Dreischwestern: Interessante Anreise, verpasste Rückreise, 1873

Am Charfreitag auf den 3 Schwestern.
Nachdem es mir vergönnt war, schon am Sonntag, den 30. März des Jahres bei herrlichstem Wetter … das Appenzeller Bergespaar des Hohekasten zu besteigen, reifte bei meinem Freunde der Entschluss, den mit ihren schneebedeckten Häuptern uns freundlich zuwinkenden 3 Schwestern im Fürstenthum Lichtenstein demnächst einen Besuch abzustatten. Freudigst wurde dieser Vorschlag von meiner Seite angenommen, und – horribile dictu – der kommende Charfreitag zur Verwirklichung des Projektes ausersehen. Zwar gingen für unser Vorhaben keine günstigen Auspizien voraus, denn in der ersten Hälfte der Charwoche regnete es täglich, so dass wir befürchteten, unsere Partie möchte am Ende auch noch zu Wasser werden, da trat am Donnerstag zu unserer grossen Freude eine Wendung zum Bessern ein, und so erwarteten wir guten Muthes den kommenden Morgen, um uns mit dem ersten Zuge (von St. Gallen aus) nach Sevelen, im romantischen Rheinthale bringen zu lassen. Wie gross war aber unsere Enttäuschung, als wir erwachten und statt dem gehofften schönen Wetter, den Himmel auf’s schwerste mit Wolken beladen erblickten, dessen Ueberfracht sich jederzeit niederzustürzen drohte. Dessenungeachtet liessen wir uns unsere liebgewonnene Idee nicht rauben, und es wurde an die Ausführung derselben geschritten, mit kindlicher Gewissheit noch gutes Wetter erwartend. Doch bittere Enttäuschung folgte auf dem Fusse. Kaum sind wir einige Stationen weit gefahren, als auch schon Jupiter Pluvius seine Schleussen öffnete und ein unliebsames Nass auf uns Erdenbewohner hernieder sandte. Jetzt schwand selbst uns alle gute Hoffnung, und verstimmt über unser Pech zogen wir uns mit langen Gesichtern in unsere Wagenecken zurück. Das sonst so herrliche Rheinthal hatte heute, in dem einförmigen Grau, welches die plötzliche Modefarbe der Natur geworden war, nichts anzügliches für uns. Wir flogen so wieder einige Stationen dahin, als wir die wieder einen Schimmer von Hoffnung in uns erweckende Wahrnehmung machten, dass das Regnen aufgehört habe. Schnell wurden von meinem Freunde 2 Blättchen Papier gewickelt, ein langes – gutes Wetter und Dreischwesternbesteigung – und ein kurzes – noch mehr Regen und ein Gang auf die eidgenössische Festung Luziensteig – und mir zum Ziehen hingehalten. Mit klopfendem Herzen zog ich, und zog – das Lange. Mit diesem Zug war selbstverständlich aller Zweifel bei uns beseitigt, der Schimmer war zum Schein, die Hoffnung zur Gewissheit geworden: es musste schönes Wetter geben.

