläufern der Rhätikonkette, die durch das enge und waldige Saminathal voneinander getrennt sind, durchzogen wird. Da fehlt es nicht an fruchtbaren, blumigen Matten, schattigen Wäldern und lohnenden Aussichtspunkten und damit dann auch nicht an Gelegenheit zu grössern oder kleinern Spaziergängen und Ausflügen. Wenn ich an Erholungssuchende und Sommerfrischler denke, die einen Aufenthalt in der Höhe wünschen, mit einem einfachen, billigen Kurhäuschen zufrieden wären und gerne auch einmal in weniger bekannter Landschaft für einige Zeit ihr Zelt aufschlagen möchten, ohne deshalb allzu weit von der schweizerischen Heimstätte entfernt zu sein, so würde ich ihnen drei solcher bescheidenen, aber idyllischen Kurstätten nennen: Das unterste, aber gute und billige, das Gasthaus zur Samina auf Rothenboden, zur Gemeinde Triesenberg gehörend, 1000 m. ü. M., oberhalb des Schlosses Vaduz, von Vaduz selbst 1 ½ Stunden entfernt, weit höher in östlicher Richtung von Rothenboden das Kurhäuschen Gaflei (1500 m), 3 Stunden von Vaduz, am Fusse der Gipsbergspitze (1999 m), auf fast ebener Bergmatte, von Lärchen- und Föhrenwald umgeben und mit charmantem Blick in die nahen, wildromantischen Felsengehänge des Gipsberges, hinab ins Rheinthal mit seinem breiten Strom, den weiten Flächen und den zahlreichen Dörfern und hinüber zur Säntis- und Alvierkette, und drittens das Kurhaus Sücca (1450 m), 8 km oder ebenfalls ca. 3 Stunden von Vaduz entfernt, bereits drüben im Saminathal gelegen, so dass der Blick auf die Schweizerseite verdeckt ist, dafür aber das Saminathal mit seinem hochalpinen Charakter, seinen Triften, Wäldern, Schluchten und Bergen sich völlig erschliesst. In diesen Gasthäusern beträgt die Pension, alles in allem, auch Zimmer und Nachmittagskaffee inbegriffen, 1 Gulden 60 Kreuzer bis 2 Gulden, also 4-5 Fr. Überhaupt fanden wir, dass die Preisansätze in Wirtschaften, bei Führern und Trägern etc. bedeutend niedriger waren denn bei uns, so dass man im Liechtensteinischen als Tourist und Clubist billiger lebt und reist, denn gewöhnlich im Schweizerischen. Wenn im übrigen die Sitten, die Sprache und Lebensart der fürstlichen Unterthanen nicht sehr verschieden sind von denjenigen der Rheinthaler, so sind doch bemerkenswerte Unterschiede da. Überaus freundlich und gefällig sind die Leute, oft von feinen, schönen Gesichtszügen oder einem originellen Typus. Mit Ehrfurcht reden sie von ihrem Landesfürsten, der, als einer der reichsten Potentaten Europas, sehr viel zum Wohle des Ländchens thut, so dass die Bürger keineswegs von grossen Steuern gedrückt werden. Dabei ist die Bevölkerung streng katholisch, so dass der Ultramontanismus dort eine kleine, aber feste Hochburg besitzt. Der einheimische Wein aber, Vaduzer oder Gutenberger, ist ausgezeichnet und mundet auch dem Züribieter vortrefflich; das Schweizergeld kursiert im ganzen Ländchen.

Von den Berggipfeln nun des westlichen, dem Rheinthal zugewendeten Gebirgszuges sind am bekanntesten die Drei Schwestern (2108 m), die charakteristischen drei Felsentürme, die weithin das Rheinthal beherrschen. Von der Schweizerseite aus betrachtet, begreift man nicht recht, warum sie ihren Namen erhalten haben; vom Saminathal aus, besonders den obern Partien, gleichen sie in der That drei liebeerfüllten, wenn auch steinernen, gewaltigen Grazien, die sanft aneinander sich schmiegen, ähnlich zärtlichen Pensionsfreundinnen, die vor der schmerzlichen Trennung sich noch photographieren lassen. Nur die zweite, nämlich die mittlere, die ihr Haupt am höchsten trägt, gestattet dem Clubisten eine Visite, die beiden übrigen bleiben unnahbar. In der Reihe folgen in südlicher Richtung: Garsellakopf (2098 m), Kuhgratspitze (2124 m), die höchste Erhebung hier mit dem Gipsberg oder der Alpspitze (1999 m), dann weiterhin, dem Falknis zu: Rappenstein (2072 m), Graue Kopf (2207 m), Plasteikopf (2356 m) und Mazoragrat (2051 m) mit Würznerhorn und Mittagsspitze. Bei den drei Schwestern wollten wir also die Gebirgswanderung beginnen und sie in zweitägiger Tour bis zum Falknis fortsetzen, um dann nach Mayenfeld abzusteigen. Aber merkwürdig, auch die neuern Reisebücher geben dem Berggänger keine klare und sichere Wegleitung, wie er, vom Rheinthal herkommend, am besten die drei Schwestern gewinne. Da gab uns denn der kundige und ungemein freundliche Postmeister in Schaan, im Gasthaus zur Post, das wir deshalb den Touristen und Clubgenossen angelegentlichst empfehlen, weil sie dort guten Rat und im schattigen Garten vorzüglichen Gutenberger erhalten, die beste Auskunft und allfällige Liebhaber, die ebenfalls das Verlangen haben, die drei imposanten liechtensteinischen Damen zu besuchen, mögen sich folgendes merken, weil es auch im «neuen Tschudi» nicht steht: Kommst du von Sargans oder Buchs und willst du auf die drei Schwestern, so gehst du am besten von Buchs in einer halben Stunde nach Schaan, von dort auf prächtigen Fahrsträsschen, zunächst durch Wiesen, dann herrlichen Wald, bei einer Steigung von 335 m, in einer Stunde nach Planken (785 m), einem kleinen Örtchen mit 90 Bewohnern, das aber doch eine eigene Schule von 10-15 Kindern in sämtlichen Klassen hat. Auf lieblicher Alpterrasse gelegen, bietet der Ort eine charmante Aussicht auf das Rheinthal und das jenseitige Gebirge, und befände er sich in der Schweiz, so würde schon längst dort ein stattliches Kurhaus sich erheben und ganz gewiss alljährlich zahlreiche Sommerfrischler beherbergen; uns wenigstens gefiel die Alpterrasse ausgezeichnet. Bei der dortigen Kapelle ist ein einfaches, aber erstaunlich billiges Wirtshaus des Gebhard Gantner vorhanden, wo man unter Bäumen erwünschte Labung findet. Von Planken sind es drei Stunden mit scharfer Steigung auf die Spitze der Drei Schwestern; als Führer ist empfehlenswert der fürstliche Jäger Lorenz Gantner, der in Planken wohnt, oder es kommt ein anderer der wenigen männlichen Bewohner mit. Der Weg führt in anderthalb Stunden zur Alp Cafadura und in folgenden anderthalb Stunden in grossem Bogen um die Weissen Schroffen herum, am Älpeli Garsella mit Hütte vorbei, von der hintern Seite empor, zuletzt auf langem, steilem Felsenpfad, zur Höhe von 2108 m, dem Scheitel der grössten der drei Schwestern. Morgens um 7 Uhr hatten wir Rapperswil am lachenden Zürichsee verlassen, und abends 4 Uhr standen wir schon auf dem stolzen Haupt der steinernen Jungfrau. Das Wetter war sehr schön, die Beleuchtung günstig, wenn auch etliche Nebelstreifen nicht fehlten, und die Aussicht prächtig. Unmittelbar zu Füssen, in einer Tiefe von 1600 m, liegt das breite, dörfergeschmückte Rheinthal, durch das der silberglänzende Strom sich windet; von Trübbach bis zum Bodensee lässt sich die Schlangenlinie verfolgen, und im weiten grünen Thalgelände sind mehr denn 20 Ortschaften zerstreut. Brillant ist sodann die Schau auf den gegenüberliegenden Höhenzug, vom Kamor und Hohen Kasten bis hinauf zum Gonzen; Säntis und Altmann, Faulfirst und Alvier zeichnen sich da aus, aber links davon leuchten noch schöner in schneeigem Weiss die Grauen Hörner, die Sardonagruppe, Ringelspitze, der Glärnisch, Hausstock, Tödi und übrige Glarnerberge. Nach Süden ist die Aussicht teilweise verdeckt durch den etwas höhern Kuhgrat, dessen Gipfel (2124 m) von dem oben genannten Kurhäuschen Gaflei in 2 ½ Stunden gewonnen wird, und dessen Besteigung des vollen Rundgemäldes wegen fast noch mehr zu empfehlen ist als die Tour auf die Drei Schwestern. Imposant aber präsentiert sich auf letztern die Scesaplana mit dem glänzenden Brandner Firn, und weiterhin nach Osten die ganze reichgegliederte Alpenwelt des Vorarlberg und Tirol. Nur diese wenigen Andeutungen zeigen, dass das Panorama auf den Drei Schwestern recht schön ist und ein Besuch darum sehr lohnend, obschon sie von den Schweizern ziemlich stiefmütterlich oder hier vielleicht besser gesagt stiefschwesterlich behandelt werden.

Den Abstieg nimmt man wohl am besten wieder auf dem gleichen Weg über Planken nach Schaan oder dann über die Alp Amerlüg und den Weiler Amerlügen in drei Stunden nach Frastanz. Wenigstens ist der Weg, den wir in südlicher Richtung nahmen, auf der westlichen Seite des Saminathales hinauf über die obern Alpen von Garsellen und Bargellen, über Tobel, Runsen und Felskämme nicht für jedermann ratsam, vor allem sehr mühsam, denn oft ist gar keine Wegspur vorhanden. Die Wildwasser haben ihn weggerissen, wie denn überhaupt das Saminathal ein rauhes, wald- und schluchtenreiches, wildromantisches Gebirgsthal ist, in dem die Gemsen vier Schritte von uns entfernt blitzschnell vorbeihuschten. Zudem musste man wieder bedeutend steigen, z. B. auf pittoreskem, wenn auch steilem Felsengang, den sogenannten «Schellen», ca. 200 m empor, um freilich dann sofort wieder auf Alpmatten sich niederzulassen. Ist man auf der Alp Bargella angelangt, dann steht wieder ein hübsches Weglein zur Verfügung, und in einer guten Stunde ist das Kurhaus Sücca erreicht. Aber wegen der vielen Gegensteigungen und des bedenklichen Pfades oder Nichtpfades unter den Flühen und Hängen des Garsellakopfes und Kuhgrates erforderte die Strecke von der Spitze der Drei Schwestern bis nach Sücca in der Luftlinie anderthalb Stunden, volle fünf Stunden strengen Marsches, und wir kamen abends 9 Uhr ziemlich müde im Kurhaus an. Dort logierten wir trefflich und billig, wie ich schon oben diese Sommerstation empfohlen habe. Der Vaduzer Wein, besonders der rote, war gut, die Bedienung freundlich, das Bett lobesam, und zwei anwesende Grenzwächter, nette junge Burschen, thaten uns nichts zu leid. Von hier, der Sücca, führt eine wohl chaussierte Fahrstrasse zunächst durch einen kleinen Tunnel, beim Gulmen, in 2 – 2 ½ Stunden über Triesenberg nach Vaduz.