Wieder sind wir um einige Stationen weiter südlich vorgerückt, als wir durch den Ruf des Kondukteurs: Sevelen, aussteigen! aus unsern Träumereien aufgeweckt wurden. Schnell springen wir heraus, und siehe da, kaum wandern wir im Anblick der immer noch verschlossen und finster vor uns gelegenen 3 Schwestern einige Schritte dahin, als die jüngste derselben, unsern Besuch errathend, anfing sich ihres finstern Gewandes zu entledigen, um uns einen anständigen Empfang zu bereiten. Beschämt über diese jugendliche Galanterie hinkten die beiden älteren, nach der Theorie des Krähwinkler Landsturmes, langsam nach, desgleichen zu thun, doch hatte sich die junge Freundin vor allen Dingen unsere Sympathie erworben, und so entschlossen wir uns, obgleich sie von unten aus am allerunzugänglichsten scheint, ihr durch unser Erscheinen zu beweisen, dass wir sie verstanden hätten. Unterdessen sind wir an der neuen Rheinbrücke angelangt, wir passiren dieselbe und gelangen ans jenseitige Ufer des hier für gewöhnlich so unruhigen Flusses, ins Lichtensteinische. Ein österreichischer Zollbeamter empfängt uns, und fragt uns nach zollbaren Gegenständen. Doch fällt es ihm sichtbar schwer, unserer bestimmt ausgesprochenen Verneinung lediglich auf unsere guten Gesichter hin Glauben zu schenken.
Nun, wir beachten die neugierigen Blicke, welche er auf unsere Botanisirbüchsen wirft, wenig, und marschieren weiter. An derselben Zoll-Stelle soll, wie mir mitgetheilt wurde – vielleicht auch derselbe Zollbeamte – einmal arg mitgenommen worden sein. Ein Schweizer Tourist, der schon öfters sich von ihm in seiner Botanisirkapsel hatte herum arbeiten lassen müssen, beschloss, ihm bei seiner nächsten Tour einen Possen zu spielen. Zu diesem Zwecke sammelte er Brennesseln in seine Büchse, unter welche er einen beliebigen Stein versteckte. «Nichts Zollbares?» «Nein!» «Aber die Büchse da, bitte wollen Sie einmal zeigen.» Gehorsam öffnet unser kluger Unbekannter den corpus delictus, und siehe da: Austria’s diensteifriger Sohn entdeckt unter dem Kraute versteckt, etwas Verdächtiges. Hastig fuhr er mit beiden Händen, seines Triumphes schon gewiss, nach dem Versteckten, als er vor Schreck einen lauten Schrei von sich stiess: er war verbrannt. – Das Zollwesen soll überhaupt hier, seit Oesterreich es in Händen hat, als Revanche für die früher häufig vorgekommenen Schmuggeleien äusserst streng kontrollirt werden. Schweizerseits ist man honoriger.

Jetzt sind wir eingetreten in den Hauptflecken des kleinsten der ehemaligen 32 souveränen deutschen Bundesstaaten. Vaduz (vallis dulcis) bietet mit Ausnahme der schönen neuen Kirche nichts des Interessanten, wir verlassen es deshalb alsbald, um dem auf schroff abfallenden Felsen über dem Dorfe haftenden Schloss Lichtenstein noch einen Besuch abzustatten. Der Weg führt bequem durch einen schönen Tannenwald hinauf. Das Schloss, welches zum grössten Theile Ruine ist, war, wie auch das Ländchen im 14. und 15. Jahrhundert, Eigenthum des Grafen von Werdenberg-Sargans und wechselte dann noch mehrmals seinen Besitzer, bis es mit dem Ländchen am Ende des 17. Jahrhundert durch Kauf an die Fürsten von Lichtenstein kam. Der sehr reiche Fürst residirt in Wien und besucht nur hin und wieder sein getreues Land, welches, wie ich glaube, auch ganz ohne ihn existiren könne. Lange jedoch können wir uns in diesen historischen Mauern nicht aufhalten, wenn wir noch an unser heutiges Ziel kommen wollen, und so schicken wir uns denn, ohne die uns sehr gelobt gewordene Schloss-Wirthschaft näher zu inspiziren, zur Weiterreise an.