Wir beiden Kraxler aber hatten Höheres im Sinn, nämlich von hier aus auf den Falknis zu steigen (2566 m), den bekannten Eckpfeiler des Rhätikon, oberhalb Mayenfeld. Leider war kein Führer zu bekommen, und so mussten wir versuchen, mit eigenen Mitteln den Plan auszuführen. Leicht war die Arbeit nicht; denn erst nach achtstündigem mühevollen Wandern, Steigen und Klettern langten wir auf dem Gipfel des Falknis an. Möglich, ja gewiss, dass wir nicht immer die rechte Richtung einschlugen und dass wir mit kundigem Begleiter schneller und leichter das Ziel erreicht hätten; aber beschwerlich ist die Tour auf jeden Fall und deshalb nicht ohne weiteres empfehlenswert, obschon sie einige brillante Partien und Aussichtspunkte bietet. Wer den Falknis besteigen will, nimmt ihn wirklich am besten von Mayenfeld aus. Morgens um 5 Uhr verliessen wir Sücca (1450 m) und lustwandelten auf charmantem Strässchen durch Matten und Wald in einer Stunde nach dem Älple (1631 m), einer bedeutenden Alpsennerei; bis dahin war der Weg ein Hochgenuss, ein wahres Juwel von einer Alppromenade. Jetzt aber ging’s durch jähe Grashalden steil aufwärts; denn nach des Sennen Belehrung sollten wir über den Rappenstein (2072 m) der Alp Lavena zustreben und darauf dem Mazoragrat zusteuern, um so dem Falknis näher zu rücken. Wir befolgten bestmöglich den Rat und kamen gut auf dem Rappenstein und dem Plasteikopf (2356 m) an, beide mit sehr schöner Aussicht hinüber ins Gebirge von St. Gallen und Appenzell; aber nun ging’s hinauf und hinunter, über Grashalden und Schutthalden, über Schnee und Geröll, bei brennender Mittagsglut, dass uns beinahe der Atem ausging. Endlich langten wir über den Mazoragrat (2051 m) bei dem Punkt «ob dem Gyr» an, und hier trafen wir zu unserer Freude den guten Berggeist des Falknis an, das wackere Bergmännchen Fortunat Enderlin von Mayenfeld, den besten Kenner und Freund des Falknisgebirges, der an dem schönen Tag mit seinem Tochtermann wieder einmal auf seinen lieben Falknis spazierte und auf dem Abstieg begriffen war. Dieser gab uns noch einige wohlmeinende Wegleitungen, und von seinen Wünschen begleitet nahmen wir den letzten «Stich» noch unter die Füsse. Natürlich verirrten wir uns dennoch ein wenig im Heer der Felsköpfe und Tobel, aber auch diese Drangsal ging glücklich vorüber, und punkt 2 Uhr standen wir beim Felsmannli auf der Spitze des Falknis (2566 m), wirklich sehr froh, beim ersehnten Ziele angelangt zu sein. Die Aussicht ist ähnlich derjenigen auf den Drei Schwestern, doch bedeutend umfassender und deshalb auch schöner. Auch hier macht sich die Scesaplana ausgezeichnet, dann aber überhaupt das gesamte Hochgebirge Bündens, besonders die Silvrettapartie mit dem Litzner, Piz Buin, Linard, den Plattenhörnern, ferner Piz Kesch, Bergüner Stöcke und die Berninagruppe, in der Nähe Hochwang, Calanda, Graue Hörner und die Alvierkette etc.; von Chur aber über Ragaz und Sargans bis an den Bodensee hin reiht sich Ortschaft an Ortschaft. Da ruhten wir nun gern auf erhabener Warte und genossen mit Freude und Dank, wenn auch ziemlich erschöpft, das herrliche Rundgemälde. Nach dem «Fremdenbuch», das im Steinmannli verborgen steckte, hatte der Falknis in diesem Jahr, 1895, noch wenig Gäste bekommen; die ersten waren am gleichen Tag Führer Enderli mit Tochtermann gewesen, und wir beide zeichneten uns als die zweiten ein. Nach halbstündiger Rast verliessen wir gegen halb 3 Uhr die Falknishöhe, stiegen über Schnee und Geröll zum Fläscherfürkli und Thäli ab, wendeten uns wieder nach dem Gyr, und dort ging’s auf dem kürzesten, aber auch steilsten und bisweilen entsetzlich steinigen Weg über Bargün die 2050 m hinunter nach Mayenfeld, wo wir vor 6 Uhr eintrafen und bei Führer Enderli noch eine gemütliche halbe Stunde verbrachten, um mit dem halb 7 Uhr Zug dann wieder dem Züribiet entgegen zu fahren.

Sollte ich, unsere Erlebnisse und Beobachtungen zusammenfassend, einige Winke geben, so würde ich sagen: Ein Ausflug ins Liechtensteinische und besonders die dortigen Alpen ist ungemein lohnend; die Wege sind bis weit hinauf musterhaft, die Aussichten lieblich und die Wirtshäuser gut und billig. Wer bescheidene Höhenbummel liebt, geht von Vaduz nach Triesenberg und hinauf nach dem Gulmen und nach Sücca (1450 m) oder nach Rothenboden (1000 m) und Gaflei (1500 m). Wer Berge besteigen will, aussichtsreich und lohnend, gehe von Gaflei in 2 ½ Stunden auf die Kuhgratspitze oder von Schaan über Planken in vier Stunden auf die Drei Schwestern; ich bin überzeugt, niemand wird es bereuen, zur Abwechslung einmal bei günstiger Witterung das kleine souveräne Fürstentum Liechtenstein aufgesucht zu haben.

(von E. Thomann, Pfarrer)
(Quelle: Alpina 1895)

Clubisten sinnieren über Liechtenstein auf dem Kuhgrat, 1902

Eine Dreischwestern-Fahrt. Wir Ostschweizer Sektionen des S. A. C. sind bei der Aufstellung unserer Tourenprogramme oft in bitterer Verlegenheit. Immer und immer wieder im Säntisgebiet herumlaufen geht nicht wohl an. Bündnerland und Glarnerberge sind bei den miserabeln Bahnverbindungen nur mit viel Zeitverlust zu erreichen und auch die Centralschweiz kann für uns nur bei zweitägigen Touren in Betracht fallen. So sind wir denn genötigt, hie und da einen Sprung über die Grenze hinaus zu thun zu unseren guten Nachbarn, den Österreichern, die uns jeweilen mit guter Küche, patentem «Spezial» und freundlichen Worten das Böse vergelten, das unsere Vorfahren den ihrigen am Morgarten und bei Sempach gethan. So hat die junge Sektion Thurgau am ersten Junisonntag letzten Jahres eine kleine Tour über den Rhein ausgeführt, die nur deshalb hier in knappen Strichen geschildert werden soll, weil sich das in Frage stehende Gebiet für Frühsommertouren von der Ostschweiz aus wie kaum ein zweites eignet und wie kaum ein anderes für Sektionen und Einzelgänger lohnend ist.
Wenn man von Rorschach rheinthalaufwärts nach Chur fährt, so beherrscht auf weiter Strecke ein vielgezackter ca. 2000 Meter hoher Felskamm die Thallandschaft. Bei Buchs hat man ihn grad gegenüber und wer ein kleines clubistisches Äderchen in sich hat, den ziehts hinauf, denn der Stock imponiert trotz der nicht bedeutenden Höhe. Der vielgezackte Berg ist vom Volksmunde, der in der geographischen Namengebung viel originellere Einfälle hat als die korrekte Kartographie, «Dreischwestern» getauft worden. Leute mit Phantasie mögen sich eine recht romantische Schauergeschichte mit dem Namen zusammenreimen. Die drei Schwestern sind der Kuhgratspitz (2124), der Garsellakopf (2078) und der Dreischwesterngipfel i. e. S. (2025). Es sind drei alte Schachteln von Bergen mit runzeligen Gesichtern und brüchigen Gliedern, sie sind eben sitzen geblieben, trotzdem von der andern Thalseite seit Jahrtausenden ein paar heiratsfähige Berggesellen, der Alvier, der Faulfirst und der Altmann, gar sehnsüchtig herübergeblinzelt haben. Vielleicht liesse sich auf diese Weise die angedeutete Schauergeschichte von den «Dreischwestern» ganz ordentlich zusammenbringen.
In sternklarer Vollmondnacht sind wir, eine fröhliche Kumpanei von zwölf Mann, von Buchs über die neue Rheinbrücke von Sevelen, die damals nicht einmal kollaudiert war, nach Vaduz hinüber gewandert. Mit österreichischer Liebenswürdigkeit nahm uns der Zollwächter am Brückenkopfe in Empfang; er wünschte gute Bergfahrt und fand es nicht für nötig, seine Nase in unsere Rucksackgeheimnisse hineinzustecken, wie das denn bei der Heimfahrt der helvetische Zöllner von St. Margrethen in übertriebener republikanischer Gewissenhaftigkeit gethan hat. Im «Goldenen Löwen» in Vaduz waren Quartiere bestellt und um halb elf Uhr sassen wir in heimeliger Stube, wo neben «unserm lieben Kaiser Franz» auch das Bildnis Johanns II., des souveränen Fürsten von Lichtenstein hängt.
Wir schliefen gut auf dem Boden Seiner Durchlaucht. Was hätte uns da auch passieren können, das Fürstentum Lichtenstein, dessen Haupt- und Residenzstadt das Dorf Vaduz ist, repräsentiert ja den Idealstaat der Zukunft und ist es geworden ohne Bebel und Greulich. Es hat keinen einzigen Soldaten, nicht einmal einen Landsturm; die guten Lichtensteiner zahlen keine Steuern, im Gegenteil, Seine Durchlaucht muss blechen, dass er die Lichtensteiner regieren darf und dieser Fürst, der kapitalkräftigste Herr ganz Österreichs, ist mit seiner Freigiebigkeit, die manche Kaiserbarmherzigkeit in den Schatten stellt, immer dabei, wenn’s eine Schule zu bauen gibt, wenn der überstellige Rhein gebändigt werden soll, oder wenn die Vaduzer ein Feuerwerk abbrennen wollen. Er hat den Vaduzern für 300,000 Fr. eine prächtige gotische Kirche bauen lassen und den Schaanern hat er für die ihrige gleich eine der grössten Alpen auf den Dreischwestern geschenkt; für die Rheinkorrektion hat er tief in die Tasche gegriffen und in Balzers hat er eine Erziehungsanstalt gegründet, wo die jungen Lichtensteinerinnen gratis fromm und gelehrt werden können. So siehts denn überall hablich aus im Liechtensteinischen und eine statistische Merkwürdigkeit macht die Glückseligkeit voll: Lichtenstein hat im Gegensatz zu vielen Grossstaaten fast genau so viel Frauen als Männer; von den 9434 Einwohnern, die bei der letzten Volkszählung gezählt wurden, waren 4757 männlich und 4677 weiblich. Jede Lichtensteinerin kann also mit tötlicher Sicherheit auf einen Lichtensteiner zählen und bleiben noch 80 Lichtensteiner übrig. Schliesslich sei beigefügt, dass Lichtenstein 159 Quadratkilometer gross ist und 16 Ortschaften zählt. Alles übrige steht im Bädecker, nicht aber das lose Sprüchlein, das einer von uns, inspiriert durch den patenten Vaduzer, beim Schlafengehen zusammengedichtet und nach bekannter frommer Weise halblaut treppauf gesungen hat:
Und der Fürst von Lichtenstein
Hat ein Ländchen ach so klein,
Springt ein Fass Petroleum
Riecht’s im ganzen Fürstentum.
Ins Stammbuch möchte ich aber dem Fürsten von Lichtenstein und Grafen zu Schellenberg das Sprüchlein nicht geschrieben haben.


Am folgenden Morgen machten wir uns früh auf die Socken. Es war kurz nach drei Uhr, als das Getrampel schwerer Nagelschuhe die guten Vaduzer aus ihrem Schlafe aufschreckte. Wir liessen den Steilweg, der direkt durch den Wald nach Gaflei hinaufführt, links liegen und folgten, getreu dem alten Wandersprüchlein, dass ein guter Krumm nicht um ist, dem Strässlein, das am Schloss Vaduz vorbei durch Wald und Weiden, durch Weiden und Wald im Andantino gemächlichen Schlenderns den Wanderer in 2 ½ Stunden zum Alpenkurhaus Gaflei hinaufführt.
Das Kurhaus Gaflei, wo wir den programmgemässen Frühstückshalt machten, liegt schon gegen 1600 Meter hoch. Die Aussicht weitet sich schon ganz gewaltig, namentlich ins Bündnerland hinein. Als Touristenplatz in Aufschwung gekommen ist Gaflei, seitdem durch den D. und Ö. Alpenverein und – wie könnte es auch anders sein – durch die splendide Mithülfe des Fürsten von Lichtenstein der Dreischwesternweg angelegt worden ist. Früher ist nur der nördlichste Gipfel, die Dreischwestern im engern Sinne, von Feldkirch aus bestiegen worden; auf den Garsellakopf oder den Kuhgratspitz kam nur hie und da einer, der eine grosse Gegensteigung und eine ziemlich mühsame Kletterei leichten Herzens mit in Kauf nahm. Die schönste Partie des heutigen Weges endlich, die Strecke Gaflei-Gafleisattel auf der Rheinthaler Seite war meines Wissens gar nicht zu machen. Heute führt nun ein sehr interessanter Weg von Gaflei an der Westwand zum Gafleisattel hinauf, von dort an der Ostwand zum Kuhgratspitz, dann weiter über den Garsellakopf zum Dreischwesterngipfel, so dass man also in 6 -7 Stunden von Gaflei aus über alle drei Gipfel nach Feldkirch hinuntergelangen kann. Die ganze Anlage soll circa 30,000 Franken gekostet haben; die erste Strecke Gaflei-Gafleisattel, die allein 10,000 Gulden verschlungen hat, ist ganz vom Fürsten gebaut worden; man hat deshalb den Weg «Fürstensteig» getauft, was unter sothanen Umständen auch der demokratisch geeichte Clubist nur billigen kann.
Wir marschierten um 6 ½ Uhr von Gaflei ab. Der Weg geht zunächst durch einen Zwergföhrenwald noch circa 100 Meter aufwärts, dann direkt hinein in die Felsen und bleibt nun eine Stunde lang an der steil ins Rheinthal abfallenden Westwand. Ohne starke Steigungen geht’s schmiegsam allen Runsen und Spalten des grotesk zerklüfteten Hanges nach; an einigen Stellen lag noch Schnee in den Runsen und Geschiebeablagerungen mahnten zur Vorsicht. Der Weg wird überhaupt auf dieser Strecke Jahr für Jahr Kosten verursachen; er ist auch ein paar Tage nach unserer Tour durch einen Gewitterregen auf einer Strecke von circa 30 Metern ungangbar gemacht worden. Ist er ordentlich im Stande, so kann er von Jedermann begangen werden; an schmalen Stellen sind für schwindelbehaftete Leute Geländer angebracht worden.
Am Gafleisattel erwartet den Wanderer eine Ueberraschung. Er tritt durch einen Kammeinschnitt plötzlich an die Ostwand, das Rheinthal und der Blick in die Schweiz hinein sind weggewischt und man sieht nun in das tiefe dunkle Saminathal hinab und drüber weg in die weite Tiroler Gipfelwelt hinein. Eine gute Stunde lang zieht sich nun der Weg an der Ostseite des Kammes aufwärts, aber so nahe am Grat, dass man nur ein paar Schritte abseits thun muss, um ins Rheinthal hinunter sehen zu können. Hie und da kann man sich auch das Vergnügen gestatten, rittlings auf den Grat zu sitzen und das eine Bein ins Rheinthal, das andere ins Saminathal hinunter schlenkern lassen. So kommt man ohne grosse Mühe hinauf zum Kuhgratspitz, dem ersten und höchsten Gipfel des Dreischwesternstockes. Dass die Besteigung dieses Berges keine alpine Heldenthat ist, geht daraus hervor, dass wir den Gipfel von einem Rudel jungen Mädchen besetzt fanden; es war ein – Kochkurs aus Dornbirn. Wir beglückwünschten das junge Volk zu seiner bergsteigerischen Leistung, waren aber doch froh, als die Mädels mit ihrem pickelbewaffneten Führer den Rückweg nach Gaflei hinunter antraten, von woher sie gekommen waren, denn der Kochkurs von Dornbirn und die Sektion Thurgau S. A. C. hätten auch bei weitgehendster Verträglichkeit auf dem engbegrenzten Raum der Kuhgratspitze nebeneinander nicht Platz gehabt.
Der Herr hat es mir nicht verliehen, eine Aussicht zu schildern; ich will also nur in trockenen Worten sagen, dass die Rundschau packend ist, namentlich gegen Süden und Osten, wo man zunächst der Rätikonkette in alle ihre intimsten Geheimnisse hineinschaut und dann ins heilige Land Tirol hinein, wo die alpinen Majestäten an jenem wunderbaren Junimorgen ihren funkelndsten Sonntagsstaat von Licht und Glanz und Bläue umgelegt hatten. Auch der Blick ins Rheinthal hinab und drüber weg in das Glarnerland und in die Centralschweiz hinein ist über die Massen schön und weit. Etwa eine Stunde lang schauten wir in diese Herrlichkeiten hinein und sprachen dazu gegen allen clubistischen Brauch dem mitgebrachten Vaduzer wacker zu; dann erinnerten wir uns aber doch, dass noch zwei weitre Schwestern unseres Besuches warteten. Ein schüchterner Vorschlag, es bei einem Gipfel bewenden zu lassen und dem Kochkurs nach Gaflei hinunter nachzulaufen, wurde mit gebührender Verachtung bestraft. Eine halbe Stunde später standen wir auf dem Garsellakopf und in einer weiteren halben Stunde auf dem dritten Dreischwestergipfel. Die Passage zwischen den drei Gipfeln bietet heute absolut keine Schwierigkeiten mehr; die Leitern scheinen mehr zur Dekoration da zu sein und an Seilen hat man auch nicht gespart. Auf dem nördlichsten Gipfel, dem altbekannten, thut sich ein schöner Blick über das weite Thal der Ill in den dunkeln Bregenzerwald hinein auf und fern von Norden her blaut das schwäbische Meer mit seinen blanken Uferstädten herauf.
Inzwischen war es 11 Uhr geworden, die Mittagssonne begann sich fühlbar zu machen und der Gedanke an den fast dreistündigen Abstieg nach Feldkirch hinab in der schönsten Mittagszeit lastete schwer auf den Gemütern. Dann nahmen wir aber tapfer unser clubistisches Gewissen zusammen und zogen fürbas hinab zur Alp Garsella, dann unheimlich lang, fast eben durch Weiden und Wald und durch Wald und Weiden, an der historischen Stätte vorbei, wo im Schwabenkriege der Urner Heinrich Wolleb eine gebirgsgewohnte Schar Schweizer über die nördlichen Ausläufer der Dreischwestern den Oesterreichern bei Frastanz in den Rücken geführt hat, schliesslich von der Alp Amerlügen auf gut Glück direkt hinab auf kniemordendem Pfad in die Ebene. Um ½ 2 Uhr zogen wir sonnenverbrannt und schweissgebadet in Feldkirch ein.
Und das Fazit: Die Dreischwestern sind für ostschweizerische Sektionen des S. A. C. eine sehr dankbare Tagestour. Wer vor einem Normalarbeitstag von 9 – 10 Stunden zurückschreckt, der gehe am Vorabend noch nach Gaflei; dann wird die Dreischwestern-Fahrt zum genussreichen Sonntagsspaziergang.
(von Hans Schmid, Sektion Thurgau S. A. C.)
(Quelle: Alpina 1902)

Einweihung Fürstensteig und Dreischwesternweg 1898

Liechtensteiner Volksblatt 8.10.1897:
Vaduz, den 6. Okt. Die Arbeiten an der Erstellung des Weges von Gaflei über die drei Schwestern, die Kuhgratspitze ins Garselle sind nun gänzlich vollendet. Die Arbeiter haben die Höhen gestern verlassen und heute früh wohnten sämmtliche Mann mit dem Unternehmer Herrn Rinaldi in Bregenz zum Danke, dass während der ganzen schwierigen, meistens durch steile Felsen gehenden Arbeit kein einziger Unfall passiert ist, hier der hl. Messe bei. Die feierliche Eröffnung des Weges wird erst nächstes Frühjahr stattfinden, da jetzt die Zeit schon zu weit vorgeschritten. Der Weg soll den Namen «Fürstensteig» erhalten. Auch der Anschlussweg von Garselle bis Frastanz, welchen der deutsch-österreichische Alpenverein zur Ausführung brachte, ist fertig erstellt.

Liechtensteiner Volksblatt 21.1.1898
Als erfreulicher Fortschritt auf dem Gebiete des Verkehrs … Besonders zu nennen ist auch der im vergangenen Herbst fertiggestellte, einzig in seiner Art dastehende Fürstensteig, welcher, die gewaltigen Felsmasses des Gipsberges durchziehend, ein Verbindungsweg zwischen dem Netze der liechtenstein. Alpenstrassen und dem Illthale bildet und ein bedeutender Anziehungspunkt für Touristen und mithin ein Förderer des Fremdenverkehrs in unserm Vaterlande werden wird.

Liechtensteiner Volksblatt 10.6.1898
Vaduz. Die in Feldkirch wohnenden Mitglieder des d. und öst. Alpenvereins (Sektion Vorarlberg) haben, wie wir vernehmen, die Eröffnung des neuen Alpenvereinsweges Drei Schwestern – Gaflei (in welchem auch der sogen. Fürstensteig liegt) auf Sonntag den 3. Juli festgesetzt.