Es war ½ 10 Uhr; der Himmel wurde immer heiterer. Ein kräftiger Nordost wehte und beseitigte alle Regengefahr. Vom Schloss aus führt ein in südlicher Richtung sanft ansteigender Pfad, den wir verfolgten, das Gebirg entlang. Der Weg ist äusserst abwechslungsvoll. Ein grosser, schöner Tannenwald, in welchem Finken lustig pfiffen, mit üppig wuchernder Vegetation, übersäet mit Primeln, Windröschen und Vergissmeinnicht, nimmt uns auf. Auch die, ihr weisses Köpfchen stolz emporstreckende Margarita bellidiastrum und die nacktstenglige Kugelblume (Globularia nudicaulis), deren schöne blauen Blumen so leicht verwelken, fanden wir hier schon blühend. An einem kleinen Teiche, mit lieblicher Fontaine, sowie an verschiedenen von den Felsen sich herabstürzenden kleinen Bergesgewässern vorbei verliert sich der Wald allmälig. Der Weg, immer noch südöstlich ansteigend, wird steiler, bis wir in das über 3000’ hoch, sehr zerstreut gelegene Alpdorf Triesenberg kommen, dessen fromme Bewohner eben in corpore, geführt von ihrem Seelenhirten, auf den Kirchhof marschieren, wo wie an diesem Tage üblich, eine Prozession vor sich gehen soll. Wir folgen der im Zickzack über das Gebirge führenden und gut angelegten Alpstrasse, abwechselnd die saftig grünen, mit lieblichen Safranblumen (Crocus vernus) und tief azurblauen Frühlingsenzianen (Gentiana verna) bestreuten Bergwiesen durchstreifend. In einer der vielen, von denjenigen der gegenüberliegenden St. Galler und Appenzeller Berge ziemlich verschiedenen (noch einfacher, primitiver) Sennhütte hörten wir von Weitem Schellengeläute. Neugierig gingen wir auf dieselbe zu, doch fanden wir sie von allen Seiten verschlosssen. Auch unser ziemlich unleises Anpochen war vergeblich. Vermuthlich machte der Senn auch den Kirchhofsgang im Dorfe mit. Durch eine Ritze der Thüre war es uns möglich, in die Hütte zu schauen, wobei sich unsern Augen ein eigenthümlicher Anblick bot. Das ganze der Reihe nach dastehende Vieh war mit den Schwänzen an eine an der Decke befestigte Stange gebunden, so dass es aussah, als wären die armen Kühe an diese Stange aufgehängt. Uns war diese Brutalität, welche es dem Vieh unmöglich machte, sich dieses so nothwendigen Gliedes zu bedienen, unerklärlich, besonders da doch eben keine Melkzeit war. Gerne hätten wir den Senn um Auskunft darum gebeten, doch war uns dies nicht möglich.