Liechtensteiner Volksblatt 22.7.1898
Vaduz, 20. Juli (Eingesandt). Wenn wir schon seit Wochen des Jammers voll waren über die Ungnade des Wettermachers Petrus, so wurden wir wieder etwas versöhnt, als die letzten Tage der vergangenen Woche der Himmel wieder in vielversprechender Klarheit erstrahlte. Es schien, als ob wir Liechtensteiner für festliche Anlässe das in der Schweiz sprichwörtlich gewordene Züricher Festwetter gepachtet hätten; es sei erinnert an den stets heitern Himmel während der liechtenst. Landesausstellung im Jahre 1895.
Kühn wehten von der Kühgrat- und Garsellaspitze die Flaggen und freundlich begrüssten die Höhenfeuer am Samstag Abend das ganze Rheinthal und luden ein zur feierlichen Eröffnung des neuerbauten Felsensteiges längs des Dreischwesternkammes. Der herrliche Sonntagsmorgen veranlasste uns, dieser Einladung Folge zu leisten und froh gestimmt ging es den wundervollen Waldweg hinauf über das sog. «Wilde Schloss» nach Gaflei. Das hier herrschende muntere Treiben der schon am Morgen zahlreich eingetroffenen Festteilnehmer, das neuerbaute Kurhotel, die elegante Trinkhalle, die sinnig angebrachten Dekorationen machten in dieser Gebirgswelt einen überraschenden Eindruck. Ueber Maseschen, von der Sükka, über Vaduz und über die Dreischwestern her, wohin der Aufstieg teils über Planken, teils von Feldkirch aus unternommen wurde, strömten Besucher jeden Alters und Geschlechts herbei; es haben an diesem Tage weit über tausend Personen Gaflei passiert. Der Hauptanziehungspunkt war der sog. Fürstensteig, über dessen Grossartigkeit nur eine Stimme des Erstaunens herrschte.
Ueber Einladung des Deutschen und Oesterr. Alpenvereins begaben sich die Mitglieder der Sektion Vorarlberg samt einer grossen Anzahl von Festgästen über Amerlügen nach den Dreischwestern zur Eröffnung des neuen Felsenweges.
Herr Fürstl. Cabinetsrat von In der Maur, Herr Forstverwalter Hanel und Herr Ingenieur Schädler waren zur Begrüssung bis zur Kuhgratspitze entgegen gegangen.
Bei dem Festbankette im Kurhaus Gaflei eröffnete den Reigen der Toaste der Fürstl. Landesverweser Herr Cabinetsrat von In der Maur, welcher bei seinem Eintreffen in Gaflei die für ihn und die übrigen Herrn fürstl. Beamten reserviert gewesenen Plätze bereits anderweitig besetzt fand und mit einem der letzten bei dem massenhaften Andrange noch frei gebliebenen Plätze vorlieb nehmen musste, was allgemein auffiel. Die vom Herrn Landesverweser vorgebrachte kurze Begrüssung lautete beiläufig wie folgt:
Gestatten Sie mir, dass sich Sie, meine Damen und meine Herren, namens der Regierung unseres zwar kleinen aber glücklichen und – und wie Sie zugeben werden – auch schönen Landes, hiemit aufrichtig begrüsse; ich verspreche Ihnen zuvörderst, dass ich Ihren guten Humor nicht etwa durch eine lange Rede verderben werde; hier im Angesicht der ewigen Berge, die ihre eigene erhabene Sprache zum Herzen sprechen, erscheint das Menschenwort ja ohnehin so dürftig und so arm! Wir haben uns erlaubt, ein kleinwenig Vorsehung zu spielen, indem wir einen Weg in die Felsen gegraben haben, um es hiedurch zu ermöglichen, der Natur besser in ihr zauberisches Antlitz zu blicken; dieser Blick hat schon heute gar viele erfreut und wird auch, so Gott will, in Zukunft gar manche begeistern und erheben.
Nehmen Sie unsern Dank für Ihr zahlreiches Erscheinen freundlich entgegen; hoffentlich war es nicht das letzte Aufgebot, dem Sie Folge geleistet haben. Ich schliesse, indem ich in den Ruf ausbreche, die her versammelten Mitglieder des deutsch-österreichischen Alpenvereins und des schweizerischen Alpenclubs, sowie die sonst anwesenden alpinen Freunde, sie leben hoch, hoch, hoch!
Der Vorstand der Sektion Vorarlberg des D. u. Oe. Alpenvereins, Herr Hueter aus Bregenz, brachte in längerer, wohlgelungener Rede, in welcher er die Thätigkeit des Alpenvereins um die Erbauung des herrlichen Touristenweges, durch welchen eine dauernde Verbindung zwischen Vorarlberg und Liechtenstein geschaffen wurde, gebührend beleuchtete, ein begeistert aufgenommenes Hoch auf Seine Durchlaucht den regierenden Fürsten Johann II. von Liechtenstein, als den Erbauer des imposanten Felsenweges aus.
Mit den verschiedenen Toasten, unter welchen jener des Vertreters des Centralausschusses des Deutschen u. Oesterr. Alpenvereins, Herr Steinitzer, sowie jener des Hrn. Regierungsrates Dr. Scherrer, Vertreters des schweizerischen Alpenklubs, durch die kernige Sprache besonders angenehm berührte, mischten sich die Accorde der Harmoniemusik Vaduz, welche unter der Leitung ihres Kapellmeisters Sobotka Ausgezeichnetes leistete und wesentlich zum Gelingen des schönen Festes, welches gewiss allen Teilnehmern in freundlicher Erinnerung bleiben wird, beitrug.
Leider wurden die verschiedenen im Freien gehaltenen Reden und Toaste fast nur von den Nächststehenden genau vernommen, denn es mangelte an einer erhöhten Rednerbühne, von welcher aus die verschiedenen Redner sich besser hätten Gehör verschaffen können.
Zum Schlusse kann der Einsender es sich nicht versagen, hervorzuheben, dass wohl auch den fürstlichen Behörden, welche an dem Zustandekommen des grossartigen Bauwerkes mitgewirkt haben und speziell jenen fürstlichen Organen, welche das schwierige Werk projektiert und ausgeführt haben, unter welchen der fürstl. Forstverwalter, Herr Hanel, in erster Linie erwähnt zu werden verdient, besonderer Dank gebührt.

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Einweihung des Dreischwesternweges
(Quelle: Alpina 1899)
Sonntag, den 17. Juli fand die Eröffnung eines neuen Weges statt, welcher um seiner eigenartigen Schönheit willen es verdient, in weiteren Kreisen bekannt zu werden. Östlich vom sanktgallischen Rheinthal, vom Rhein nur durch eine Ebene von einer halben Stunde Breite getrennt, erhebt sich ein Gebirge, das unter dem Namen Dreischwestern allgemein bekannt ist. Gegen das Rheinthal fällt es in steilen Wänden ab, welche bis hoch hinauf mit Wald bekleidet sind. Der Kamm verläuft von Norden nach Süden und kulminiert in 3 Gipfeln, welche sich allerdings nicht sehr stark über die mittlere Kammhöhe erheben. Der nördlichste, gegen Feldkirch zu gelegen, führt den Namen «Dreischwestern» im engern Sinn und erreicht eine Höhe von 2097 Metern. Die absolute Höhe ist somit nicht bedeutend; wenn man aber bedenkt, dass die Meereshöhe des Rheinthales nur etwa 450 Meter beträgt, so lässt sich begreifen, dass der Gebirgsstock auf den Beschauer imponierend wirken kann. Der mittlere Gipfel führt den Namen Garsellakopf, und der südlichste Gipfel, welcher zugleich der höchste ist (2124 m), wird allgemein Kühgratspitz genannt. Bis jetzt wurde nur der nördlichste Gipfel, die Dreischwestern, häufiger besucht, da von Feldkirch her ein bequemer Weg bis auf die Höhe angelegt worden war; aber die höchste Spitze, der Kuhgratspitz erhielt selten Besuch, da eine Besteigung zwar nicht schwierig, aber etwas mühsam sich gestaltete und wegen einer ausnahmsweisen grossen Gegensteigung viel Zeit in Anspruch nahm.
Jetzt da der neue Weg, der sogenannte «Fürstensteig» gebaut ist, werden sich die Verhältnisse ganz anders gestalten; es sollen denn auch diesen Sommer schon Tag für Tag zahlreiche Touristen den neuen Weg begangen haben. Der Reiz der Neuheit mag auch mit im Spiel gewesen sein, aber die Anlage bietet so viel Interessantes, dass ihr eine dauernde Frequenz gesichert ist, zumal da beim südlichen Ausgangspunkt der Route, d. h. im Alpenkurhaus Gaflei (1500 m), eine Touristenstation eingerichtet ist, in welcher sich die Gäste in jeder Beziehung wohl fühlen müssen.
Einer freundlichen Einladung von Bekannten aus dem Fürstentum Liechtenstein folgend machte sich der Berichterstatter Samstag den 16. Juli abends auf den Weg, um gleichen Tags Feldkirch zu erreichen, von wo aus die Festteilnehmer nach den Anordnungen der Sektion Bregenz des D. und Ö. Alpenvereins morgens um 6 Uhr aufbrechen sollten.
Schon am Abend brachen viele nach dem benachbarten Höhen auf, und die ganze Nacht hindurch wanderten kleinere und grössere Scharen durch die Illschlucht dem Ziele zu, um nicht in der Sonnenglut die steilen Abhänge erklimmen zu müssen. Es wehte in der That am Morgen ein frischer Wind durch die enge Schlucht; aber wie man auf das offene Wiesengelände hinaustrat und anfing zu steigen, fühlte man deutlich, dass ein heisser Tag bevorstand. In einer Stunde ist die kleine Ortschaft Amerlügen erreicht und in ebenso viel Zeit auf steilem Zick-Zackweg durch angenehmen Wald das sogenannte Älpli, von welchem der Ausblick nach dem zu Füssen zwischen vier Hügeln eingebetteten Feldkirch recht hübsch ist. Überhaupt wird der Ausblick freier, die Gebirge und Thäler des Vorarlberg, die Kette des Rhätikon, die Bodenseegegend werden immer deutlicher, und wenige Minuten oberhalb dem Älpli führt der Weg, der sich bisher mehr am östlichen Abhang gehalten hatte, unversehens auf die Kammhöhe, auf der man durch den Anblick des tief unten sich ausbreitenden Rheinthals und der darüberliegenden Berggruppen Alvier und Säntis überrascht wird. Hier ist die Gegend, wo im Schwabenkrieg vor der Schlacht bei Frastanz der Urner Heinrich Wolleb eine Schaar Schweizer auf Seitenwegen über den Berg führte, um die daselbst in einem Hinterhalt postierten Österreicher zu überraschen und zu verdrängen. Bald wendet sich der Weg wieder der Seite des schluchtartigen Saminathales zu und erreicht in etwa 2 Stunden vom Älpli weg die Alp Garsellen. Hier wurde vom Bezirke Feldkirch der Sektion Vorarlberg und den Gästen ein Frühstück geboten. Hier fand auch der kirchliche Weiheakt durch den Pater Hopfner aus Feldkirch statt, und der Präsident der Sektion Vorarlberg Hueter aus Bregenz brachte ein Hoch auf den Kaiser von Österreich, in welches die Frastenzer Musikkapelle mit der österreichischen Volkshymne einfiel. Es begann nun die eigentliche Gebirgswanderung, zunächst auf die Dreischwestern, dann auf dem neu angelegten Wege zum Garsellakopf hinüber und wieder hinab zu einem Sattel und dann wieder hinauf zum Kühgratspitz, wo die meisten einen längeren Halt machten, um die Aussicht noch einmal recht geniessen zu können. Bis zum Gafleisattel führt der Weg mehr auf der Seite des Saminathales, dort beginnt dann die interessanteste Strecke, indem der Weg die westlichen, dem Rheinthale zu gelegenen gigantischen Felsen durchkreuzt. Hat er die durch Erosion tief zerfurchte steile Schlucht verlassen, so durchzieht er einen schattigen Wald und mündet zuletzt in dem lieblichen Alpengelände von Gaflei aus. Der Weg, durchschnittlich 0.60 – 1.80 Meter breit, ist sehr gut angelegt und an etwas schwierigeren Stellen mit Drahtseilen, Geländern und Treppenstufen versehen, sodass jedermann ohne Gefährde denselben begehen kann. Die Kosten für die Wegbauten wurden von verschiedenen Seiten getragen, nämlich bei der Strecke von den Dreischwestern bis zur Kuhgratspitze (1800 m) von der Sektion Vorarlberg des D. und Ö. Alpenvereins in einem Betrag von fl. 1200, die Strecke Kuhgratspitze bis Gafleisattel (2388 m) von Herrn Ingenieur C. Schädler in Vaduz, und endlich die Strecke von Gafleisattel bis Gaflei (2158 m) von Sr. Durchlaucht dem regierenden Fürsten von und zu Liechtenstein; die Kosten der letzteren Theilstrecke belaufen sich auf mehr als 10000 Gulden.
Gegen drei Uhr langte der Zug in Gaflei an und wurde zunächst von der Vaduzer Musikkapelle empfangen. Während des Festessens wurden selbstverständlich viele Toaste gehalten. … es mag genügen zu bemerken, dass die einfache Feier einen sehr angenehmen Verlauf nahm. Auf das Essen folgte ein fröhlicher Tanz im Freien, leider mussten die fremden Gäste bald von der Höhe Abschied nehmen, um in Schaan die Züge zu erreichen, die sie nach den verschiedenen Himmelsgegenden wieder der Heimat zuführten. Die Zurückgebliebenen verlebten bei fröhlicher Unterhaltung, bei Gesang und Spiel, noch einen recht vergnügten Abend.
Es darf mit vollem Recht behauptet werden, dass dieser Weg einzig in seiner Art dasteht; die Höhenwanderung bietet einen Genuss, der unvergesslich bleibt. Besonders fesselt das lang sich hinziehende Rheinthal von Sargans bis zum Bodensee mit seinen vielen Dörfern und anmutigen Gefilden immer wieder die Blicke des Schauenden.
(E. W.)

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Liechtensteiner Volksblatt Volksblatt 27.7.1900
Vaduz. Die «Münchn. N. N.» widmen der Entwicklung des Touristenverkehrs in Vorarlberg in der Nummer vom 21. ds. Ms. einen längeren Aufsatz, in welchem es u. a. heisst: Eine der lohnendsten Touren in Bezug auf Reichhaltigkeit und leichte Ausführung ist unstreitig das «Dreischwestern-Gebiet» mit dem «Fürstensteig». Dieser hochinteressante, kühn angelegte Felsenweg wurde vor zwei Jahren zum Teil vom Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein, zum Teil von den Liechtensteinern erbaut. Er beginnt am Hinterälpele und ist ein etwa 75 bis 100 Centimeter breiter, gut geschützter Weg, auf dem man in 1 ½ Stunden die Dreischwesternspitze erreicht. Von hier aus bietet sich dem Auge ein geradezu überwältigendes Panorama der Vorarlberger-, Tiroler- und Schweizer-Hochgebirgswelt mit ihren bläulich schimmernden Firnen; Ill- und Rheinthal mit ihren grünenden Fluren und malerisch gelegenen Dörfern, der Bodensee und das schwäbische Hügelland schliessen das farbenprächtige Bild ab, ein Bild, das schöner wahrlich nicht gedacht werden kann. Von den «Dreischwestern» (2108 m) führt der Steig über den Garsellakopf auf dem höchsten Grat zur Fürstenspitze (2124 m). Hier beginnt der Abstieg nach dem Alpenkurort Gaflei, eine bestens eingerichtete Pension mit starker Frequenz; der völlige Abstieg erfolgt dann auf einem recht angenehmen, schattigen Waldweg, auf dem man in zwei Stunden nach Vaduz, dem Hauptorte des Fürstentums Liechtenstein oder zur Bahnstation Schaan-Vaduz gelangt. Es ist dies eine leichte Tagespartie von Feldkirch und Bregenz aus. Für Touristen aus der Schweiz eignet sich besonders der Aufstieg von Vaduz nach Gaflei, weil man dort in der Frühe an der schattigen Westseite aufsteigt und am Nachmittag den Abstieg nach Feldkirch ebenfalls im Schatten unternehmen kann. Von Gaflei aus kann man die ebenfalls vielgerühmte Partie über das Sareiser-Joch ins Gamperdonathal unternehmen.

Zur Sücka, über Malbun in den Nenzinger Himmel, 1895 und 1877

Alpe Sücca und Nenzinger Himmel.
Das winterliche Studium von Ingenieur Rheinberger’s schöner Karte der Rheinthal- und Arlbergbahn war nicht ohne Erfolg geblieben: es regte die Verbindung zweier Ausflüge zu einer genussreichen zehntägigen Tour an, die uns von den Gestaden des jungen Rheins zu jenen des wilden, aus Gletschern und Bergseen seine Wasser sammelnden Engadinerkindes führte und ausser manch herrlicher Berg- und Thalschau noch die unbestreitbaren Vortheile bot, dass wir die Eisenbahn am ersten Tage nur drei, am letzten etwas über fünf Stunden zu belästigen brauchten, alle übrige Zeit aber uns auf Wanderwegen bewegen durften, auf denen die Modetouristik sich noch nicht allzu breit gemacht hat.

Fürchte nicht, lieber Leser, dass ich Dir mit beliebter chronistischer Genauigkeit die zehn von mir verlebten Tage schildere und für jeden anmerke, wann der Aufbruch erfolgte, wann gefrühstückt und ob in der That diese oder jene Bergspitze gesehen wurde, und wie sehr oder wenig wir mit den Entfernungsangaben unseres Reisehandbuches zufrieden waren. Vielmehr sei mir gestattet, aus meiner Wanderschaft nur einige Punkte herauszuheben und gegenüber den Reisebücher, welche, wie nur billig, die Touren den Schoppenweinen gleich nach ihrer «Pfennigvergeltlichkeit» gegen einander abwägen, dem vollen Reiz des «in den Tag hinein Wanderns» sein Recht zu geben.
Wir versetzen uns also an das Ufer des Rheins, nach Vaduz auf die Terrasse des Gasthofs Löwen und lassen uns, da schon am Anfang unseres Spaziergangs ein Regenguss und ein sich über Hohenliechtenstein spannender Regenbogen uns zu Unterstand und Augenweide gefesselt haben, gerne bereden, dem nun bevorstehenden Uebergang vom gewohnten Bier zu ausschliesslichem Weintrunk kräftigen Vorschub zu thun. Lange aber halten wir uns nicht auf, sondern steigen, ob nun angeregt von jenem Wein, der vom Ardetzenberg bis Balzers reift, oder im Gefühle jener Weltfreudigkeit, wie sie uns alte wie junge Studenten am ersten Ferien- oder Urlaubstage erfüllt, trotz des niederrieselnden Regens zu dem Höhenzuge empor, der in nordöstlicher Richtung, vom Dreischwesternberge bis zum Naafkopf gesehen, die lieblichen Weingelände von Vaduz und Balzers vom grünen alpenreichen Saminathale trennt.

Auf einer wohlgepflegten, erst schattigen, dann aber sonnigen und steilen Strasse erreichen wir in drei Stunden die Einsattelung des «Kulm», 1459 m und damit einen schönen Aussichtspunkt des liechtensteinischen Landes. Durch den Kulm ist ein kurzer Tunnel gebohrt, von dessen Westöffnung aus wir das ganze Rheintal von den Vorbergen des Säntis an bis in die bündischen Lande hinein überschauen, während auf der anderen Seite der Blick auf das innere Saminathal und seine weltentrückten Alpenmatten erfreut.

Auf der dem Saminathale zugekehrten Seite des von uns erstiegenen Bergrückens liegt, 1450 m, die Alpe Sücca. Hier erhebt sich seit Kurzem ein kleines Alpencurhaus, das von den Liechtensteinern zu Nutz und Frommen all derer hinaufgestellt ist, die nach Luft und Ruhe, stetem Blick ins Grüne und den Freuden eines reinen Gebirgslebens begierig, auf ebene Wege und Promenadenbänkchen aber nicht angewiesen sind. Hotelcomfort ist keiner da, dafür jedoch der Mittags- und Abendtisch recht lobenswerth, die Bedienung aufmerksam, die Gesellschaft und Unterhaltung endlich, wie meistens da, wo nur anspruchslose Menschen zusammenkommen, gut und anregend.

Wenn etwas störend ist, so ist es der Umstand, dass das zum Aufenthalt der Gäste dienende Gebäude, das «Sanatorium», zugleich dem – ursprünglichen – Zwecke der Sennerei gewidmet und nur wenige Schritte von dem grossen gemeindlichen Viehstalle entfernt ist. Was hier im Gefolge schlechter Witterung liegt, bedarf keiner Ausführung. Vielleicht gefällt es den wackeren Vätern von Triesenberg und zwar, da doch der Besuch des Sanatoriums sich verdientermassen mehrt, in Bälde mit des heiligen Joder und einiger warmgeherzter Menschen Hilfe die Gasträume in einen neuen, um einer Terrasse höheren Holzbau zu verlegen. Dann wird die Alpe Sücca, vorausgesetzt, dass der dadurch erhöhte Grad der Reinlichkeit und Annehmlichkeit der Güte der Verpflegung nicht und ihrer Billigkeit nur kleinen Eintrag thut, unter den Sommerfrischen rhätischer Lande einen geachteten Platz einnehmen. Auch in seiner jetzigen Gestaltung hat mir der Aufenthalt sehr wohl gefallen und ich wünsche dem Unternehmen glückliche Entwicklung.

Das lustige Völkchen, das da oben in Sücca seine Sommerfrische hält und, weil durch die bucklige Umgegend auf Bergtouren verwiesen, des schönen Wetters sehr bedürftig ist, hat einen untrüglichen Wetteranzeiger nahe und gratis zu seinen Diensten: dadurch, dass der den Kulm durchsetzende Tunnel die gerade Richtung von West nach Ost hat, lohnt sich die abendliche Erforschung der Windrichtung in den meisten Fällen, und auch wir vertrauten mit Erfolg dem kräftigen Ostwinde, der uns den Tunnel hindurch und zu dessen Westpforte förmlich hinaus jagte, als wir uns den wetterbeobachtenden Curgästen angeschlossen hatten.

Von Sücca führt ein schmaler Weg hinab zur Alpe Steg, die, im innersten Kessel des Saminathales liegend, mit ihrer Kapelle und ihren vielen aneinandergereihten Sennhütten einem Strassendorfe nicht unähnlich sieht. Nach Südosten uns wendend, gewinnen wir durch eine kleine Schlucht, deren Seitenwände sich von der gegenüberliegenden Sücca wie Theatercoulissen ausgenommen hatten, die prächtige Alpenstrasse des Malbunthales, die uns zur Malbunalpe und damit an den Fuss des Sareiser Jöchels geleitet. Mässig steigt diese, wenn auch nicht an Breite, so doch an Sauberkeit gar manche flachländische Schwester hinter sich lassende Strasse in dem nach Ausgang der Schlucht breiter werdenden Thale gegen die südlichen Berge empor; hoch oben liegt, gegen Süden an die überragende Bergwand gelehnt, die Alpe Malbun, deren aus weissem Stein gebautes Hauptgebäude dem aus der Ferne herankommenden Wanderer den völligen Eindruck einer Burg gewährt: es hätte mich nicht sonderlich Wunder genommen, wenn uns ein Zug von Reisigen entgegengekommen oder auf der Zinne ein Wächter zu spähender Umschau erschienen wäre.