Wir wandern wieder auf unserer Alpenstrasse rüstig bergauf und kommen aus dem seitherigen kalkartigen Gestein (Numulitengebilde) plötzlich in eine von steter Erosion heimgesuchte Schieferschichte (Flyschgebilde), durch welche uns ein Tunnel auf die andere Seite des Berges führt. Hier verlassen wir unsere Strasse und wenden uns nach Norden, dem steilen Grate zu. … gelangen wir auf dem, kaum einige Fuss breiten, stark zerklüfteten Felsenkamme an, den es nun vorsichtig, bis zur höchsten Spitze zu erklettern gilt. Behutsam folge ich meinem des Steigens kundigen Freunde, und so kommen wir denn ohne Unfall und ohne grosse Ermüdung um halb 2 Uhr oben an. Eine grossartige Alpensicht entfaltet sich hier vor unseren Augen. Entzückt von dem stolzen Bergeskranze, der uns umgibt, werden wir hier in dem erhabenen Tempel der Natur feierlicher gestimmt, als wenn wir die salbungsvollste Predigt von der Kanzel angehört hätten. Doch das trunkene Auge sucht sich zu orientiren und so nehmen wir Blatt II der Generalkarte der Schweiz zur Hand, um uns aus dem Labyrinth von Bergen einen Ausgang zu verschaffen. Vor allem ist es der in südöstlicher Richtung uns gerade vis-à-vis liegende, wild zerrissene Falknis mit äusserstem Ausläufer (gegen das Rheinthal) dem Würznerhorn, welcher unsere Aufmerksamkeit im höchsten Grade auf sich zieht. Wuchtige Schneefelder bedecken den verzackten Gesellen, dessen östliche Ausläufer zur herrlich beleuchteten Scesaplana-Kette führen, deren Gletscherwände wir mit blossem Auge deutlich von den immensen Schneebezirken unterscheiden können. Mehr nach Süden gewendet begegnen wir einer langen Kette rhätischer Bergesriesen, worunter Calanda und Monte Luna besonders hervortreten. Westlich schliessen sich dem Calanda die Berge des St. Galler Oberlandes, mit ihrem wundervollen Oberhaupte, dem Piz Sol, dem Gonzen, der Alviergruppe, dem Faulfirst und sogar die Churfirsten treten schön hell hervor, während auffallender Weise die mehr nach Norden gelegenen St. Galler und die Appenzeller Berge bis über die Ohren in Nebel eingehüllt sind. Oestlich haben wir den schroff abfallenden August Berg, den Mattler- und Gallinakopf gerade vor uns, welche mit den 3 Schwestern das fast schluchtartige, nur nach Süden etwas erweiterte Saminathal bilden, durch welches brausend der bei Frastenz in die Arme des Ill fliessende Saminabach eilt. Nach Norden ist uns der Blick in die Vorarlberger- und bayerischen Alpen durch die vorstehenden beiden andern Spitzen der Schwesterndrillinge geraubt (wir hätten diese gerne auch noch erklettert, doch erlaubte uns dies unsere Zeit nicht mehr), doch sind wir mit dem uns gebotenen mehr als zufrieden. Zu unserer physischen Kräftigung vertilgen wir den mitgebrachten Proviant, einen Schluck feurigen Veltliners dazwischen nehmend. Geistig und körperlich gekräftigt nahmen wir Abschied von unserer liebenswürdigen Gastgeberin, um noch rechtzeitig zu dem letzten nach St. Gallen gehenden Zuge anzukommen.
Um ¾ 6 Uhr sind wir wieder in Vaduz, und so schlendern wir gemüthlich nach der ½ Stunde entfernten Station Sevelen zu. Als wir so ungefähr die Hälfte des Weges gegangen sind, sehen wir plötzlich einen schwarzen Punkt das Thal herunterkommen. Das kann doch unser Zug noch nicht sein, sagten wir uns sorglos. Doch siehe da: der schwarze Punkt kommt näher, wird erkennbar für uns: es ist der Zug. Jetzt galt es zu rennen, um nicht zu spät zu kommen. Mit rasender Geschwindigkeit eilt das Dampfross daher. Schon ist es am Ziele und wir sind noch 5 Minuten entfernt. Krampfhafte Anstrengung unsererseits. Noch eine Minute und wir sind geborgen. Da! ein Pfiff! und der Zug setzt sich in Bewegung. Ja aber ums Himmelswillen, wie ist dies möglich, wir müssen heute noch in St. Gallen eintreffen. Der Zug muss uns ja mitnehmen. O Gott! da eilt er schon in vollem Laufe davon; er ist verfehlt! Unsere Lage war entsetzlich, wir wurden beide noch diesen Abend sicher zu Hause erwartet. Was thun? sprach Zeus. Wir laufen nach Haus, wir müssen. Dies war unser gefasster Entschluss. Tapfer geht es auf Schustersrappen, mit unsern verfallenen Retourbillets in der Tasche vorwärts. Wir mögen ungefähr ¼ Stunde lang, schweigend neben einander her geschritten sein, als uns ein Stein entgegen leuchtet, auf welchem gross und deutlich geschrieben stand: Nach St. Gallen 18 Stunden. Heiliger Mermillod! Wie dieser Stein uns durch die Glieder fuhr! Jetzt erst sahen wir ein, wie wahnwitzig unsere Idee war; es blieb uns nichts anderes übrig, als nach Buchs, der nächsten Station, zu gehen und dort, komme was da wolle, zu übernachten. Unser Nichterscheinen konnten wir noch telegraphisch anmelden. Andern Morgens fuhren wir bei lebhaftem Regenwetter unserm Ziele entgegen.

(Von Otto Moog, Pharmaceut)
(Quelle: Alpenpost 1873)

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