Doch lassen wir die Alpe, die beim Näherkommen allmählig ihren burgartigen Charakter verloren hat, und klimmen über einen steilen Graskopf empor, der den Steig zum Sareiser Jöchl vermittelt. Bald haben wir die Spitze erreicht und geniessen die nicht umfassende, aber malerische und durch Gegensätze ausgezeichnete Aussicht.
Gegen Westen zu verfolgt der Blick die feinen Contouren der den Lauf des Rheins begrenzenden Bergzüge, hinter denen das gewaltige Massiv des Säntis, losgelöst von den umliegenden Hügeln, zu den Wolken aufsteigt. Vor uns, gegen Südosten, der Panuelerschrofen, des Scesaplanastocks mächtiger Abfall, über dessen starre graue Gesteinsmasse der im Frühlicht glänzende Brandnerferner hereinschaut. Im Osten aber eröffnet sich uns ein prächtiges Bild: zu unsern Füssen liegt der innerste und höchste Alpboden von Gamerdona, genannt der Nenzinger Himmel.
Haben wir die Alpe Steg ein Dorf genannt, so erhebt der Nenzinger Himmel mit seinen über hundert auf dem weiten Thalboden zerstreuten Hütten und seinem Kirchlein begründeten Anspruch auf Namen und Freiheit eines Marktfleckens.
Hier, auf diesem herrlichen Alpenplatz lässt sich’s gut wohnen, lässt sich’s mit grossem Genuss recht wohl ein, acht oder auch mehr Tage verbringen und, da so nahe an die mächtigsten Erhebungen des Rhätikon hinaufgerückt, eine wirkliche Sommerfrische halten: so war, nachdem wir, vom Sareiser Jöchl abgestiegen, einen heissen Nachmittag und eine nicht sonderlich kühle Nacht hinter uns gebracht hatten, am nächsten Morgen der ganze umsäumende Bergkranz bis tief herab beschneit, und zahlreiche Schneestreifen, die auf dem Thalboden selbst glänzten, zeigten uns an, dass auch er in erster Frühe ein weisses Kleid getragen hatte. Und nun halten wir, indes die Sonne mit Schnelligkeit die blendende Schneedecke wegnimmt und die im Thale flatternden Nebel zerfliessen macht, Umschau über unsern irdischen Himmel.

Wir befinden uns auf einem kreisrunden (Gamperdon, campo rotondo), mit saftigem Grün bedeckten Alpenboden, der 1363 m hoch gelegen und von einem geschlossenen Kranz der mannigfaltigsten Berggestalten umgeben ist. Zahlreiche niedere Sennhütten lagern sich um das Kirchlein zu St. Rochus, ein Försterheim und einige sorglicher gebaute Hütten, die wohlhabenden Städtern zugehören, heben sich durch die noch helle Farbe des zur Zimmerung verwendeten Holzes von den braunen Wandungen und Dächern der übrigen Wohnstätten ab.

Gegen Norden senkt sich dem Mangbache folgend das Gamerdonathal in drei Terrasssen dem Walgau zu, in vier Stunden ist Nenzing erreicht und damit das Illthal, aus dem, wie aus weiter Ferne, die den Fluss begleitenden Berge in blauen Schattengestalten hereinschauen. Die schmale Lücke, die den obenerwähnten Ausblick in die nördlichen Gaue gewährt, ist durch den Fundelkopf und Rauhen Berg flankirt, zwei mächtige Bergklötze, welche zu dem Gesammtbilde des uns umgebenden Felscircus einen guten Theil beitragen. Im Westen zieht vom Rauhen Berg über den Kamm des Sareiser Jöchl die Bergkette zum Gorvion und Naafkopf, im Osten steigen die Höhen, die Einsattelung des Amatschonjochs und damit den Uebergang ins Brandnerthal deutlich erkennen lassend, allmählig zu dem gewaltigen Felskoloss des Panuelerschrofen empor, der mit praller Wand unmittelbar vor dem Beschauer über tausend Meter aufragt.

Der schönste Blick ist der nach Süden. Auf der einen Seite wirft die Panuelerwand ihre dunklen Schatten auf die zu ihr aus dem Nenzinger Himmelboden ansteigenden lärchenbestandenen Terrassen des Solaruelthales, auf deren höchster, kurz, ehe sich unter der Felswand der Weg zum Solarueljoch und ins Prättigau abzweigt, die Wellen eines kleinen Bergsees ihr weltverlorenes Spiel treiben, und wie der Name des Sees «Hirschbad» andeutet, des Nachts sich stolzer Gesellschaft erfreuen. Auf der anderen Seite fesselt uns die kurze weissschimmernde Cascade des Mangbachs, der aus enger Schlucht vom Barthümmeljoch herabkommt und sich unterhalb des Nenzinger Himmels mit der über jene Terrassen des Solaruel herabrauschenden Schalanza verbindet, in welcher man, und wohl mit Recht, wegen ihrer Klarheit und Eiseskälte, den durch die Spalten des Panuelerschrofens sickernden und filtrirt zu Tage tretenden Schmelzwasserabfluss des Brandnerferners erkannt hat. Die Verbindung der Bergumrahmung endlich zwischen Solaruel und Barthümmelschlucht stellt ein begrünter Felsriegel her, die auf ihm liegende Alpe Panuel beherbergt vieles und schönes Vieh, dessen Geläut dem Glockengetön der unter dem Amatschonjoch auf Alpe Setsch weidenden Herde munter respondiert.

Muss nun noch des sanften, stetigen Windes gedacht werden, der von den Bergkämmen her über unsere Häupter weht, sowie des Umstandes, dass Tritt und Schritt von den schönsten Alpenrosen, die allenthalben wachsen, begleitet wird, ja dass im Solaruelthal an nicht einmal beschwerlich zu erreichenden Stellen Edelweiss gefunden wird, so ist getrost zu behaupten, dass es wenige Alpenthäler in tirolischen und vorarlbergischen Landen gibt, die so nach allen Seiten hin ihre Reize entfalten und so wohlthätigen Eindruck auf den der Stadt entronnenen Wanderer ausüben.

Was aber, höre ich aus der Zahl der Leser bedenklich fragen, gibt es denn im vielgerühmten Nenzinger Himmel neben der gepriesenen Einsamkeit und Schau ins Grüne an leiblicher Ergötzung? Gerne enthüllt sei Euch Ansehen und Inneres der Herberge, die uns zum Ausgangspunkt so schöner Wanderungen gedient hat.
«Hotel Himmelssonne» heisst die das Wirthshaus vorstellende, aus Erdgeschoss und niederem Oberbau bestehende Alphütte, eine Bank mit Tisch davor dient an heiteren Tagen zum Speiseplatz, und eine wenige Schritte abgelegene Hütte, die eine Anzahl ebenerdiger Gemächer birgt, ist die zur Aufnahme schlafbedürftiger Gäste bestimmte «Dependance». Laubsäcke versehen die Stelle der Kissen und Plumeaux, in den Gelassen hat ein hochgewachsener Mann Mühe, aufrecht zu stehen, aber was thuts: ich möchte den Touristen sehen, der, vom Panueler Schrofen oder auch vom Sareiser Joch nur kommend, auf diesen Laubsäcken nicht ganz prächtig schliefe und nicht bald, dem Reiz der Gegensätze unterliegend, sich herzlich mit der pytagorischen Einfachheit der Dinge hier befreundete, zumal Alles, was man hier zu essen und trinken kriegt, ganz vortrefflich ist. Schmarrn und Wein, die geräucherte Ochsenzunge mit tüchtig geschlagenem Kartoffelpürree, und – welche Freude wär’s für unseren theuren seligen Steub gewesen – auch der Kaffee ist gut und mundet vorzüglich. Was aber, und nicht zum Mindesten, den Gast so angenehm berührt, das ist die Sorglichkeit, mit der die Hauswirthin im Nenzinger Himmel, Pepi Wolf, des Posthalters zu Nenzing wackere Schwester, sich um das Wohl Derer kümmert, die sich ihr anbefohlen, wie an jenen schönen, aber sonnenreichen Julitagen, die wir bei ihr gerastet, auf der Suche nach dem Schatten um das Haus herum meiner Frau den Schemel und die Polster nachtrug und auch unseres kleinen Hundes nicht vergass. Ein freundlicher Dank sei ihr hier gesagt, ihr «Hotel Himmelssonne» aber blühe und gedeihe.

Der Uebergang vom Nenzinger Himmel nach Brand am Fusse der Scesaplana, über das Amatschonjoch ist sehr lohnend und auch auf dem «oberen Wege», falls man nicht, wie wir, der frühen Jahreszeit wegen, in den steilen Einschnitten des Berghanges hartgefrorenen Schnee antrifft, ganz ohne Beschwer. Wer nicht mit Bergstock und tüchtigen Schuhen versehen oder nicht dazu zu haben ist, auch einmal über geneigte Schneerinnen Stufen zu hauen, mag lieber den unteren Weg von der Alpe Setsch aus durch das Gagenfeld wählen und über Wiesböden in gerader Richtung zum Joch ansteigen. Aussicht bietet das Joch keine, dafür aber sehr schöne Einblicke in die Felsformationen des Fundelkopfs und Rauhen Bergs. In ein paar Stunden vom Joch weg ist Brand und damit ein Abschnitt unserer Wanderung erreicht, bei dem ich den Leser verlassen und ihm anheim geben will, ob er auf dem schönen Waldwege nach Bürserberg und Bludenz heraus oder zum Lünersee aufsteigend noch einmal in die Schönheiten der Berge des Rhätikon eindringen will, um dann durchs Gauerthal nach Schreins und über Gaschurn auf die Bielerhöhe zu gelangen. Doch genug, nur ungern lässt sich, wer im Gebirg zu wandern gewohnt ist, auf mehr als drei Tage hinaus eine Route vorschreiben und schliesslich finden wir, die wir uns in dem um den Arlberg gelegenen Gebiete umtreiben, über kurz oder lang uns doch zusammen, sei es nun in Stuben oder an den Ufern des Inns, auf der Post zu Landeck, oder aber in Pians in der guten Hut von Frau Mauroner.
(Von Alfred Lunglmayr in Lindau)
(Quelle: Alpenfreund 1895)

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Streifereien in Vorarlberg u. Tirol.

Ueber Triesnerberg nach Alp Sücken im Samina-Thal. Auf die Drei Schwestern (2025 M.)
Am 11. August 1876 fuhr ich auf der Eisenbahn nach Sevelen, um von da Vaduz mich zuzuwenden. Fast eine Geduldprobe ist der Gang durch die ganze Weite des Rheinthals. Der Zollwächter an der Rheinbrücke, auf einer Bank sein Mittagsschläfchen haltend, liess sich nicht stören. Im Schlafdusel frug er, ohne sich zu erheben, ob ich nichts Zollbares habe, und liess mich passiren. Wäre was daran gelegen gewesen, ich wäre unbemerkt hinüber gekommen. Etwas südwärts von Vaduz auf der grossen Thalstrasse angelangt, verfolgte ich sie eine Strecke weit in der Richtung gegen Balzers und schlug dann das nach Triesnerberg hinaufführende, gut angelegte Strässchen ein, da und dort auf Fusssteigen die langen Kehren abschneidend. Weiter, grossartiger entfaltet sich mit jedem Schritte zu Füssen das Rheinthal und sein Gebirgsrahmen. Triesnerberg, 1 – 1 ½ Stunde von Vaduz, ist ein höchst anmuthendes, terrassenartiges Gelände, von Obstwald bebuscht, aus dem freundlich die von Wohlhabenheit zeugenden Häuser blicken. Schon längst, wenn ich von drüben herüber sah, gelüstete es mich, einmal zu sehen, wie es da sei. Den Vaduzer trinkt man in meiner Vaterstadt besser, denn beim Bäcker, der die eine Wirthschaft führt. An geistigem Gehalt wird er übertroffen von dem liberalen Wiener Blatt, das sich der Bäcker hält. Noch höher, in nordöstlicher Richtung, dem Fusse des Grates nahe, der nach den Drei Schwestern führt, soll von Bergmatten umgeben, eine primitive Kuranstalt oder Sommerfrische sein, die ich ein andermal heimzusuchen gedenke. Da Milchwirthschaft oder Sennerei damit verbunden, müsste es ganz meine Sache sein. Hoch thront man auf der Mattenterrasse, hat noch weit umfassenderen Ausblick denn hier. Was man risikirt, wenn man nach Obstalden geht oder nach Wildhaus: dort in eine Kolonie hausbackener St. Galler Bürger zu gerathen, denen man sich glücklich für eine Zeit entronnen wähnt, hier in eine Clique Züricher Stockbürger, die auf hundert Schritte weit ihre Herkunft verrathen, gefährdete man sicherlich hier oben nicht.
In endlosen Kehren, zum Theil durch Wald, gewinnt die Strasse den Fuss des in Fels- und Rasenhängen jähanstrebenden Grates, mit Staunen sieht man sich vor der Mündung eines kunstgerecht angelegten Tunnels, der den Grat durchschneidet, überwindet. Drüben heraustretend, hat man mit einem Schlag das Saminathal unter sich. Engdurchschluchtet, schwarz-blau von Schatten, Duft und Tannenfinster verlieren sich seine tieferen Partien (zwischen Drei Schwestern und dem jenseitigen Gürtisspitz und Gallinakopf), die wilde Scenerie bieten sollen. Golden glänzen drüber hin im Abendschimmer die zwischen Wallgau und Laternserthal nahe Feldkirch liegenden Höhen. Um das reiche Prangen des scheidenden Tages an den östlichen Höhen und den Rückblick nach der Schweiz voll zu geniessen, ersteige ich den Grat und lagere mich neben die beiden Finanzwächter, die von Triesnerberg her mich eingeholt haben und mir vorangeeilt sind. Gluthroth ragen über den grünen Hängen des gegenüber mündenden Malbunthals die Schrofen und Firnzinnen der Scesaplana.
Die «Finanzer» erzählen von ihrem Treiben und spähen nach dem Hintergrunde des Saminathales. Da hinten, wo etwa Schwärzer herüberkommen, beginnt mit einbrechender Nacht ihr Tagewerk – indes soll es ohne Belang sein, was noch geschmuggelt wird.
Das in südlicher Richtung sanft dem Abhange entlang niederführende Fahrsträsschen verfolgend, erreiche ich in wenig Minuten Alp Sücken, mein Nachtquartier – auf der eidgen. Karte durch zwei Punkte bezeichnet. Das von Vaduz herüberführende Strässchen hat die Karte nicht, wiewohl es seit 15 – 20 Jahren oder länger bestehen mag. Sücken bietet willkommenes Unterkommen Allen, die da hinten ihrem Berufe oder Vergnügen nachgehen – Holzhackern, Zimmerleuten, Maurern, Beerensammlern, Jägern, Finanzern, Vagabunden, Touristen. Es hat eine allgemeine Küche, wo Jeder sich kochen kann, mit Tischen und Stühlen, und eine getäfelte Wirthsstube. Wein, Brod, Käse, Milch, Mehlspeisen sind zu haben. Mir mundeten vortrefflich die köstlichen Kartoffeln mit der feinen Butter.
Als man mit der Laterne nach dem allgemeinen Lager mich führte, der weiten Heudiele über dem Stall – das Vieh ist auf der Weide – lag da schon allerlei Volk. Doch hatte man mir, dem Touristen, genügend Raum reservirt und hatte nun sogar die Rücksicht, mir über das alte, verlegene, wie der Senne selber sagte, belebte Heu ein gewaltiges Bündel frischen Heues zu breiten. Zuletzt rückte auch der Jäger an, der spät in der Nacht erst mit zwei Begleiterinnen von Frastanz hergekommen, deren eine – schlanke, dunkle Brünette, mit grossen, vielverrathenden, kohlschwarzen Augen – eine überraschende Erscheinung. Wie ich es deuten sollte, dass der Senne neben mir ihnen das Lager anwies, überlasse ich Ihnen, Herr Professor, zu entscheiden. So viel ist sicher: Nur dem süssern Blut meiner Nachbarinnen hatte ich’s zu danken, dass die Flöhe, die bekanntlich feiner Witterung haben, mich unbehelligt liessen. Dennoch war die Nacht eine schlaf- und ruhelose. Erst spann der Jäger, unbekümmert um die Andern, mit seinem Schlafnachbar einen langen «Yarn» ab. Dann, bis in den frühen Morgen, bald lautes Stöhnen und Klagen, bald wieder «Gegigel» meiner geplagten Nachbarinnen. In der Frühe wollten sie beeren gehen.
Wie es hell genug war, um in der mir fremden Gegend mich zurecht zu finden, ging ich wieder hinan, am Tunnel vorbei, dem östlichen Abhang entlang den Drei Schwestern zu – ein angenehmer Gang, zum Theil durch lichtes Tanngehölze. Eine Zeit lang bleibt man nahe dem Rande des westlichen Absturzes – ein paar Schritte, und man hat, weit entfaltet, das Rheinthal zu Füssen. Dann hebt sich rasch und bedeutend der Kamm, indes der Pfad, sanft ansteigend, in der Tiefe bleibt und um eine Ecke nach einer weiten Ausbuchtung hinauf einlenkt, in deren hohem Hintergrunde, dicht unterhalb des Kammes zerstreut, einige Hütten winken. Ihnen mich zuwendend, ersteige ich die weite Kammeinsenkung darob, dann den nordwärts breit sich erhebenden Rücken und stehe auf einem weiten Gipfel, oder wenn man will, einem vom Hauptkamm ostwärts abspringenden kurzen Sporn (Garsilen), angesichts einer unumschränkten Ausschau.
Zum ersten Mal erblickt man da die höchste Spitze der Drei Schwestern, noch ziemlich entfernt und zwar, was man am wenigsten erwartete und Einen fast entmuthigt, durch eine weite, sehr tiefe Mulde oder Einbuchtung von dem betretenden Gipfel getrennt. Bis zum Kuhgrat, der dominirenden Spitze zwischen hier und Drei Schwestern, ist der Hauptkamm, wild zerklüftet, unbegehbar. Nichts Anderes bleibt mir, als entweder die Partie aufzugeben, oder in den sauren Apfel zu beissen: eine halbe Stunde abzusteigen, bis fast zu dem einsamen Hüttchen, das Sie auf der Karte sehen und von da etwa eine Stunde hoch und steil wieder anzusteigen! Einmal zu Letzterem entschlossen, ging es auf vielbegangenem, theilweise in Fels gehauenen Steig die wildzerklüftete, malerische Partien bietende Nordwand hinab, in tollen Sätzen und Sprüngen, dann über weite Schutthänge und zuletzt eben fort über hügeligen, von Legföhren überwucherten Weideboden, mit da und dort einer Tanngruppe. Drüben am Fuss des Kuhgrates ging’s stracks wieder empor, aber, so genau ich von oben mir den Steig gemerkt zu haben glaubte, ich verlor ihn, und einmal im jähen, heissen, dichtverschlungenen Legföhrendickicht drinn, war ich im besten Zuge in ein rechtes Schwitzbad mich zu rennen – da kam ruhige Ueberlegung. Eine Strecke weit wieder absteigend, bis zum Fuss des Abhanges, übersah ich mir ihn noch einmal und gewann wieder die freilich zuweilen ausgehende Fährte.
Wie ich hoch oben an der Wand des Kuhgrates eine vorspringende, aussichtsreiche Ecke betrat, wo plötzlich, eine Zeit lang unsichtbar, der Gipfel der Drei Schwestern wieder auftaucht, sah ich an seinen obersten Rasenhängen eine Heerde grasen – Ziegen wohl. Aber die Unruhe, in die sie geriethen, wie sie mich erspäht, die Evolutionen, die sie ausführten – denen der Schafe ähnlich, wenn der Hund hinter ihnen – hatten nichts mit dem Gebahren der Ziegen gemein: ein Rudel von etwa dreissig Gemsen war’s. Zu gerne hätte ich sie oben noch beisammen gesehen. Nachdem ich aber eilends den Kuhgrat ganz umstiegen, den Grat überschritten, der mit den Drei Schwestern ihn verbindet – wüst durchschluchtet tieft sich unterm Fuss, noch in Morgenlüster liegend, die Westwand ab – nachdem ich endlich das Ziel erreicht, war Alles zerstoben bis auf drei Thiere, die in rasender Flucht durch ein westliches Couloir hinabstürzten, das lose Gestein in Bewegung, in gewaltigen Aufruhr bringend.
Ein herrliches Thronen auf dem von Windstille umgebenen, sonnenwarmen Gipfel! Kaum eine andere der zwischen Sargans und Bodensee dem Rheinthal entstrebenden Höhen wird einem so vollkommenen, wohlthuenden Ueberblick desselben bieten, da keine derselben so weit vortritt, so unmittelbar das Thal beherrscht. Endlos erglänzt drüben, an den Fuss der Alvier-Gruppe und des Säntis-Stockes geschmiegt, Dorf an Dorf, endlos sieht man, in der Sonne spiegelnd, den Rhein sich winden. Enttäuscht fand ich mich vom Anblick der Appenzeller-Berge, die, nicht genügend beherrscht vom weit zurücktretenden Säntis und Altmann, nur als langgezogener Wall sich präsentiren. Noch können Alvier – und Churfürsten-Gruppe, von andern Seiten her einen so fesselnden Anblick bietend, zu ihrem Vortheile sich zeigen. Was hinter ihnen aus der Glarner und Bündner Gebirgswelt etwa auftaucht, kann auch nicht zu rechter Geltung kommen, da unser Standpunkt zu tief und zu nahe dem compacten Gipfelgros. Vollends verschlossen durch den Rhätikon ist der Blick nach den reichgegipfelten Gebieten des mittlern und östlichen Bündens. Was in sich selbst der Rhätikon bietet, ist nicht sein Schönstes, entschädigt nicht für das, was er entzieht. Glanzvoll aber ist die Ausschau gen Nord und Ost, wo man in den mannigfaltigsten Gebilden, zahllos das Gipfelheer Vorarlbergs, Bayern, Tirols im lichten Morgenduft sich zacken sieht. Bewandert in diesem Gebiete, habe ich genug zu thun, liebe alte Bekannte herauszufinden und zu begrüssen.
Garsellakopf, der Gipfel nördlich der Drei Schwestern, ist um 23 M. höher denn dieser und mag wohl nur von Nord oder Ost her zu erklimmen sein. Ganz unbegehbar erscheint der die beiden Gipfel verbindende Grat. Nur bedeutend tiefer lässt sich an der Ostseite der Drei Schwestern ohne nutzloses Klettern weiter kommen.
Dass ich von Sücken 2 ½ Stdn. hinauf gebraucht, hätte ich beinahe zu sagen vergessen. 9 ½ Uhr trat ich den Rückweg an – zwar ungerne und von Durst geplagt, da diese Wände sehr wasserarm sind. 12 Uhr war ich in Sücken zurück, wo ich das Ränzel gelassen.
Hungrig suche ich in der Wirthsstube vergebens den Wirth, während in der Küche draussen es hiess, er müsse doch drinn sein. Und nun erst erkenne ich ihn in der Figur, die, bis ans Kinn in ein weisses Tuch gehüllt, das Gesicht voll Seifenschaum, unfähig zu reden, regungslos in Mitte der Stube sitzt. Aber erst der Nimrod von gestern, sonst ein hübscher Mann, wie der seine Würde eingebüsst hat! Nicht der Vervollkommnung entgegenstrebend, wie der Falter – Symbol der Vergeistigung – entpuppt er sich, sondern als Bartschaber, und übt, mit der seine Sippe nie verleugnenden Grazie und Behendigkeit, seine Kunst am Wirth. Unterdessen bietet mir die hier aufliegende ultramontane Augsburger Post-Zeitung geistige Speise. Erst wie auch sein üppiges Haupthaar unter der Scheere gefallen, geht der Wirth, meine leiblichen Bedürfnisse zu befriedigen.

Durch’s Malbunthal nach St. Rochus, in Gamperton. Gestern hatte der Barbier die Absicht geäussert, mit seinen beiden Schönen nach dem vier Stunden entfernten St. Rochus hinüber zu gehen, was ich mit Vergnügen vernommen, da es auch mein Weg. Nun aber ist keine Rede mehr davon, die Beiden streifen noch in den Heidelbeeren. Nachmittags 2 Uhr, wie die grösste Hitze vorüber, breche ich nach dem Malbunthal auf, von dem sich, wie von den guten Frauen, wenig sagen lässt. Krystallklar entströmt ihm ein reicher Quellenbach. Auf dem Wurzelwerk einer von ihm bespülten Tanne mich niederlassend, nehme ich ein köstliches Fussbad. In des Thales Gründen bis weit hinauf an seinen Wänden grünen sorgsam gepflegte Matten, wie man sie so tief im Gebirge nicht mehr suchte. Dort wo, in Mitte des Thales, die Karte die Hütte hat, steht, an der rechten Seite jedoch, auf angenehmer, freier Rasenterrasse, ein bewohntes Maiendörfchen. Oben an der Grenze der Matten vereinzelte Heugaden, im Hintergrunde des Thales noch ein einsames Maiensäss. Stillen Frieden athmend, bietet in malerischer Beziehung das Thal nichts, seine östlichen und südlichen Hänge zumal sind monoton, der in seinem Hintergrunde ragende Gipfel nichtssagend. Gegen einen Hirten über den milden, wohlthuenden Charakter des Thales mich äussernd, theilte er mir mit, dass man damit umgehe, hier eine Sommerfrische zu erstellen. Da wo der Weg im Zickzack zum Uebergangspunkt emporzustreben beginnt, steht ein neuer Brunnen mit köstlichem Wasser. Das zum Auswinden nasse Hemd wird an die Sonne gelegt und ein Säuberungsprocess vorgenommen.
Hoch stand noch die Sonne, als ich das Joch betrat. Die ansprechende nächste Umgebung, der Rückblick nach dem glanzvollen Westen, wo duftverschleiert die Umrisse des Säntis-Stockes sich erkennen lassen, namentlich aber der aus blaudämmernden Tannschluchten in schaurig kahlen, tiefgerötheten Wänden sich aufbauende Hintergrund von Gamperton, gekrönt von den Eiszinnen der Scesaplana, laden zu langem Rasten und Bewundern ein. Ein Bündelchen hinter einem Felsblock lässt ahnen, dass Jemand um die Wege – der Schäfer wohl, von dem im Thal die Rede war. Und alsbald taucht ein junger Bube auf, prächtiges Gebirgskind, neben mir lagernd und kindlich naiv mit mir sich einlassend. Was er mir – er ist von Triesnerberg – von seinen heimischen Schulverhältnissen erzählte, von den Prärogativen, die der Geistliche noch auf die Schule übt, machte mich staunen.
«Da in keiner der vielen Hütten die Unterkunft zu empfehlen, schreiten wir lieber gleich auf C. Meyr’s reinliche und neue Alphütte zu, in der sich eine Art Hôtel «zur Schalanza» aufgethan hat, das seinem bescheidenen Zwecke entspricht» – lässt Max Vermunt sich vernehmen (Stille Winkel in Vorarlberg, Jahrbuch des österreichischen Alpenvereins, 1870), St. Rochus nahend. Was Wunder, wenn ich, darauf bauend, die letzte grosse Bratwurst den Weg alles Fleisches gehen lasse und die fast volle Flasche sogenannten Vaduzer’s aus Sücken, mit Wasser und Zucker trinkbar gemacht, mit dem Schäferjungen theile. En reserve bleibt nur das Fläschchen Cognac. Dann, wie die Schatten höher wachsen und der letzte rosige Hauch verglommen an den Riesenwänden der Scesaplana und am himmelumsäumten Brandner-Ferner trete ich eilends den Abstieg an, geleitet eine Strecke weit vom Jungen. Wäre ich alleine gewesen, bis hinab hätte ich den vielbegangenen Pfad verfolgt und wäre so zu weit links und thalab gerathen. Zwar ein Stück weit gehen auch wir den Steig, verlassen ihn dann aber, rechts uns haltend. Der Junge gibt mir noch einige Andeutungen und geht den Schafen nach. Pfadlos schritt ich die sanftabfallende Weideterrasse hinab. Weit vortretend, gestattet sie einen Blick in die Tiefe, Orientirung erst, wenn man ihren Rand erreicht, was glücklich bei mir eben da geschah, wo sie nicht mehr, wie mehr links, in unpractikabeln Felsrunsen, sondern in leicht begehbaren Rasenhängen abschiesst, die hinab im Zickzack der Steig führt. Da kann ich mich gehen lassen und erreiche durch eine grasreiche Flucht in sehr kurzer Zeit den tief zu Füssen liegenden Thalgrund just da, wo der Steg über den vom Barthümmeljoch herabkommenden Mangbach nach dem weiten Triftengrunde setzt, auf dem einsam, in Mitte des ergreifend schön sich gestaltenden Thalschlusses, die weisse St. Rochus-Kapelle steht. Drüben, am rechten Ufer der Schalanza, die dem östlichen Seitenthal Solaruel entströmt, dehnt sich in langer Linie das Alpendorf selbst. Dämmerung ist kaum angebrochen.
Auffallend und ein schlechtes Omen ist, dass die Kühe, die ich aus der Höhe auf der zweiten Allmend gehen zu sehen glaubte, in der Nähe betrachtet in Galtvieh sich umwandeln, und dass in dem näher rückenden Alpendorf nichts sich regt, es wie ausgestorben aussieht. Ein halb Dutzend mir entgegenkommender Sommerfrischlerinnen, in buntes Farbengemensel gekleidet, geben dem in kaltes Abendgrau sich hüllenden Bilde wohlthuende Staffage. Es waren ungeschlachte, verwitterte Bäuerinnen und ein paar Kleinstädterinnen, die sich Airs gaben und sich etwas darauf zu Gute thaten, für ihre unbeholfenen Gefährtinnen das Wort zu führen, als ich an sie heran trat und über Dies und Jenes mir Auskunft erbat. Nach wie vor bewohnt der genannte Meyr die letzte Hütte thalein der langen Hüttenreihe, aber mit Staunen höre ich, dass seine Wirthschaft eingegangen ist. Man denke sich meine Enttäuschung! Ob noch was bei ihm zu kriegen, Speise, Trank oder Nachtlager, wissen die Frauen nicht. Vielleicht, meinten sie, würde sich der Förster meiner erbarmen, der dort in der neuen hübschen Hütte wohnlich eingerichtet sei. Milchvieh und Hirten seien noch auf den 1 – 1 ½ St. entfernten Hochalpen – wer Milch wolle, müsse sie dort oben holen. Aber wie denn sie hier es machten, frug ich. Sie wohnten zusammen in einer Hütte und Alles, was sie brauchten, hätten sie aus dem Thal heraufgeschleppt, erwiderten sie. Wo Sechs Platz haben, da sei auch ein Siebenter unterzubringen, hatte ich auf der Zunge zu entgegnen, fand aber, als darauf nicht eingeschulter Junggeselle, doch nicht den Muth in mir, dem Sturm der Entrüstung zu begegnen, den ich heraufbeschworen hätte.
Verstimmt zog ich von dannen. Angesichts der gigantisch sich thürmenden Felswände der Scesaplana, im Bereich des murmelnden Stromes hat Meyr’s Hütte eine ansprechende Lage. Unter dem einladenden Vordach hätte sich mit einer Flasche Wein behaglich der Abend verträumen lassen. Eine Sommerfrischlerin, da hausend mit ihrem jungen Dienstmädchen und eben mit Kaffeerösten beschäftigt, empfängt mich mit zuvorkommender Artigkeit. Meyr sei nach der Alpe Milch holen, sagt sie, dürfte aber bald zurück sein – was sie mir indes bereiten solle – etwa Kaffee? … ich habe nur zu befehlen, hungrig sei ich sicherlich. Und das mit einem Anstande, mit einer Herzensgüte, die wie Musik klang und gleich zu Hause mich stimmte. Das Türkenmus, das ich mir auserbeten, mit Milch zubereitet, war das Schmackhafteste, das ich je gegessen. Von Spirituosen, hiess es, sei nichts im Hause.
Es scheint, die Bauern, wie sie sahen, dass Meyr’s Wirthschaft guten Erfolg hatte, wurden neidisch und wussten ihm auf alle erdenkliche Weise die Sache verleiden, ja unmöglich zu machen. Milch und Butter, für die er auf sie angewiesen war, verweigerten sie ihm. Als er endlich kam, sagte er mir ein Bett zu.
Zum «Heimgarten» kam der Förster herüber – kein übler junger Mann, etwas von Weltschmerz angehaucht, der Schlimmes von den Uebergriffen der Bündner Jäger auf vorarlbergisches Gebiet zu erzählen wusste. Und eine Bande Sonntagsjäger rückte an, breit sich machend und spektakelnd in meinem winzigen Schlafgemach – wohl das ehemalige Wirthszimmer – in dem Alles sich concentrirte. Hohn war die Zumutung: schlafen zu gehen, wann ich wolle – und zwar nicht bloss Lärms, Tabakqualms, übeln Geruches halber, sondern auch der ekligen Unsauberkeit des Bettes wegen, in das mich zu legen, ich möglichst weit hinausschob, so müde ich war. Stunde um Stunde verging mit Singen von Schnadahüpfeln und patriotischen Tiroler-Liedern … Erst nach Mitternacht ging die Bande auseinander, Zweie ins eine Bette meines Gemachs sich legend.
Gamperton, die schönste Alpe Vorarlbergs, mit etwas hundert Alphütten und 1100 Stück Vieh, Eigenthum der Gemeinde Nenzing, nennt man auch den Nenzinger Himmel. Im Frühsommer, wenn stattliche Kühe, bis ans Euter im üppigen Grase watend, diese Triftengründe beleben, wenn endloses Glockengebimmel darüber klingt und Sonne und Himmel darein lachen und ihren Zauber darüber breiten, dann mag es schon so eine Art Hirten-Eden sein. Jetzt, zu dieser Jahreszeit und schlecht angefahren wie ich bin – Samstag Abends und Sonntag früh strömt eben Alles da hinein, was loskommen kann – spüre ich nicht den Hochschimmer davon. Himmelweit wünschte ich mich fort!

(Quelle: Aus der Firnenwelt. Gesammelte Schriften von J. J. Weilenmann. Dritter Band. 1877. Dieser Bericht, auf Anregung von Herrn Prof. Ulrich geschrieben und in Briefform ihm mitgetheilt, war eigentlich nicht für einen grössern Leserkreis bestimmt.)